Merz zertrumpelt die Brandmauer

Angestachelt von Trumps Brutalo-Rhetorik hat der Unions-Kanzlerkandidat Merz angekündigt, vom ersten Tag seiner Kanzlerschaft an die Grenzen zu schließen. Schon Ende Januar will er im Bundestag Mehrheiten für die Abschottung und Ausweitung der Befugnisse für die Bundespolizei organisieren. Plottwist: Er hat angekündigt, das auch mit den Stimmen der AfD durchzusetzen.

Von Claus Ludwig, Köln

Merz fordert ein Einreiseverbot, für alle, “die keine gültigen Papiere haben”. Damit wird das ohnehin durchlöcherte Asylrecht endgültig beerdigt, jeder Versuch der Einreise ohne Visa usw. wird als “illegal” bezeichnet. „Nachvollziehbar ausreisepflichtige Personen” sollen “unmittelbar” in Haft genommen werden. Das bedeutet Inhaftierung ohne Gesetzesverstoß und ohne Fristen, der Weg in Richtung Internierungslager. Die Bundespolizei soll Haftbefehle ausstellen können, das ist bisher Aufgabe von Staatsanwaltschaften, die Polizei kann nur vollziehen.

Die CDU ist anders als US-Republikaner keine durchgehend extrem rechte Partei. Doch Merz schielt auf die Erfolge von Trump, Meloni und der FPÖ und verschiebt die Betonung – Rassismus muss nicht mehr versteckt werden, Demagogie und Härte sind angesagt. Der bewusste Tabubruch macht die AfD zu einer Option zum Tolerieren und Koalieren, wenn eine Koalition aus Union und SPD oder ein anderes Bündnis im Lauf der nächsten Jahre scheitert.

Merz erledigt weitere Fliegen mit diesem Streich: Das Manöver dient dazu, SPD und Grüne zu erpressen – “wenn ihr mitmacht, brauche ich die AfD-Stimmen nicht”. Damit sollen die potenziellen Juniorpartner einer Unions-Regierung für ihre zukünftige Rolle des Parierens abgerichtet werden. Als Beifang bekommt Merz die BSW, die jeder Verschärfung zustimmt und sich durch das Hinterhertraben überflüssig macht. Doch die Taktik kann auch nach hinten losgehen. Merz mag sich wie ein German Trump fühlen, doch anders als der echte Trump hat er Konkurrenz von rechts: Das rassistische Original AfD könnte von der Übernahme ihrer Positionen profitieren und der Union am 23. Februar weitere Prozentpunkte abnehmen.

Die Unterschiede zwischen staatlicher Politik und rechtsextremer Propaganda verschwimmen, sowohl in den USA als auch hierzulande. Während in den USA die Abschiebepolizei ICE die ersten Razzien in Schulen durchführt, sind gefälschte Flyer der ICE aufgetaucht, mit der Aufforderung dass Migrant*innen das Land sofort verlassen sollen. Die AfD hat – in Anlehnung an eine ähnliche Aktion der NSDAP – “Abschiebetickets” an Zugewanderte verteilt, die Union fordert tägliche Abschiebeflüge.

Klima der Angst

Bereits 2023 und 2024 gab es mehrere Schritte zur Einschränkung des Asylrechts auf nationaler und europäischer Ebene. Jetzt heißt es, diese hätten zu wenig gebracht, eine weitere Verschärfung müsse her. Die Zuwanderungs-Zahlen waren 2023 und 2024 nicht besonders hoch. Die Union stützt sich ohnehin nicht auf Zahlen und Fakten, sondern auf gefühlte und medial verstärkte Ängste, um einen “Notstand” zu beschwören. Als Beweis für die angebliche Untragbarkeit der Zuwanderung werden mehrere Tötungsdelikte der letzten Monate herangezogen, darunter die Angriffe in Solingen und Mannheim sowie der Mehrfach-Mord auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt und der jüngste Messerangriff in Aschaffenburg. Bei diesen vier Angriffen starben insgesamt 12 Menschen.

Die Morde von Magdeburg wurden von einem aus Saudi-Arabien stammenden Arzt begangen, der selber extrem rechts ist, den Islam hasst und mit der AfD sympathisiert. Die Warnungen einer Kölner Flüchtlingsinitiative über seine Gewaltdrohungen wurden vom Innenministerium NRW nicht an seinen Wohnort Berlin weitergegeben.

Der aus Afghanistan stammende Täter in Aschaffenburg war in psychiatrischer Behandlung und bereits durch Gewalttaten aufgefallen. Die CDU-Abgeordnete Julia Klöckner nutzt das Verbrechen, um den Kampf gegen andere “Kulturen” auszurufen: Es gibt Kulturen, die sind mit unserer Lebensweise nicht einverstanden, deshalb können wir mit ihnen nicht einverstanden sein!” Welche Kulturen – die afghanische? Die islamische? Eines der beiden Opfer von Aschaffenburg war ein zweijähriges marokkanisches Kind.

Unter den Geflüchteten gibt es Menschen mit traumatisierenden Kriegs- und Gewalterfahrungen. Reaktionäre Ideen wie der rechte politische Islam haben in den letzten Jahren zugenommen. Solche Gefahren dürfen nicht ignoriert werden. Eine umfassende Betreuung von Menschen mit ernsten psychischen Problemen, der massive Ausbau von spezifischen therapeutischen Angeboten für Opfer von Krieg und Gewalt würde dabei allerdings mehr helfen als Klöckners Kulturkampf und die Abschaffung des Asylrechts.

“Wir schaffen das”?

Als Merkel 2015 rief “wir schaffen das” haben Linke darauf hingewiesen, dass es durchaus zu schaffen ist, dass aber der Staat in Kitas, Schulen, Gesundheitswesen und Wohnungsbau investieren müsse, damit Einheimische und Geflüchtete nicht in Konkurrenz um knappe Güter treten. Nichts ist passiert, die soziale Infrastruktur ist seitdem weiter zerbröckelt, die Zahl bezahlbarer Wohnungen sinkt. Steigende Mieten und Preisschocks bei Energie und Lebensmittel haben viele schwer getroffen.

Und doch hat das Zusammenleben fast schon überraschend gut funktioniert – weil die überwiegende Mehrheit der Geflüchteten sich trotz aller Widrigkeiten richtig reingehängt hat, um hier ein besseres Leben zu haben und weil viele Menschen – Nachbar*innen und Kolleg*innen, Erzieher*innen, Lehrer*innen und Sozialarbeiter*innen – sie dabei unterstützt haben. Die syrische Zuwanderung ist z.B. eine Erfolgsgeschichte. Sechs Jahre nach ihrer jeweiligen Einreise sind über die Hälfte der Syrer*innen berufstätig, bei Männern sind es zwei Drittel. Sie arbeiten mehrheitlich Vollzeit und verdienen durchschnittlich 2000 Euro monatlich. Ein Drittel der Erwachsenen absolviert eine Hochschul- oder Berufsausbildung. Über 160.000 Syrer*innen haben bis 2023 die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen.

Multiple Krisen

Die Angst-Propaganda gegen Migrant*innen funktioniert effektiv, weil die Welt in Aufruhr ist. Konflikte und Kriege nehmen zu. In immer mehr Ländern herrschen autoritäre Regimes, auch in bisherigen “westlichen Demokratien”. Arbeitsplätze werden durch Zölle und Handelskriege bedroht. Menschen verlassen ihre Heimat wegen der Klimakatastrophe, Staaten zerfallen. In den Medien ist nur noch die Rede von Nationen, die sich gegen die Konkurrenz durchsetzen müssen – wirtschaftlich, militärisch – und nicht mehr von sozialer Gerechtigkeit oder Umverteilung. Die Solidarität der arbeitenden Menschen über nationale und kulturelle Grenzen hinweg wird ausgehöhlt. Die Geflüchteten werden unfreiwillig zu den Überbringer*innen der schlechten Nachrichten von den multiplen Krisen des Kapitalismus.

Parteien wie die AfD und auch die etablierten bürgerlichen Parteien saugen Honig aus den berechtigen Ängsten vor sozialem Abstieg und Kriegen. Ihre vermeintliche Alternative würde eine massive Eskalation der Probleme bedeuten durch Aufrüstung, Militarismus und freie Fahrt für den zerstörerischen fossilen Kapitalismus. Die Umsetzung des wirtschaftlichen Programmes der AfD würde zum Beispiel eine massive Umverteilung zu Gunsten der Milliardäre und Konzerne zur Folge haben, die Armut anheizen, weitere Arbeitsplätze zerstören und im In- und Ausland Umweltkatastrophen befördern und damit neue Fluchtwellen auslösen.

Teile und Herrsche

Für keines der Probleme in Deutschland – z.B. wirtschaftlicher Abstieg, Preisschocks, Wohnungskrise, Armutsrenten, Kriminalität – sind die Migrant*innen verantwortlich. Sie leiden darunter ebenso wie die Menschen, die hier aufgewachsen sind.

Die Fokussierung auf Migration als Problem dient den prokapitalistischen Parteien dazu, von den wirklichen Ursachen abzulenken, von der massiven Umverteilung zu Gunsten der ohnehin Reichen. Die Zahl der Milliardärsfamilien in Deutschland ist 2024 mit 249 auf ein Rekordniveau gestiegen. Der durchschnittliche Milliardär “verdient” jeden Tag 2 weitere Millionen Euro. 70% des Vermögens stammen aus Erbschaften. Normale Einwohner*innen – ob hier geboren oder zugezogen – beziehen ihr Einkommen aus Arbeit. Davon wurde man noch nie reich. Inzwischen kann man sich in Großstädten nicht einmal eine bescheidene Eigentumswohnung leisten, wenn Arbeit die einzige Einkommensquelle ist und gibt stattdessen 40% des Einkommens für die Miete aus.

Solange sich Menschen darüber aufregen, dass Migration ein Problem ist, halten die wirtschaftlich Herrschenden uns beschäftigt und können in Ruhe ihre Profite einstreichen, ihr Geschäftsmodell wird nicht in Frage gestellt – sollen sich “die da unten” doch untereinander um Brotkrumen streiten, die vom Tisch der Reichen abfallen.

Die Angriffe auf die Rechte von Flüchtlingen sind für die Herrschenden ein Testfeld. Wenn sie damit durchkommen, können sie es auch bei anderen versuchen. Bezahlkarten statt Bargeld, Beschränkung auf Essen und einige Hygiene-Artikel statt Geldbeträge. Schon heute wird das Bürgergeld von der Union in Frage gestellt und die Bezieher*innen von Sozialleistungen sollen “nur das Nötigste” bekommen.

Der Entzug von Geld und die weitere Zertrümmerung des Asylrechts führen dazu, dass Migrant*innen in die Illegalität getrieben werden und damit in Jobs ohne jeden Schutz und Sozialversicherung oder in die Kriminalität, weil sie anders nicht über die Runden kommen.

Solidarität statt Hetze

Die Stimmung gegen Migrant*innen konnte auch so weit hochkochen, weil es keinen starken Widerstand aus der Arbeiter*innenbewegung gibt. Die Gewerkschaften haben sich zwar allgemein gegen rechts positioniert, aber keine Gegenstrategien gegen rechte Propaganda und die Aushöhlung des Asylrechts auch durch SPD und Grüne entwickelt.

Sarah Wagenknecht hat geholfen, die Hetze gegen Migrant*innen in die Linke einzuschleusen und damit die toxische Idee verbreitet, linke Sozialpolitik und Rassismus wären miteinander vereinbar. Doch eine Arbeiter*innenbewegung, die eine national exklusive Sozialpolitik fordert, schwächt und spaltet sich, macht es den Herrschenden leicht, uns gegeneinander auszuspielen. Unsere Klasseninteressen und der Kampf gegen Diskriminierung und Rassismus sind unteilbar.

Die Partei Die Linke hat zu unkritisch bei Merkels Chor “wir schaffen das” mitgesungen, ohne darauf zu verweisen, dass das nur mit Umverteilung und öffentlichen Investitionen gut läuft. Sie hat die Gefahren der rechten Propaganda unterschätzt.

Aktuell finden in vielen Orten Demos “gegen die AfD” statt, zu denen Zehntausende kommen. Doch dort reden auch Politiker*innen z.B. von SPD und Grünen, die verantwortlich für Abschottung, Spaltung und Bereicherung der Reichen sind und damit der AfD den Boden bereitet haben. Sogar Vertreter*innen der CDU springen auf den Demokratie-Zug auf, während ihr Kanzlerkandidat Weidel und Höcke den roten Teppich ausrollt.

Gewerkschafter*innen, die Partei Die Linke, antifaschistische und antirassistische Initiativen sollten klare Kante beziehen, sich von der Heuchelei abgrenzen:

  • Es geht nicht nur um die AfD, nötig ist jetzt eine Kampagne gegen Merz’ illegales Grenzregime
  • Solidarität statt Rassismus – Wohnen, Arbeit, Bildung und Gesundheit für alle.
  • Für die volle Wiederherstellung des Asylrechts.
  • Legale Fluchtwege statt massenhafter Tod im Mittelmeer.
  • Bleiberecht für Alle, nein zu Abschiebungen.
  • Milliarden für Wohnen, Bildung, Soziales und Klima statt für Bundeswehr und Rheinmetall. 
  • Streichen bei den Reichen statt sparen bei den Armen – Steuern rauf für Milliardäre und Konzerne.
  • Kampf gegen rechts heißt auch Kampf gegen Kapitalismus.
  • Die Grenzen verlaufen nicht zwischen den Nationen, sondern zwischen den Klassen.

Fakten gegen Angstmache

Entgegen der allgemeinen Angstmache ist die Zahl der Straftaten seit den 1990er Jahren deutlich gesunken. Nach der Pandemie stieg sie erstmals wieder an, hat aber längst nicht die damaligen Höchststände erreicht. 2023 wurden so viele Straftaten begangen wie 2010, im gleichen Zeitraum stieg die Bevölkerung um 3 Millionen von rund 82 Millionen auf fast 85 Millionen, überwiegend durch Zuwanderung. Die Straftaten pro Einwohner*in sind gesunken.

Die Zahl der Gewalttaten ist 2023 angestiegen, hat aber noch nicht den Stand von 2007 erreicht, als deutlich weniger Menschen in Deutschland lebten. Es hat einen Anstieg von Gewalttaten durch Migrant*innen gegeben. Doch es gibt keinen direkten Zusammenhang zwischen Herkunft und Kriminalität. Entscheidend sind die schlechteren sozialen Bedingungen, unter denen Geflüchtete leben, dazu kommen Gewalterfahrungen im Herkunftsland und auf der Flucht. Zudem ist die Gewalt nach der Pandemie auch in anderen Bereichen gestiegen: politische motivierte Gewalt (+6,7%) und zwar überwiegend von rechts, männliche Gewalt gegen Frauen (7,3%) und Gewalt gegen Kinder (5%).

Die Kapitalisten selbst haben berechnet, dass jährlich rund 400.000 Menschen netto zuwandern müssten, um die geringe Geburtenrate und die sinkende Zahl der Arbeitskräfte auszugleichen. Im Jahr 2024 wurden 300.000 Menschen weniger geboren als starben. 440.000 wanderten netto (Zuzüge minus Wegzüge) nach Deutschland ein. Die Mehrheit der Zugewanderten kam aus EU-Ländern, ist von Grenzkontrollen und Abschottung gar nicht betroffen und kann den Wohnort frei wählen. Geflüchtete kamen v.a. aus Syrien (80.000 Anträge auf Asyl), Afghanistan (36.000) und der Türkei (31.000).