Befreiungsbewegungen und islamischer Fundamentalismus

von Aron Amm (November 2001)


 

Nach dem Terroranschlag vom 11. September wurde von den Herrschenden in den USA und in den führenden kapitalistischen Staaten ein neues Schreckgespenst an die Wand gemalt: das Gespenst des islamischen Fundamentalismus. Angeblich wird die "freie Welt" nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks, dem alten "Reich des Bösen", von einem neuen "Reich des Bösen" bedroht, diesmal von den AnhängerInnen des Dschihad ("Heiliger Krieg").

Der Präsident der Vereinigten Staaten, George Bush, bemühte sogar den Vergleich zu den "Kreuzzügen", als er die für den Westen jetzt anstehenden Aufgaben benannte. (Auf den Kreuzzügen im Mittelalter waren die westlichen Monarchien unter dem Deckmantel der "Verteidigung des christlichen Glaubens" im arabischen Raum auf Beute gegangen und hatten eine Spur von Gewalt und Verwüstung hinterlassen – die seinerzeit schätzungsweise fünf Millionen Moslems, Juden und Christen das Leben kostete).

Der Krieg, den die USA und die NATO gegen Afghanistan führen, wird keine Ära von Frieden und Freiheit einleiten, sondern die Grundlagen für weitere Kriege schaffen. Der Krieg wird den Terrorismus nicht schwächen, sondern stärken. Für jede Bombe, die in Zentralasien abgeworfen wird unter dem Vorwand, Bin Laden zu treffen, werden sich Hunderte und Tausende Bin Laden zuwenden. Die Spirale von Krieg, Terror und Gewalt wird sich weiter und in erhöhtem Tempo drehen.

Zwischen Marokko und den Philippinen leben heute mehr als 1,2 Milliarden Moslems. Damit stellen sie ein Fünftel der Weltbevölkerung. In den letzten zwanzig Jahren konnten die fundamentalistischen Kräfte des Islam erheblich an Unterstützung gewinnen. Vor dem Hintergrund der iranischen Revolution 1979 entstand aus Sicht der radikalen Muslime unter Chomeini der erste "Gottesstaat". Zehn Jahre später folgte die Machtergreifung extremistischer Islamisten im Sudan. Auch in Algerien hatte die Islamische Heilsfront (FIS) zum gleichen Zeitpunkt – vor ihrem Verbot – auf der Wahlebene die Hälfte der WählerInnen hinter sich. Im Zuge der neunziger Jahre konnte der islamische Fundamentalismus nicht nur in Afghanistan, sondern ebenfalls in der Türkei, in Palästina und im Libanon, aber auch in Pakistan oder in Saudi-Arabien seinen Einfluss stärken.

Die wachsende Unterstützung für den islamischen Fundamentalismus ist die Reaktion auf die jahrzehntelange imperialistische Ausbeutung im Nahen Osten und in Zentralasien. Sie resultiert aber auch aus der fatalen Politik der Kommunistischen Parteien, die in mehreren Ländern eine Massenbasis besaßen, und der heutigen Schwäche revolutionär-sozialistischer Organisationen in der Region.

Arm und Reich

Es sind Armut, Hunger und Elend, die Menschen in die Arme von religiöser Fanatikern treiben. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen in den USA ist zehnmal so hoch wie zwischen Bangladesh und Marokko: In den USA liegt das Jahreseinkommen im Schnitt bei 34.260 US-Dollar, in den "islamischen" Ländern bei 3.700 US-Dollar. Für Millionen von Menschen besteht das ganze Leben darin, tagein tagaus ums nackte Überleben kämpfen zu müssen. In Afghanistan ereicht nur jedes vierte Kind das fünfte Lebensjahr. Die allgemeine Lebenserwartung liegt bei 44 Jahren. Aber auch in einem Land wie Indonesien, (das weltweit die größte muslimische Nation zählt), und das lange Zeit als "Tigerstaat der zweiten Generation" gehandelt wurde, hat sich die Zahl derjenigen, die in absoluter Armut dahinvegetieren müssen, seit der so genannten Südostasienkrise 1997/98 von 30 auf 60 Millionen verdoppelt.

Während im Zweiten Weltkrieg 54 Millionen Menschen ums Leben kamen, sterben heute jährlich 52 Millionen an Hunger und seinen Folgen (Jean Ziegler, UN-Sonderbeauftragter für Ernährung). Die Kluft zwischen Arm und Reich in der Welt ist heute größer denn je. Lag die Einkommenslücke zwischen dem reichsten Fünftel der Weltbevölkerung und dem ärmsten Fünftel im Jahr 1930 bei 30:1, so liegt sie mittlerweile bei 74:1 (11. Bericht der Bundesregierung zur Entwicklungspolitik). Hinter den Reichen und Superreichen in den führenden Industrienationen steht die Macht der Banken und Großkonzerne. 500 multinationale Konzerne kontrollieren heute vier Fünftel der Weltproduktion und drei Viertel des Welthandels. Von den 100 größten Wirtschaftseinheiten auf diesem Planeten sind 49 Nationalstaaten und 51 private Unternehmen. Der Jahresumsatz von DaimlerChrysler entspricht inzwischen dem Bruttosozialprodukt von Indonesien, einem Land von 220 Millionen Menschen.

Die Armut und Ausbeutung in den unterentwickelten Ländern von heute ist die Kolonialpolitik von gestern. Bis Ende des 19. Jahrhunderts wurden Asien, Afrika und Lateinamerika unter den kapitalistischen Staaten aufgeteilt – zur Plünderung der Bodenschätze und Rohstoffvorkommen, zur Auspressung billiger Arbeitskräfte und für den Zugang zu neuen Absatzmärkten. Mit dem Abschluss der territorialen Aufteilung der Welt, der Monopolisierung der Firmenwelt und der Schaffung von Finanzkapital aus der Verschmelzung von Bank- und Konzernkapital war ein neues Stadium im Kapitalismus erreicht – das Stadium des Imperialismus.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es den ArbeiterInnen und der verarmten Bauernschaft in der "Dritten Welt" mit der Kraft einer der größten Massenbewegungen in der Menschheitsgeschichte, das Joch der Kolonialherrschaft abzuschütteln. Doch obwohl die politische Unabhängigkeit erreicht wurde, blieb die ökonomische Abhängigkeit bestehen. Eine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung blieb den meisten unterentwickelten Ländern versagt. Bis heute sind die Wirtschaftsverhältnisse in vielen dieser Länder von Monokulturen gekennzeichnet. Die Preispolitik der führenden Industriestaaten zwang die ex-koloniale Welt dazu, ihre Rohstoffe zu verkaufen, um Fertigprodukte einzukaufen.

In der Ära der kapitalistischen Globalisierung und der neoliberalen Offensive gerieten die unterdrückten Massen der "Dritten Welt" noch fester in den Würgegriff des Imperialismus. Mit der Weltwirtschaftskrise Anfang der achtziger Jahre zerplatzten alle Träume, die eine Reihe von Entwicklungsländern an der Schwelle von entwickelten Industrieländern sahen. Die "Dritte Welt" konnte ihre Schulden nicht länger zurückzahlen, die Banken gaben kaum noch Kredite und forderten die alten mit hohen Zinsen zurück. In den achtziger Jahren flossen 670 Milliarden Dollar aus der "Dritten" in die "Erste Welt". Nach dem Wegfall des Ost-West-Gegensatzes spitzte sich die Ungleichheit in den letzten zehn Jahren weiter zu.

Aufstieg des islamischen Fundamentalismus

Am Beginn der neunziger Jahre waren die Herrschenden in den westlichen Ländern alarmiert vom Wachstum der radikalen islamischen Strömungen. Zunächst im Sudan, dann in Afghanistan eroberten sie die Macht. In Algerien holte die Islamische Heilsfront (FIS) bei den Kommunalwahlen 1990 nach ihrer Umwandlung in eine Partei auf Anhieb 54 Prozent der Stimmen. Bei den Parlamentswahlen ein Jahr später kam die FIS im ersten Wahlgang auf 47 Prozent. Da die regierende Nationale Befreiungsfront (FLN) um ihre Macht fürchtete, und sich auch das Militär mit der Sorge eines fundamentalistischen Regimes trug, griff der bürgerliche Staatsapparat in Algerien ein, untersagte den zweiten Wahlgang und verhängte ein Verbot gegen die FIS.

1993 intervenierte der US-Imperialismus militärisch in Somalia. Ein Faktor für ihr Eingreifen war die Angst davor, dass die islamischen Fundamentalisten beim Zerfall des Landes zu einem Anziehungspunkt werden könnten.

Auch in der Türkei konnte die islamistische Wohlfahrtspartei an Einfluss gewinnen und bei den Parlamentswahlen im Dezember 1995 mehr als 20 Prozent der Stimmen holen. Mit Erbakan gelang es ihnen vorübergehend, den Posten des Ministerpräsidenten zu besetzen.

Mit der Kriegsführung gegen Afghanistan und der rassistischen Hetze gegen die arabische Welt schütten die USA und die NATO Öl ins Feuer (sollte der Krieg während des Fastenmonats Ramadan fortgesetzt werden, wird die Empörung noch steigen). Auch wenn es gelingen sollte, die Taliban zu Fall zu bringen, drohen neue islamistische Regimes in Zentralasien und im Nahen Osten. Erster Kandidat ist Pakistan. Die 1999 an die Macht geputschten Generäle unter Musharraf stehen mit dem Rücken zur Wand. Das Land ist bankrott. Die Staatverschuldung beläuft sich auf 36 Milliarden US-Dollar. Das jährliche Durchschnitteinkommen beträgt keine 1.000 Mark. Laut einer Gallup-Umfrage vom 20. September stehen 62 Prozent der Bevölkerung in Opposition zu Musharrafs Zusammenarbeit mit der Bush-Regierung. Am 21. September organisierten 35 islamische Gruppen einen landesweiten Proteststreik. In einer weiteren Meinungsumfrage nach Beginn der Bombenangriffe auf Afghanistan äußerten sogar 83 Prozent Sympathien gegenüber der Taliban (Gallup vom 15. Oktober). Die verschiedenen islamischen Gruppen zählen 700.000 bewaffnete AktivistInnen. Dazu kommen Millionen von Waffen in privaten Händen. Ein islamisch-fundamentalistisches Regime in einem Land von 140 Millionen Menschen, noch dazu im Besitz von Atomwaffen, würde die Instabilität in der gesamten Region und auf Weltebene erhöhen und könnte die militärischen Konflikte um das von Indien und Pakistan besetzte Jammu/Kaschmir oder sogar einen neuen Krieg zwischen Pakistan und der Atommacht Indien, deren Regierung von der nationalistisch-hinduistischen Partei BJP geführt wird, heraufbeschwören.

In Saudi-Arabien ist der Sturz von König Fahd und die Ablösung des islamischen Regimes durch eine radikalere Variante des islamischen Fundamentalismus nicht ausgeschlossen. Damit würden die extremistischen Muslime auf einen Schlag die Kontrolle über 25 Prozent der weltweiten Erdölreserven ausüben.

Bangladesh war das erste islamische Land, in dem nach dem 11. September gewählt wurde. Die nationalistische BNP unter ihrer Führerin Khaleda Zia, die sich mit den islamistischen Parteien offen verbündete, gelang Anfang Oktober ein erdrutschartiger Wahlsieg: Während die BNP und ihre Partner auf 202 Parlamentssitze kamen, musste die bislang regierende sozialdemokratische Awami Liga mit 62 Sitzen eine vernichtende Niederlage einstecken.

Auch in Israel und Palästina sammeln die Fundamentalisten Punkte. Die islamistische Palästinenserorganisation Hamas konnte bereits in den letzten Jahren eine Massenbasis aufbauen. Am 8. Oktober konnte sie in Gaza-Stadt Tausende von Studierenden zu einem Marsch gegen die US-Bombenangriffe auf Afghanistan mobilisieren. Inspiration war ihnen Bin Ladens Ausspruch: "Amerika wird solange nicht in Frieden leben, solange kein Frieden in Palästina herrscht."

Stellenwert der Religion

Die Religion des Islam ("Ergebung in Gottes Willen"), die auf den Propheten Mohammed zwischen 610 und 632 in Mekka und Medina zurückzuführen ist, stellt von Nordafrika bis Südostasien eine reale Kraft dar. Aber auch die muslimische Diaspora in Westeuropa zählt inzwischen 12,5 Millionen AnhängerInnen. Allein in Deutschland leben heute 3,2 Millionen Moslems. Die beiden größten Konfessionen innerhalb des Islam sind die Sunniten, zu denen sich mehr als 90 Prozent der Gläubigen zählen, und die Schiiten, zu denen sich 7,5 Prozent bekennen. Will man die Frage nach dem Zulauf für die Fundamentalisten beantworten, dann ist die Auseinandersetzung mit der Religion des Islam zwar nicht unerheblich, letztendlich sind aber die sozialen Hintergründe ausschlaggebend.

Bei der fundamentalistischen Deutung handelt es sich jedenfalls nicht um eine Besonderheit des Islam. "Religiösen Wahn hat es zu allen Zeiten in allen Glaubensrichtungen gegeben" (Der Spiegel 41/2001). Anfang der Neunziger hatte der französische Soziologe Gilles Kepel in seinem Buch "Die Rache Gottes" darauf hingewiesen, dass religiöse Extremisten nicht nur unter Muslimen, sondern auch unter Christen und Juden wieder auf dem Vormarsch sind. In Indien zum Beispiel organisierte die chauvinistische hinduistische Regierungspartei BJP unlängst antimuslimische Pogrome in Bombay, bei denen Tausende niedergemetzelt wurden.

Was in der arabischen Welt bis heute mit dem Islam verbunden wird, ist die Tatsache, dass unter Mohammed die verschiedenen Stämme zu einer Nation vereinigt wurden. In den folgenden Jahrhunderten wurde der Orient weniger von Seuchen und Hungersnöten gebeutelt als das – christliche – Europa. In dieser Zeit entstanden sogar öffentliche Krankenhäuser und Bibliotheken. Entwicklungen, die offenkundig nicht auf den islamischen Glauben zurückgeführt werden können, allerdings heute noch im Bewusstsein vieler Muslime sind. Mit dem Streben nach einer radikalen Verwirklichung der unverfälschten Grundlagen des Islam geht die Ablehnung aller westlicher Einflüsse einher. Hinter der antiwestlichen Einstellung verbirgt sich im Kern eine antiimperialistische Einstellung oder Stimmung.

Schließlich wurde der Nahe Osten, das Kernland des Islam, von den westlichen Großmächten kolonialisiert und zersplittert, zwanzig Staaten waren künstlich geschaffen worden. In Ägypten wurde 1928 unter dem Islamisten Hassan al-Banna die Muslimbruderschaft gegründet, die bald Hunderttausende AnhängerInnen zählte und den Kampf gegen die "modernen Kreuzfahrer", die französischen und britischen Kolonialherren, aufnehmen wollte.

In den letzten fünfzig Jahren dominierte der US-amerikanische Imperialismus die Region. Mit der Schaffung des Staates Israel hatte er sich nach dem Zweiten Weltkrieg einen Brückenkopf gebaut.

Die Sprache des Koran bietet das entsprechende Vokabular gegen den "großen Satan" USA. Vordergründig scheint die antiwestliche Rhetorik mit sozialen Anliegen gepaart zu sein, enthält der Koran doch auch eine Verpflichtung der Reichen, den "Zakat", den "Zehnten" abzugeben. Karl Marx bezeichnete die Religion einmal als den "Seufzer der bedrängten Kreatur". Mangels einer "Erlösung" vom sozialen Elend wird auf eine Erlösung auf geistlichem Wege gehofft. Ermöglicht werden soll diese Erlösung in den Augen der radikalen Muslime über die Schaffung eines Gottesstaates (für den einzigen Gott "Allah"), in dem das islamische Recht "Scharia" durchgesetzt ist.

Der islamische Fundamentalismus ist durch und durch reaktionär. Die Einführung der islamistischen Gesetze gipfelt in der kompletten Entrechtung aller Frauen. Angefangen mit einer vorgeschriebenen Kleiderordnung, in der das Schleiertragen Pflicht ist, über ein weitgehendes Arbeitsverbot bis hin zum systematischen Ausschluss aus dem öffentlichen Leben.

Es wäre verkürzt, die ganze Bewegung der Fundamentalisten über einen Kamm zu scheren. Schließlich repräsentiert die Bewegung grundlegend verschiedene soziale Interessen – Klasseninteressen. Auf der einen Seite Diktatoren, Stammesführer und Millionäre wie ein gewisser Osama Bin Laden, auf der anderen Seite die unterdrückten Massen. Darum verkörpern die Revolten und Aufstände "im Namen Allahs" in verzehrter Form die Befreiungsbewegungen der (ex-)kolonialen Welt.

Stützen kann sich der islamische Fundamentalismus in erster Linie auf die verarmte und verzweifelte Jugend in den Vororten der Großstädte und auf die soziale Klasse des Kleinbürgertums, auf Händler oder Handwerker, die ihre traditionelle ökonomische Basis, den "Basar", durch den Vormarsch der (westlichen) Kapitalisten bedroht sehen. Die treibende Kraft der Islamisten sind aber die Jugendlichen, die ohne jede Aussicht auf Arbeit und Zukunft nichts mehr zu verlieren haben. Sie sind in den letzten Jahren zahlenmäßig enorm angewachsen. So machen die unter 25jährigen im Iran die Hälfte der Gesamtbevölkerung aus.

In den Koranschulen der Taliban wurden Zehntausende Kinder und Jugendliche der Flüchtlingslager nicht nur mit dem Islam in Kontakt gebracht, sondern mit Bildung überhaupt. "Sie hatten weder eine Vergangenheit noch Pläne für die Zukunft – nur die Gegenwart zählte. Sie waren Kriegswaisen im klassischen Sinn: entwurzelt, rast- und arbeitslos, arm und ohne jede Kenntnisse. Ihnen gefiel der Krieg, da er möglicherweise die einzige Beschäftigung war, der sie sich anpassen konnten. Ihr schlichter Glaube an einen messianischen, puritanischen Islam, eingetrichtert von einfachen Dorfmullahs, war ihr einziger Halt und gab ihrem Leben eine gewisse Bedeutung. Ohne Ausbildung und ohne Kenntnis traditioneller Beschäftigungen wie Ackerbau, Viehzucht oder Handwerkskunst waren sie was Karl Marx Lumpenproletariat nannte" (Ahmed Rashid in seinem Buch "Taliban. Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad").

Aufgebaut wurde die Bewegung des islamischen Fundamentalismus von den einheimischen Machthabern als Gegengewicht zu sozialen Bewegungen. In Algerien wirkten die Islamisten zum Beispiel während der Lebensmittelunruhen von 1988 mäßigend auf die Aufstände ein. Darüber hinaus griffen auch die führenden kapitalistischen Staaten diesen Kräften als Ventil für soziale Unzufriedenheit unter die Arme.

Warum dann aber dieser Kurswechsel heute? Warum wurden die Fundamentalisten inzwischen von Vertretern des Weißen Hauses schon als "neue Hitler" gebrandmarkt? Weil der Imperialismus keine Kontrolle über diese Kräfte und Regimes hat und vor allem in der radikalisierten Massenbewegung von unten eine Bedrohung sieht. Vor diesem Hintergrund befürchten sie eine weitere Destabilisierung im arabischen Raum, die ihre ökonomischen und strategischen Ziele gefährden.

Stalinismus

Auch wenn ein direkter Zusammenhang zwischen dem Absinken der Lebens- und Arbeitsverhältnisse auf der einen Seite und dem Aufstieg des islamischen Fundamentalismus auf der anderen Seite existiert, ist die wachsende Unterstützung für religiöse Fanatiker keine zwangsläufige Entwicklung. Der Zulauf für Hamas, Hisbollah, Islamischer Dschihad oder Al Qaida ist die Folge des Scheiterns sozialer Bewegungen gegen die unerträglichen Lebens- beziehungsweise Sterbebedingungen im arabischen Raum.

Die letzten Jahrzehnte waren nicht nur geprägt von Kriegen und Bürgerkriegen, sondern auch von Revolutionen und Konterrevolutionen, von Streiks, Aufständen und Kämpfen der ArbeiterInnen, Bauern und Jugendlichen. Ob im Irak oder im Iran, ob in Syrien oder im Sudan, überall dort gab es für sozialistische und kommunistische Ideen Massenunterstützung.

Nach der russischen Revolution von 1917 war die arbeitende Bevölkerung zum ersten Mal in einem Land der Welt an der Macht. Die Bildung von Räten, die Enteignung des Großgrundbesitzes und die Verstaatlichung der Industrie lösten international eine Welle der Begeisterung aus, auch im Nahen und Mittleren Osten hatten die neu gegründeten Kommunistischen Parteien damals starken Zulauf. Im Anschluss an Stalins Machtergreifung unmittelbar nach dem Tod Lenins 1924 wurde in der Sowjetunion eine politische Konterrevolution durchgezogen. Die in der Folge von Krieg und Bürgerkrieg bereits extrem geschwächten Rätestrukturen wurden vollständig aufgelöst, die regierenden VertreterInnen der unterdrückten Massen wurden ihrer Ämter enthoben und an die Spitze setzte sich eine abgehobene und privilegierte bürokratische Clique. Trotz der Stalinisierung auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens blieben die ökonomischen Grundlagen des Arbeiterstaates – Planwirtschaft, staatliches Eigentum an den Produktmitteln und das staatliche Außenhandelsmonopol – bestehen. Auf dieser Basis war es der Sowjetunion möglich, innerhalb weniger Jahrzehnte von einem rückständigen halbfeudalen zaristischen Regime zu einer führenden Industrienation zu werden. Trotz aller bürokratischen Fesseln konnte der Lebensstandard dank der Überlegenheit einer geplanten Wirtschaft gegenüber der kapitalistischen Anarchie in einem Maß angehoben werden, dass die UdSSR in den unterentwickelten Ländern große Ausstrahlungskraft besaß.

Diese Entwicklung verhalf dem stalinistischen Apparat zu Masseneinfluss in diesen Ländern, nicht zuletzt im Nahen Osten und in Zentralasien. Und das mit verheerenden Folgen für den Ausgang revolutionärer Kämpfe.

Während dem Zweiten Weltkrieg waren große Teile des Nahen Ostens von britischen Truppen besetzt, teilweise als "Mandatsgebiete", teilweise aus "militärischen Gesichtspunkten". Da Stalin und die UdSSR zwischen 1941 und 1945 Kriegsverbündete des britischen Imperialismus waren, machten sie auf die Kommunistischen Parteien in der Region ihren ganzen Einfluss geltend, die massenhafte arabische Befreiungsbewegung nicht nur zu ignorieren, sondern sogar systematisch zu sabotieren. Den arabischen ArbeiterInnen und Bauern sollte die Kollaboration mit den eigenen Kolonialherren aufgezwungen werden. Dank dieser Erfahrung mit stalinistischer Politik wandten sich viele Befreiungsbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg bürgerlichen Nationalisten zu.

Trotz dieser Diskreditierung bot sich in mehreren Ländern noch bis in die siebziger Jahre hinein wiederholt die Gelegenheit für die dortigen Kommunistischen Parteien, die unterdrückten Massen an die Macht zu bringen. Diese erneuten Gelegenheiten führten jedoch nur zu neuen Tragödien.

Im Irak konnte die dortige KP 1959 in Bagdad eine 1. Mai-Demonstration von einer halben Million Menschen anführen. Ihre Massenbasis nutzten sie allerdings in keiner Weise, um den Kampf für lebenswichtige soziale Reformen mit dem Kampf für eine grundlegende Veränderung der Wirtschafts- und Gesellschaftsverhältnisse zu verbinden. Stattdessen stärkten sie der bürgerlichen Regierung unter Kassem den Rücken, die 1958 im Irak an die Macht gekommen war, und die repressive Maßnahmen gelockert hatte. Kassem selber wurde bereits 1963 durch einen Militärputsch aus seinem Amt vertrieben. Kurz darauf wurden 5.000 AnhängerInnen der KP durch die neue Militärdiktatur umgebracht.

Im Sudan hatte die Kommunistische Partei in den sechziger Jahren eine Million Mitglieder – in einem Land von 14 Millionen Menschen. Fatalerweise unterstützte die Führung der Partei 1969 die militärische Machtübernahme unter der Leitung des Generals Numeiri. Nachdem Numeiri seine Herrschaft gefestigt hatte, ließ er die führenden AktivistInnen der Gewerkschaftsbewegung und der KP inhaftieren. Viele von ihnen wurden unmittelbar im Anschluss daran hingerichtet.

Etappentheorie

Wie waren die wiederholten Enttäuschungen und Niederlagen möglich? Das Vorgehen von Moskau und seinen AnhängerInnen in den verschiedenen Kommunistischen Parteien ist nicht auf individuelles Versagen zurückzuführen. Das Maß aller Dinge in der Außenpolitik der Sowjetunion war die konsequente Umsetzung der Interessen des Kreml in der Innenpolitik. Da die Bürokraten im Kreml in erster Linie um die Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft bemüht waren, ging es ihnen um stabile Verhältnisse auf internationaler Ebene. Eine erfolgreiche revolutionäre Bewegung in irgendeinem anderen Land, die zur Bildung von Räten und einer demokratischen Einbeziehung aller in die Diskussions- und Entscheidungsprozesse in einer geplanten Wirtschaft geführt hätte, hätte ihre eigene Diktatur in der UdSSR direkt in Frage gestellt.

Ausgehend von der 1924 durch Stalin künstlich geschaffenen "Theorie vom Sozialismus in einem Land" wurde international die Notwendigkeit von zwei Etappen auf dem Weg zum "Sozialismus" verkündet: Auf den Sturz eines rückständigen halbfeudalen Regimes sollte zunächst eine erste Etappe bürgerlich-demokratischer Herrschaft folgen, und sehr viel später, in ferner Zukunft, eine zweite "sozialistische" Etappe. Es ist unumstritten, dass in den halben Agrarstaaten der (ex-)kolonialen Welt zuallererst die Aufgaben der bürgerlichen Revolution anstehen: Landreform, Schaffung eines Nationalstaates, Überwindung der feudalen Hindernisse einer wirtschaftlichen Entwicklung (Kleinstaaterei verbunden mit einer Vielzahl von Zollschranken etc.).

Aber spätestens die russische Revolution von 1917 hatte bewiesen, dass die Kapitalisten in den unterentwickelten Ländern die Bühne der Geschichte zu spät betreten haben, und auf Grund ihrer Verflechtung mit dem Großgrundbesitz (vielfach in Personalunion) unfähig sind, die Aufgaben der bürgerlichen Revolution zu lösen. Dazu ist nur die Arbeiterklasse mit der Unterstützung der Bauernschaft in der Lage. Die Arbeiterklasse kann jedoch nicht bei den bürgerlich-demokratischen Aufgaben stehen bleiben, sondern muss sofort weitergehen zu den Aufgaben der sozialistischen Revolution. Dies ist im Kern die Theorie der Permanenten Revolution, die der russische Revolutionär Leo Trotzki bereits unter dem Eindruck der russischen Revolution von 1905 entwickelt hatte und die 1917 die Unterstützung von Lenin und den russischen Revolutionären, den Bolschewiki, fand.

Trotz der Außenpolitik Moskaus gingen die Prozesse in einzelnen Ländern weiter, als es der Kreml-Bürokratie lieb war. In Syrien, Birma oder Süd-Jemen wurden Staaten nach dem Vorbild der UdSSR errichtet, allerdings in diesen Fällen von Anfang an deformierte Arbeiterstaaten. Aufgrund der Fäulnis von Großgrundbesitz und Kapitalismus in der Region reichte massenhafter Druck von unten, dass einzelne Generäle und Regierungsvertreter dazu getrieben wurden, Teile der Wirtschaft zu verstaatlichen und Maßnahmen gegen die Feudalherren zu ergreifen. Schritte, die aufgrund der Schwäche dieser Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen dazu führten, dass die Eckpfeiler des alten Systems einstürzten und diese Regimes begannen, sich an den Ostblock anzulehnen.

Iranische Revolution

Die gleichen Fehler, die die Spitze der Kommunistischen Parteien im Irak oder im Sudan begingen, wurden auch im Iran gemacht. Auch im Iran hatte die KP, die Tudeh-Partei, nach dem Zweiten Weltkrieg eine Massenbasis. Statt die Streikbewegung seinerzeit weiter aufzubauen, entschied sich die Parteiführung 1946, in die Regierung einzutreten.

Trotz aller Enttäuschungen mit der Regierungspolitik seitens der Tudeh-Partei war sie noch nicht so weit kompromittiert, dass sie in den darauf folgenden Jahren nicht weiterhin ein Faktor in der politischen Landschaft blieb. Anfang der fünfziger Jahre orientierte sie in den revolutionären Kämpfen ihren Massenanhang auf den Repräsentanten des bürgerlichen Lagers Mossadegh. Vor diesem Hintergrund konnte der Schah mit Hilfe des US-amerikanischen Geheimdienstes CIA 1953 wieder an die Macht geputscht werden. Jahrzehntelang war das Regime des Schah ein Schützling des US-Imperialismus. Trotz Kriegsrecht und diktatorischer Herrschaftsmethoden konnte 1977 eine Streikbewegung entstehen, die über ein Jahr lang anhielt und in den Aufstand vom Frühjahr 1979 mündete. Das Rückgrat der revolutionären Kämpfe bildeten Hunderttausende von streikenden Öl- und ChemiearbeiterInnen. Auch im Dienstleistungssektor beteiligten sich die Belegschaften scharenweise. Gefordert wurden kürzere Arbeitszeiten, mehr Urlaub und höhere Löhne. Forderungen, die im damaligen Iran an die Grenzen des kapitalistischen Systems stießen.

Statt die Alternative einer sozialistischen Demokratie zu propagieren, und dafür einzutreten, dass die Streikorgane in Zentren des Machtkampfes umgewandelt werden, schürte die Tudeh-Partei nicht nur Illusionen in bürgerliche Politiker, sondern auch in die Mullahs. Den Anhängern Chomeinis kam zu gute, dass die Moscheen in der Zeit der Verfolgung und Unterdrückung aller oppositioneller Tätigkeit unter dem Schah zu den wenigen Plätzen gehörten, in denen Unzufriedenheit artikuliert werden konnte. Die Mullahs waren vor allem deshalb mit dem Schah in Konflikt geraten, weil der Schah nicht davor halt machte, Eigentum der Kirchenhäuser zu konfiszieren. Dazu kamen die Verbindungen zwischen den Mullahs und den Basar-Händlern, für die die seitens des Schah betriebene Öffnung des Landes für das Auslandskapital eine reale Bedrohung bedeutete.

Da die revolutionäre Bewegung im Iran aus einem Bündnis verschiedener gesellschaftlicher Kräfte mit verschiedenen Interessen bestand, war der Klerus nach der Machteroberung mit stark auseinandergehenden Erwartungen konfrontiert. Der neu gegründete Revolutionsrat und die Islamisch-Republikanische Partei waren eng mit den rückständigsten Teilen des Kleinbürgertums und der Basar-Händler verbunden, die auf den Schutz des Privateigentums aus waren. Auf der anderen Seite setzten sich die revolutionären Kämpfe der Industriearbeiter fort, und zwangen das Regime noch im Jahr 1979, Banken, Versicherungen und große Teile der Wirtschaft zu verstaatlichen. Chomeini sah sich Fabrikbesetzungen und der Flucht vieler Unternehmer ins Ausland gegenüber.

Aber die Klasseninteressen des neuen Regimes kamen sehr schnell zum Vorschein: Nach und nach wurde die Leitung der Betriebe an Geistliche übertragen, die islamisch-republikanischen Garden wurden zur Unterdrückung linker Oppositioneller eingesetzt. Am gleichen Tag, an dem die Versicherungsgesellschaften in Staatseigentum überführt wurden, ließ Chomeini Gerichte einsetzen, die bis zu zehnjährige Gefängnisstrafen im Fall von "Störungstaktiken in den Fabriken oder Arbeiteragitation" verhängen konnten. Bis 1982 war die Scharia, eingeführt, Tausende von StreikaktivistInnen ermordet, 40.000 kritische LehrerInnen aus dem Schuldienst entlassen und Frauen zum Schleiertragen gezwungen worden. 1983 wurde die einzige legale Partei der Arbeiterbewegung, die Tudeh-Partei verboten und ihre führenden AktivistInnen in die Gefängnisse gesteckt. Neben Repressalien setzte Khomeini auf antiwestliche Stimmungen. Die Geiselnahme von US-Amerikanern 1979 und der 1980 begonnene Krieg gegen den Irak wurden als Maßnahmen zur Verteidigung der Revolution verkauft.

PLO

Maßgeblich für die verzweifelte Hinwendung unterdrückter Schichten und vor allem Millionen Jugendlicher zum islamischen Fundamentalismus war nicht allein der Verrat der Kommunistischen Parteien, sondern ebenso die Sackgasse, in die sie unter der Leitung von radikalen bürgerlichen Nationalisten gerieten. So richteten sich zum Beispiel lange Zeit große Erwartungen in die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO), die 1964 unter Jassir Arafat ins Leben gerufen worden war. Tragischerweise trug die PLO-Führung zu keinem Zeitpunkt dazu bei, Ansätze für revolutionäre Massenkämpfe aufzugreifen und zum Erfolg zu verhelfen. Im Gegenteil, ihnen war in den letzten Jahrzehnten ausschließlich daran gelegen, Wut und Unzufriedenheit der in absoluter Armut gehaltenen PalästinenserInnen in geordnete Bahnen zu lenken. Millionen PalästinenserInnen waren seit der Bildung des Staates Israel verfolgt und vertrieben worden. Mehr als einmal bot sich in verschiedenen "Gastländern" die Gelegenheit zur Erhebung und zur Machtergreifung. Obwohl die PalästinenserInnen in Jordanien die Mehrheit stellen und ein Sturz der verhassten Monarchie Ende der sechziger Jahre zum Greifen nah war, arbeitete die PLO-Spitze gegen jede Verbrüderungstendenz zwischen den vertriebenen PalästinenserInnen und den arabischen Massen. Seitens der PLO wurde sowohl 1969/70 in Jordanien, als auch wenige Jahre später, 1976, im Libanon eine Revolution verhindert. In beiden Fällen endete die Niederlage in Massakern an den palästinensischen Flüchtlingen, die von der jordanischen sowie der syrischen Armee verübt wurden.

Weder die von der PLO viele Jahre verfolgte Politik der Terroraktionen und Anschläge noch die Orientierung auf eine Lösung auf dem Verhandlungswege konnte die palästinensischen Massen von ihrem Schicksal befreien. Im Gegenteil. Das Osloer Abkommen von 1993 führte sogar zu einer Verdoppelung der jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten im Westjordanland und im Gazastreifen. Mit der Palästinensischen Autonomiebehörde sind die PalästinenserInnen nach wie vor weit von einem eigenen Staat entfernt. Armut und Massenarbeitslosigkeit sind Dauererscheinungen. Ganz gleich, ob die PLO auf den individuellen Terrorismus oder auf diplomatische Taktierereien setzte, beiden Linien gemein war ihre grundlegende Abneigung davor, einen Brückenschlag zu der jüdischen Arbeiterklasse zu suchen.

Auch wenn die Intifada (Aufstand) von 1987 bis 1993 sowie die vor einem Jahr begonnene neue Intifada eine einschneidende Entwicklung darstellt, ist ein gemeinsamer Kampf von palästinensischen und israelisch-jüdischen ArbeiterInnen und verarmten Landbevölkerung immer noch in weiter Ferne. Vor allem die erste Intifada tat wichtige Schritte in Richtung Massenaktionen, konnte aber isoliert von dem Kampf der arabischen und jüdischen Massen im ganzen Nahen Osten keinen Ausweg aufweisen. Das verhalf der reaktionären islamisch-fundamentalistischen Hamas fatalerweise zum Aufstieg.

Die Geister, die sie riefen…

"Osama Bin Laden ist das amerikanische Familiengeheimnis, der dunkle Doppelgänger des amerikanischen Präsidenten", so die indische Schriftstellerin Arundhati Roy. Als Ulrich Wickert diesen Satz in den Tagesthemen zitierte, forderten CDU und CSU seine sofortige Absetzung als Moderator. Ein weiterer Hinweis dafür, dass "die Wahrheit im Krieg immer das erste Opfer ist". Schließlich ist es eine Tatsache: Bin Laden und die Taliban wurden in der Vergangenheit vom US-Imperialismus unterstützt, stark gemacht und bekamen in den Achtzigern vier bis fünf Milionen US-Dollar Hilfsgelder.

Nachdem sich 1978 in Afghanistan ein pro-sowjetisches Regime an die Macht putschte und 1979 Truppen der UdSSR einmarschierten, organisierten die westlichen Kapitalisten und ihre Regierungsvertreter eine antikommunistische Kampagne nach der Devise: "Der Feind meines Feindes ist mein Freund." Weltweit rekrutierte der CIA in den achtziger Jahren 80.000 radikale Moslems, gab ihnen eine militärische Ausbildung und ließ sie gegen die Moskau treue Nadschibullah-Regierung in Afghanistan in den Guerilla-Krieg ziehen. Unter denjenigen, die vom US-Imperialismus unterstützt und aufgebaut wurden, war auch Osama Bin Laden.

Bekanntlich ist auch das Verhältnis zwischen den USA und Saddam Hussein im Irak mit dem Verhältnis zwischen "Dr. Frankenstein und seinem Monster" vergleichbar. Schließlich erhielt auch Hussein im Golfkrieg der achtziger Jahre finanzielle und militärische Hilfen, als es gegen Khomeinis Iran ging. Damals sah der US-Imperialismus auch über die Kurdenverfolgung und den Einsatz von Giftgas beim Angriff auf den kurdischen Ort Halabja 1988 hinweg, der seinerzeit 5.000 Menschen das Leben kostete. "Er ist ein Bastard, o.k.! Aber er ist unser Bastard", ließ damals ein Sprecher des US-Außenministeriums verlautbaren.

Die Losung von Bush, Cheney und Co. nach "grenzenloser Gerechtigkeit" ist grenzenloser Unsinn. Wenn die USA ihre Kriegsziele erreichen sollten, dann werden sie das Taliban-Regime durch ein anderes reaktionäres, aber dem Imperialismus freundlich eingestelltes Regime ersetzen. Die von den USA aufgebaute Bande der Nordallianz ist nichts anderes als eine Bande von Verbrechern – unter ihnen selber islamische Fundamentalisten. In der Regierungszeit der Mudschahidin, die sich heute in der Nordallianz zusammengeschlossen haben, zeichneten sie sich zwischen 1992 und 1996 für Gewalt und Zerstörung verantwortlich, töteten 50.000 ZivilistInnen und vergewaltigten 10.000 Frauen. Mit diesen Kräften wollen die USA und die NATO gemeinsame Sache machen. Da die Nordallianz keine Basis bei der größten ethnischen Gruppe, den Paschtunen hat, sondern nur bei den ethnischen Minderheiten (Usbeken, Tadschiken und Harara), ließ die "freie Welt" ein Bündnis zwischen der Nordallianz und dem Ex-König, ein Paschtune, der im italienischen Exil weilt, schmieden. Auf den Sturz der Taliban soll eine so genannte Große Versammlung folgen, die über die Zukunft Afghanistans beraten und entscheiden soll. Von den 120 TeilnehmerInnen dieser Versammlung soll die Hälfte vom König persönlich ausgewählt werden, die anderen 60 sollen aus den verschiedenen Fraktionen der Nordallianz zusammengestellt werden – die Taliban sollen auch vertreten sein…

Perspektiven

Der Bombenterror gegen Afghanistan hat eine Flächenbrand in der gesamten Region ausgelöst. Palästina, Libanon, Pakistan, Jammu/Kaschmir, Irak, Indonesien, Philippinen und andere Länder werden von Massenprotesten und Straßenkämpfen erschüttert. In vielen Fällen sind die Islamisten die treibende Kraft. Auf den Philippinen kam es beispielsweise zu einer Welle von Demonstrationen auf den Inseln im Süden, wo die Moslems (5 Prozent der Gesamtbevölkerung) besonders verankert sind. In Indonesien drohte am 15. Oktober eine Erstürmung des Parlamentsgebäudes in der Hauptstadt Jakarta, bei denen sich vor allem rechte muslimische Gruppen stark hervortaten. Die Islamisten haben Zulauf, weil sie die antiwestliche Stimmung – letztendlich ein verwirrter Ausdruck tieferliegender antiimperialistischer Bestrebungen – scheinbar am radikalsten artikulieren.

Allerdings werden die Fundamentalisten nicht stetig weiter zugewinnen. Beten, Fasten und Schleiertragen macht niemanden satt und schafft keine Arbeitsplätze. Die Fundamentalisten haben keine Antwort auf die brennende soziale Frage. Dort, wo sie Verantwortung tragen, tritt das noch deutlicher zutage. Was bleibt, sind ihre reaktionären diktatorischen Maßnahmen, die menschenverachtend im allgemeinen und frauenfeindlich im besonderen sind. Selbst in Afghanistan gärte es seit längerem. In den letzten Monaten war es zu Streiks und Studierendenprotesten in Dschalalabad gekommen. Proteste, die sich gegen Lebensmittelknappheit und Inflation richteten. Die mehr als fünf Millionen afghanischen Flüchtlinge schon vor Kriegsbeginn sprechen eine eigene Sprache. Auch im islamischen Saudi-Arabien brodelt es. Vor zehn Jahren war Arbeitslosigkeit noch ein Fremdwort, heute sind offiziell 18 Prozent ohne Beschäftigung. In den letzten zehn Jahren ist der Lebensstandard um ein Drittel gesunken. Dagegen laufen inzwischen wachsende Teile der Jugend Sturm, die mehr als die Hälfte der 20 Millionen starken Bevölkerung ausmachen. Im Iran hatte der Unmut auf Wahlebene vorübergehend ein Ventil in der Unterstützung von "Reformkräften" innerhalb des Establishments gefunden. Allerdings wandelt sich die Wut bereits verschiedentlich auch in Widerstand um. Vor zwei Jahren wurden Teheran und andere Großstädte von Revolten der Studierenden erschüttert.

Auf den Philippinen wurde der verhasste Präsident Estrada zum Jahreswechsel 2000/01 durch eine Massenbewegung gestürzt. In Indonesien gipfelten die Kämpfe von ArbeiterInnen, Armen und Jugendlichen 1998 in einen revolutionären Aufstand, der die seit Mitte der sechziger Jahre herrschende Militärdiktatur von Suharto zu Fall brachte. Auch in Algerien demonstrierten in diesem Frühjahr Hunderttausende. "Viel mehr als in der Vergangenheit beschäftigt viele die desolate wirtschaftliche und soziale Lage. So wurden auf Plakaten der Demonstranten auch Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot angeprangert. Nach inoffiziellen Zahlen sind mehr als dreißig Prozent arbeitslos" (FAZ vom 25.5.01).

Die heutige zahlenmäßige Stärke der Arbeiterklasse macht Hoffnung. Im Irak liegt die Urbanisierung mittlerweile bei 75 Prozent, im Iran bei 59 Prozent, auf den Philippinen bei 54 Prozent. So wichtig die Kämpfe anderer unterdrückter Teile der Gesellschaft sind, kommt der Klasse der Lohnabhängigen die zentrale Rolle bei einer grundlegenden Gesellschaftsveränderung zu. Schließlich können streikende ArbeiterInnen den größten ökonomischen Druck ausüben. Darüber hinaus sind sie aufgrund ihrer Rolle im Produktionsprozess mehr als Bauern, Handwerker oder kleine Händler in der Lage, ein kollektives Bewusstsein zu entwickeln.

Der russische Revolutionär Lenin bezeichnete den Kapitalismus einmal als "Horror ohne Ende". Das prägt den Alltag für die unterdrückten Massen in der ganzen ex-kolonialen Welt, nicht zuletzt im Raum zwischen Marokko und den Philippinen. Religiöse Wahnsinnstaten und Selbstmordattentate sind eine grausame Reaktion auf diese Bedingungen. Aber auf der verzweifelten Suche nach einem Ausweg werden auch andere radikale gesellschaftliche Konzepte Gehör finden. In der Palästinensischen Autonomiebehörde gaben 20 Prozent kürzlich an, die Hamas zu unterstützen, 27 Prozent Arafats Fatah; jene Umfrage zeigte aber auch auf, dass keine der bestehenden politischen Alternativen eine Mehrheit hat. Auch die international im Entstehen begriffene antikapitalistische Bewegung, die je länger der Krieg dauert, mit der Antikriegsbewegung zusammen kommen kann, wird nicht ohne Einfluss bleiben. Bemerkenswert war im übrigen die Beteiligung von arabischen ArbeiterInnen und Jugendlichen bei verschiedenen Antikriegsdemonstrationen in London, Amsterdam und anderen Metropolen Westeuropas.

Der Zusammenbruch des Stalinismus hat dem Imperialismus eine ideologische und politische Offensive ermöglicht. Nicht zuletzt der Verlauf des Krieges gegen den Irak 1991 hat das gezeigt. Gewerkschaften wurden geschwächt. In den meisten Ländern existieren heute keine Arbeiterparteien mit Massenbasis, die hätten dagegen halten können. Allerdings fällt damit auch ein Hindernis für den Aufbau revolutionärer und sozialistischer Kräfte weg. Schließlich hat der Kurs Moskaus wiederholte Male Massenkämpfe scheitern lassen. Es gilt, die Lehren aus den Fehlern der Stalinisten zu ziehen. Auch aus dem Versagen bürgerlich-nationalistischer Kräfte wie der PLO müssen Schlussfolgerungen gezogen werden. Das CWI, das Komitee für eine Arbeiterinternationale, kämpft nicht nur international gegen den Krieg, ob in Pakistan, Indien und in Jammu/Kaschmir, ob in Israel oder Nigeria oder in Deutschland, Russland und in den Vereinigten Staaten. Das CWI hat auch eine umfassende gesellschaftliche Alternative zum kapitalistischen Horror anzubieten.