Marx, Kohei Saito und der metabolische Riss (Teil 1)

Fossile Investitionen sind, nach einer Flaute in den 2010ern aufgrund mangelnder Profitabilität, in den letzten Jahren wieder gestiegen. Jährlich verzichten die Weltklimagipfel (COP) auf Maßnahmen zur Eindämmung der Klimakatastrophe. Die Ampel-Regierung hat sogar den mit 60 Milliarden Euro lächerlich kleinen Klima-Investitionsfonds aufgelöst, weil ihr das Geld fehlt. Kann der Kapitalismus umsteuern oder ist das System strukturell unfähig, mit der Klimakrise umzugehen?

Von Claus Ludwig, Köln

Die Texte des japanischen Philosophen und Autors Kohei Saito (geb. 1987) werden viel beachtet, seine Bücher „Systemsturz“ und „Marx in the Anthropocene – the Idea of Degrowth Communism“ sind Bestseller. Saito greift auf Texte von Karl Marx zur Ökologie zurück, v.a. aus dem Band III des „Kapital“ und den „Grundrissen“ von 1857. Er weist nach, dass bereits Marx die Unausweichlichkeit der ökologischen Zerstörung durch den Kapitalismus verstanden hat. Er vertritt die These, dass die Marxist*innen nach Marx dabei versagt haben, die Ökologie und die Klimakrise zu verstehen, und dass sie sich technikgläubig an „produktivistischen“ Zielen orientierten.

Der metabolische Riss

Marx erklärt im ersten Band des „Kapital“, dass nicht allein die menschliche Arbeit die Quelle des Reichtums ist, sondern auch die Natur. In vorkapitalistischen Gesellschaften, auch den Klassengesellschaften, war die Bedürfnisbefriedigung das zentrale Motiv der Produktion. Das ändert sich im Kapitalismus. Die Kapitalverwertung wird zum entscheidenden Motor der wirtschaftlichen Tätigkeit. Das entfaltet eine ungeheure Dynamik und reißt Grenzen nieder, nationale, kulturelle und natürliche. In einer so verdinglichten Welt transformiert die soziale Macht von Ware, Geld und Kapital alles nach der Logik der Kapitalverwertung in Waren, und die Natur wird zum bloßen Vehikel dieser Verwertung.

Kapitalakkumulation und Wachstum sind per kapitalistischer Logik unbegrenzt. Das unendliche kapitalistische Wachstum trifft jedoch auf die Endlichkeit des Planeten, den biophysikalischen Grenzen für Rohstoffverwertung und Emissionen. Saito legt dar, dass die Natur ohne die menschliche Gesellschaft existieren kann, die menschliche Gesellschaft aber nicht ohne die Natur. Dieses asymmetrische Verhältnis bedroht den Wohlstand oder sogar die Existenz der Menschheit.

Der zentrale Marx’sche Begriff für den Widerspruch zwischen kapitalistischer Entwicklung und der Natur ist der „metabolische Riss“. Metabolismus bedeutet Stoffwechsel, es handelt sich also um eine Störung bzw. einen Riss des Stoffwechsels der menschlichen Gesellschaft mit der Natur. Marx wusste noch nichts von den Folgen der CO2-Konzentration. Für ihn wurde der Riss deutlich anhand des Landwirtschaft. Bezüglich der Bodenfrage wurde schon damals deutlich: technologische „Lösungen“ nach kapitalistischer Logik, welche den ausgelaugten Böden z.B. mit mehr Düngemitteln Erträge abringen sollen, führen nicht zur Überwindung der Widersprüche, sondern haben Folgen, die nicht vorhersehbar sind und das Potenzial haben, das Problem auf einer höheren Stufe zu eskalieren.

Fossiles Kapital

Die fossilen Brennstoffe waren zentral bei der Entstehung und der Entgrenzung des Kapitalismus. Mit ihnen wurde es möglich, die „photosynthetische Barriere“ zu durchbrechen. Bis zur Ausbeutung der Fossilen war die Menschheit auf die Fähigkeit der Natur angewiesen, Sonnenenergie in Biomasse umzuwandeln. Der Kapitalismus nutzte jedoch die über Millionen Jahre gespeicherte Energie.

… ohne Kohle gäbe es den heutigen Kapitalismus nicht. […] Inzwischen verbraucht Europa mehr als 20mal so viel Energie, wie Wälder bereitstellen könnten, wenn sie den ganzen Kontinent einnehmen würden […] Man zapfte die Pflanzenreste der Vergangenheit an und konnte damit die Schranken der Gegenwart sprengen. Seit Urzeiten war die Menschheit gezwungen gewesen, nur so viel zu verbrauchen, wie die lebende Natur liefern konnte. Diese ‘organische’ Ära endete nun und wurde durch ein fossiles Zeitalter abgelöst.” (aus: Ende des Kapitalismus, Ulrike Herrmann).

Dazu kommt, dass die fossilen Brennstoffe ideal für die kapitalistische Produktionsweise sind: sie lassen sich privat aneignen und erfordern große Investitionen und Organisation, was die Monopolisierung begünstigt. Der Aufstieg des Kapitalismus und der großen Konzerne ist untrennbar mit der Nutzung fossiler Energie verbunden.

Drei Verschiebungen

Der Riss im Stoffwechsel manifestiert sich nicht erst seit der Klimakrise. Das Kapital hat schon früh einen Umgang damit gefunden: es verschiebt die Folgen dieses Risses – technologisch, zeitlich und räumlich. Marx erklärt, dass das Kapital versucht, die Risse zu überwinden, ohne seine eigenen Grenzen zu erkennen bzw. zu akzeptieren, durch eine Relativierung des eigentlich Absoluten.

Die erste Verschiebung ist die technologische: erschöpfte Böden wurden durch verstärkten Düngemitteleinsatz weiter genutzt, eine Folge war die Verseuchung z.B. des Grundwassers. Heute soll die Klimakatastrophe angeblich „technologieoffen“ bewältigt werden. Das Wachstum von Transport und Verkehr soll zum Zweck der Kapitalvermehrung weitergehen – nicht mehr mit Verbrennern, sondern durch E-Mobilität.

Statt die CO2-Emissionen effektiv zu reduzieren, soll die CO2-Abscheidung, also das Einfangen aus der Atmosphäre mit technischen Großanlagen, vorangetrieben werden. Die Wirkung wäre begrenzt, die Investitionen enorm, wie auch der Rohstoffverbrauch beim Bau der Anlagen. Wahrscheinlich bleibt die Wirksamkeit dieser Anlagen eine Illusion. Effektivere Maßnahmen zum „Einfangen“ von CO2, z.B. mehr Wälder und Moore, sind nicht die bevorzugte kapitalistische Lösung, denn sie beschränken die profitable Verwertung von Land und sind schlechter in private Profite umzuwandeln.

Die zweite Verschiebung ist die räumliche. Die ökologischen Lasten werden in andere Regionen verschoben. Das Gros der fossilen Brennstoffe oder der Lebensmittel wurde und wird in den entwickelten kapitalistischen Ländern des globalen Nordens verbraucht. Förderung, Anbau und Entsorgung finden im globalen Süden statt. Regenwälder werden zu Weideflächen und Palmöl-Anbaugebieten, Tanker in Indien verschrottet, Müll in Indonesien deponiert. Die Erhitzung der Erde ist zunächst in den ohnehin schon wärmeren Regionen spürbar und macht Teile davon unbewohnbar. Durch die Verschiebung der ökologischen Folgen aus den kapitalistischen Zentren in die Peripherie lagern die Kapitalist*innen Kosten aus und verstecken diese vor den Augen der Arbeiter*innen der Zentren; die Destruktivität der Produktionsweise wird für diese verborgen.

Die dritte Verschiebung ist die zeitliche. „Nach mir die Sintflut! ist der Wahlruf jedes Kapitalisten und jeder Kapitalistennation.“ (Marx, Kapital, Band I). Die Elastizität der Natur führt dazu, dass die ökologische Katastrophe nicht sofort eintritt. Bestes Beispiel dafür ist erneut die Klimakatastrophe. Überraschend präzise wissenschaftliche Berechnungen zur Temperaturveränderung gibt es bereits seit 1900. Den Ölkonzernen waren die Folgen seit den 1950ern klar, seit Anfang der 1970er Jahre schlugen Wissenschaftler*innen öffentlich Alarm. Doch die Wirtschaft schlägt die Wissenschaft.

Der Spielraum schrumpft

Ein kapitalistischer Konzern, welcher die Folgekosten von Rohstoffverbrauch und Emissionen korrekt berechnen und die nötigen Investitionen für deren Beseitigung bereitstellen bzw. die Produktion klimaneutral umbauen würde, wäre nicht konkurrenzfähig. Die kapitalistische Logik erzwingt die Auslagerung der realen Kosten und Folgen des Wirtschaftens in die Zukunft. Und sie erzwingt die Externalisierung der enormen Folgekosten durch deren Vergesellschaftung. Die Bekämpfung der Klimakatastrophe wird – wenn überhaupt etwas passiert – von den Staaten mit Steuergeldern finanziert.

Der Spielraum für Verschiebung und Externalisierung schrumpft rapide, zeitlich und räumlich. Die planetare Klimakatastrophe samt der Kipppunkte machen den metabolischen Riss im globalen Norden spürbar. Da die Komponenten Zeit und Raum ihre Elastizität verlieren, bleibt denjenigen, die nicht bereit sind, die kapitalistische Wachstums- und Zerstörungslogik in Frage zu stellen, nur die Hoffnung auf neue Technologien. Diese könnten, wenn sie als Begleitung zum ökologischen Umbau unter gesellschaftlicher Kontrolle eingesetzt würden, eine wichtige Rolle spielen. Doch unter den Bedingungen von Konkurrenz und Profitlogik bleibt ihre Funktion begrenzt. Der Umstieg auf E-Mobilität senkt die Emissionen, aber intensiviert die Ausbeutung von Rohstoffen. Er hat massive ökologische Folgen und führt unmittelbar zu wirtschaftlichen und geopolitischen Verwerfungen, welche die Gefahr militärischer Konflikte erhöhen.

Der zweite Teil dieses Artikels erscheint in der Juni-Ausgabe der sozialismus.info. Darin beschäftigen wir uns u.a. mit Schwächen in Saitos Analyse.