Psychische Gesundheit im Kapitalismus: Dieses System macht uns krank!

Was bedeutet es überhaupt, psychisch gesund zu sein? Ist psychische Gesundheit nur die Abwesenheit von psychischer Krankheit? Aber was ist psychische Krankheit? Und wie beeinflusst das Leben in der kapitalistischen Industriegesellschaft unsere psychische Gesundheit, wenn soziale Faktoren und psychische Gesundheit untrennbar miteinander verbunden sind?

von Douglas Bischke (Kassel) und Ianka Pigors (Hamburg)

Einerseits gibt es natürlich hirnorganische Erkrankungen, die zum Beispiel zu erheblichen Wahrnehmungsstörungen, Beeinträchtigung des Gedächtnisses und Persönlichkeitsveränderungen führen. Andererseits ist davon auszugehen, dass ein Großteil der Erkrankungen mit solchen Symptomen zumindest auch durch äußere Lebensumstände, zum Beispiel Stress oder traumatische Erlebnisse (mit)verursacht wird. Bei Erkrankungen wie Posttraumatischen Belastungsstörungen, Burn-outs oder Suchterkrankungen sind äußerliche Faktoren sogar ausschlaggebend. 

Kranke Menschen oder kranke Verhältnisse?

Während bei einigen Erkrankungen, z.B. tiefen Depressionen, psychotischen Schüben oder schwerer Alkoholabhängigkeit aus medizinischer Sicht kaum Zweifel daran bestehen kann, dass die betroffene Person an einer Krankheit leidet, gibt es Verhaltensweisen und Wahrnehmungen, die sowohl durch die Betroffenen als auch durch ihr Umfeld vor Allem in der sozialen Interaktion als „Störung“ wahrgenommen werden. Was in diesem Sinne „krank“ ist, definiert vor allem die Gesellschaft. Homosexualität wurde erst 1992 von der WHO aus der Liste der Störungen/Erkrankungen gestrichen und das Trans-Sein wird erst in den letzten Jahren langsam entpathologisiert. 

Im noch bis 2027 neben dem neuen ICD-11 anwendbaren internationalen System für medizinische Diagnosen ICD-10 wird unter dem Diagnose-Code F 64.1 „Transvestitismus unter Beibehaltung beider Geschlechtsrollen“ aufgeführt. Die Krankheitssymptome werden wie folgt beschrieben: „Tragen gegengeschlechtlicher Kleidung, um die zeitweilige Erfahrung der Zugehörigkeit zum anderen Geschlecht zu erleben. Der Wunsch nach dauerhafter Genitalorganumwandlung oder chirurgischer Korrektur besteht nicht; der Kleiderwechsel ist nicht von sexueller Erregung begleitet.“ 

Was ist hier krank – eine Gesellschaft, die „gegengeschlechtliche Kleidung“ hervorbringt, oder eine Person, die gegen die Norm, „geschlechtsentsprechende“ Kleidung zu tragen, verstößt?

Inzwischen wird zumindest in Deutschland heute ganz überwiegend davon ausgegangen, dass bei solchen Diagnosen nur eine krankhafte Störung vorliegt, wenn die betroffene Person Leidensdruck empfindet. Dennoch zeigt das Beispiel deutlich, dass bestimmte „Krankheiten“ nur im Rahmen bestimmter gesellschaftlicher Normensysteme existieren können. 

Wir können also festhalten, dass gesellschaftliche Bedingungen einerseits diktieren, was als psychisch „krank“ wahrgenommen wird und andererseits die Entstehung psychischer Erkrankungen verursachen oder zumindest begünstigen können. Darüber hinaus kann man sich durchaus die Frage stellen, ob es nicht zu kurz greift, psychische Gesundheit nur als Abwesenheit von Krankheit zu definieren. Es spricht einiges dafür, den Begriff stattdessen positiv zum Beispiel als einen Zustand zu definieren, indem eine Person Selbstwirksamkeit, Würde bzw. Selbstbewusstsein und emotionale und soziale Sicherheit empfindet.  

Psyche und politische Ökonomie

Der Kapitalismus ist eine Klassengesellschaft. Alle Klassengesellschaften basieren auf der Ausbeutung einer Mehrheit durch eine Minderheit. Charakteristisch für den Kapitalismus ist die Ausbeutung der Lohnarbeiter*innen durch die Kapitaleigner*innen, die Kapitalist*innen.  Die aus früheren Klassengesellschaften überkommene Ausbeutung anderer Gruppen, z.B.  der Kleinbäuer*innen, existiert teilweise durchaus weiter, ist aber nicht mehr die dominierende Grundlage der Wirtschaft.

Was ist Lohnarbeit? 

Im Grunde beschreibt der Begriff „Arbeit“ jede Aktivität, bei der zum Erreichen einer Zielsetzung mentale oder physische Kraft angewandt wird. Demzufolge ist auch ein Hobby „Arbeit“. Trotzdem liegt es den meisten von uns fern, unsere Freizeittätigkeit so zu bezeichnen. Statt Spaß und Selbstverwirklichung verbinden wir mit dem Arbeitsbegriff nicht selten Motivationslosigkeit, Stress, Panik und Burnout. 

Marx beschrieb „Arbeit“ einst als „das Mittel zum Leben“. In diesem Sinne ist „Arbeit“ also jener Aufwand, der benötigt wird, um die Lebensgrundlage des Individuums und des Kollektivs zu sichern. Dies bezeichnete Marx zudem als „erstes Lebensbedürfnis“. Gemeint war damit weniger die Arbeit selbst, sondern die aus ihr hervorgehende Dynamik, die jeder einzelnen Person eine Teilhabe am gesellschaftlichen Prozess ermöglicht.


Zwar sichert auch die Lohntätigkeit im kapitalistischen Arbeitsalltag die Lebensgrundlage des Individuums, jedoch nicht, weil Lohnarbeitenden das Produkt ihrer Arbeit anschließend zur Nutzung, zum Genießen oder zum Bewundern zur Verfügung steht. Unternehmer*innen eignen sich das fertige Produkt an. Das Wissen, nicht selbstbestimmt und in eigenem Interesse tätig zu sein, hat oft zur Folge, dass Lohnarbeit als nicht erfüllend, sondern unbefriedigend, sinnlos und entfremdet erlebt wird.

Arbeitsteilung

Diese Erfahrung wird durch den hohen Grad der Arbeitsteilung verstärkt. Einzelne Arbeiter*innen sind für nur einen immer gleichen, winzigen Schritt bei der Herstellung des Endprodukts oder der Erfüllung einer Dienstleistung verantwortlich. Wer zuständig ist für das Verkleben eines Pakets, hat nichts mit dessen Inhalt oder Zustellung zu tun. Wer im Pflegebereich im Minutentakt Patient*innen versorgen muss, als seien es keine Mitmenschen, sondern Gegenstände, ist gezwungen, seine sozialen Regungen zugunsten des Zeitplans zu unterdrücken.

Ein stolzes Identifizieren mit dem Ergebnis der eigenen Arbeit bleibt folglich aus und Gefühle der Sinnlosigkeit und Entfremdung werden verstärkt. Das gesellschaftliche Ansehen für die Herstellung eines Produkts wird oftmals nicht den Personen, die es unter Einsatz ihrer Kenntnisse, ihrer Fähigkeiten und ihrer Lebenszeit herstellen, zuteil, sondern den Personen, die das Kapital für die Produktion zur Verfügung stellen. 

Fremdbestimmtes Arbeitsumfeld

Nicht nur, dass unter den Arbeitsbedingungen im Kapitalismus Arbeiter*innen keinerlei Identifikation mit dem Produkt ihrer Arbeit erfahren, darüber hinaus wirkt auch der Arbeitsprozess entfremdend. Ursächlich ist hierbei, dass Beschäftigte keinerlei Kontrolle über Arbeitsplatz, Arbeitszeit, Arbeitskolleg*innen und Arbeitsbedingungen haben. All das ist oft bis ins kleinste Detail vorgegeben. Selbstbestimmung gibt es nicht. Der Arbeitsplatz kann nicht frei als Ort des Wohlfühlens gestaltet werden. Die Arbeitszeit kann nicht frei an den individuellen Lebensrhythmus angepasst werden, stattdessen müssen Anpassungen und Abstriche bei der Freizeitsgestaltung vorgenommen werden. Den Kreis der Kolleg*innen zum Freundeskreis zu machen ist oftmals unerwünscht. Statt Kooperation wird häufig Konkurrenz gefördert, um arbeitskampfermöglichende Solidarität zu verhindern.

Ausbeutung

Hinzu kommt, dass Arbeiter*innen nicht den vollen Wert des Produzierten erhalten. Sie erhalten einen Lohn, der stets gerade so gering gehalten wird, wie es sich die Unternehmer*innen leisten können, ohne Widerstand erwarten zu müssen. Auf diese Weise eignen sich Kapitalist*innen mit dem fertigen Produkt auch dessen Mehrwert an und machen Profit. Dieser Profit sichert ihnen gesellschaftlichen Einfluss, Ansehen und einen Lebensstandard, von dem die Arbeiter*innen nur träumen können. Infolgedessen erfahren Lohntätige einmal mehr Entfremdung, da Leistung und Entlohnung einander nicht spiegeln.

Arbeiter*innen sind auf ihre Arbeitsplätze angewiesen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Eine Kündigung führt immer zu sozialer Unsicherheit und kann gravierende Folgen, wie den Verlust der Wohnung zur Folge haben. Diese ständige Gefahr kann Stress erzeugen und krank machen.

Entfremdung macht krank

Alles in allem verbringen Arbeiter*innen innerhalb des kapitalistischen Produktionsprozesses einen Großteil ihrer Lebenszeit mit einer Tätigkeit, die nicht identitätsstiftend, sondern entfremdend wirkt. Dabei geht ein zentraler Aspekt menschlichen Selbstverständnisses verloren: Der kapitalistische Produktionsprozess hindert Arbeiter*innen daran, Fähigkeiten, Produkte, Arbeitsabläufe oder ein soziales Arbeitsumfeld, das das Ausbilden und Ausleben von Persönlichkeit ermöglicht, zu entwickeln. Stattdessen erfordert die Lohnarbeit die ständige Missachtung eigener Bedürfnisse, Fähigkeiten und Vorlieben. Solche Umstände sind ein Nährboden für psychische Erkrankungen wie Angststörungen, Burnout und Depressionen.

Unsere Arbeitsbedingungen entfremden uns von unserer Tätigkeit, dem Produkt unserer Tätigkeit und folglich von uns selbst. Zwar werden wir nicht für den vollen Wert unserer Leistung kompensiert, dennoch wird uns bereits in der Schule beigebracht, dass unser Leben nicht von bedingungslosem Wert ist, sondern erst durch das Erbringen von Leistung gesichert werden muss. 

Der überwiegende Teil der Menschheit verbringt einen Großteil seiner Lebenszeit damit, zusammen mit Kolleg*innen den gesamten Reichtum dieser Gesellschaft zu produzieren. Was, wann und wie produziert wird und was mit den Produkten unserer Arbeit geschieht, entscheiden wir jedoch nicht demokratisch gemeinsam. Diese Entscheidungen treffen im Endeffekt einige wenige Kapitaleigner*innen aus ihrer individuellen Profitlogik heraus.

Dieses System ist krank…

…und es produziert Krankheiten. Wir brauchen grundlegende Änderungen, um uns ein psychisch und emotional gesundes Leben zu ermöglichen. Deshalb muss der Kampf für ein Ende der Krise unserer psychischen Gesundheit letztendlich verknüpft sein mit dem Kampf für eine sozialistische Gesellschaft, in der das Wohl von Mensch, Tier und Umwelt über dem Profit der wenigen steht. 

Analog dazu, dass viele Psychopharmaka zwar Symptome lindern, aber nicht die soziale Ursache einer Erkrankung behandeln, müssen wir im Kampf für konkrete Verbesserungen im Hier und Jetzt und für eine wirklich effektive Linderung von psychischem Leid, stets anstreben, auch das entsprechende Umfeld zu schaffen, die Gesellschaft, in der psychische Erkrankungen gar nicht erst in einem solchen Ausmaß entstehen.

Konkret bezogen auf den Arbeitsalltag bedeutet das einen gemeinsamen Klassenkampf für gute Arbeitsplätze für alle durch Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich, demokratische Kontrolle über die Produktion in den Betrieben, darunter auch die Überführung von Wohnungs- und Pharmakonzernen in öffentliches Eigentum. Erst wenn die Arbeitsabläufe entsprechend den Bedürfnissen von Mensch und Natur geplant werden, anstatt für den Profit einiger weniger, können wir kollektiv, gemeinschaftlich für eine lebenswerte Gesellschaft arbeiten.

Dieser Artikel ist Teil einer Reihe zum Thema psychische Gesundheit, in der wir uns mit verschiedenen Aspekten detaillierter beschäftigen möchten. Alle Artikel werden auf unserer Website sozialismus.info erscheinen.