Durch westliche Werte zum Weltfrieden?

Ganz Europa weiß, dass die Ukraine unsere Friedensordnung verteidigt“, sagte Annalena Baerbock bei einem Staatsbesuch in Kiew im September. Gäbe es eine weltweite Friedensordnung, wenn es keine autokratischen Regime wie in Russland und China gäbe?

von Thies Wilkening, Hamburg

Im Kapitalismus richten Regierungen ihre Außen-, Handels- und Verteidigungspolitik normalerweise darauf aus, den Wohlstand ihres Landes – also seiner Kapitalist*innen – zu verteidigen und zu vermehren. Weil es auf der Erde nur begrenzt Ressourcen und Absatzmärkte gibt, geraten die Kapitalist*innen verschiedener Länder unweigerlich in Konkurrenz miteinander – unabhängig davon, wie demokratisch oder autoritär ihre Staaten regiert werden.

Seit dem Einmarsch Russlands in der Ukraine vermitteln viele bürgerliche Politiker*innen und Journalist*innen den Eindruck, die deutsche herrschende Klasse habe eigentlich keine eigenen Interessen mehr, die sich von denen anderer Kapitalist*innen in den liberalen Demokratien Europas und Amerikas unterscheiden. Das sehen allerdings nicht alle so – manche politischen Kräfte sind durchaus besorgt, deutsche Kapitalinteressen könnten ins Hintertreffen gegenüber anderen verbündeten Ländern geraten. Sie sehen einen kompletten Verzicht auf Handel mit Russland als schweren Wettbewerbsnachteil. So zeigt die SPD seit Kriegsbeginn deutlich weniger Begeisterung für Waffenlieferungen als ihre Koalitionspartnerinnen und Sahra Wagenknecht spricht mit ihrer Sorge um die Folgen der Konfrontation mit Russland für die deutsche Industrie sicherlich vielen Kapitalist*innen aus der Seele. Diese Kräfte sind allerdings in der Defensive.

Im öffentlichen Diskurs dominiert die Position, man könne auf solche Befindlichkeiten angesichts der gemeinsamen Mission des „Westens“ in Form der NATO und ihrer Verbündeten, dem Kampf gegen die diktatorischen Mächte Russland und China, keine Rücksicht nehmen. Der Westen stehe für den weltweiten Erhalt und die Durchsetzung der liberalen, kapitalistischen Demokratie und der individuellen Freiheit.  Er sei eine im Grunde friedliche Macht, die nur wegen der Bedrohung durch Russland und China aufrüsten und Krieg führen müsse.

Doch  bei Kriegen zwischen imperialistischen Mächten geht es letztlich nicht um Demokratie oder Diktatur, sondern um die Durchsetzung oder Verteidigung handfester ökonomischer und strategischer Interessen. Aber könnte ein Sieg der NATO im neuen Kalten Krieg mit dem Sturz der russischen und chinesischen Regime nicht wirklich, sozusagen als „Nebeneffekt“, zu einer demokratischeren Welt ohne Kriege führen?

Wohin führt Imperialismus?

Diese Idee ist nicht neu. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde in der Linken intensiv über den Charakter und die Entwicklungsperspektiven des Imperialismus diskutiert. Lenin erklärte in seinem Buch Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, dass der im System angelegte Zwang zum Kapitalexport und zur Erschließung von Rohstoffquellen und Absatzmärkten die Kapitalist*innen verschiedener Länder – und damit ihre Staaten – unweigerlich in Konflikt miteinander bringe. Dagegen hielt es der marxistische, später sozialdemokratische, Theoretiker Karl Kautsky für möglich, dass der weltweite Konzentrationsprozess des Kapitals die nationalen Grenzen zwischen den Kapitalist*innen aufheben würde. In diesem als „Ultraimperialismus“ bezeichneten Zustand würde dann ein vereintes, globales Finanzkapital aller industrialisierten Länder gemeinsam den Rest der Welt ausbeuten. Da es keine Interessenkonflikte zwischen den herrschenden Klassen verschiedener imperialistischer Mächte mehr gäbe, gäbe es auch keine Kriege mehr und der Kapitalismus würde im letzten Stadium seiner Entwicklung zum Weltfrieden führen.

Vom „Ende der Geschichte“ …

Unter anderen Vorzeichen – Kautsky wollte den Kapitalismus zumindest in der Theorie immer noch überwinden – ähnelt seine Theorie dem „Ende der Geschichte“, das der rechtsliberale Politikwissenschafter Francis Fukuyama Anfang der 1990er verkündete. Für ihn hatte mit dem Sieg der USA und ihrer Verbündeten im Kalten Krieg eine Entwicklung begonnen, die weltweit zur Bildung stabiler bürgerlicher Demokratien führen würde. Entwicklungen wie die verstärkte Globalisierung mit neuen Freihandelsabkommen in den 1990ern und 2000ern, die Erweiterung von EU und NATO nach Osteuropa und die Bildung formal demokratischer Staaten mit regelmäßigen Wahlen in vielen neokolonialen Ländern schienen ihm zunächst Recht zu geben.

Russland erschien in den 1990ern zwar nicht unbedingt als Demokratie, aber erst recht nicht als eigenständig agierende imperialistische Konkurrenz. China spielte die Rolle einer „verlängerten Werkbank“ und ermöglichte westlichen Konzernen Extraprofite durch Verlagerung ihrer Produktion, und selbst die von den USA mit und ohne ihre Verbündeten geführten Kriege ließen sich als mehr oder weniger erfolgreiche Einsätze einer „Weltpolizei“ gegen einzelne „Schurkenstaaten“ verkaufen, mit denen unliebsame Regimes schnell und ohne eigene Verluste beseitigt wurden

zur „Weltunordnung“

Erst die langen und letztlich verlorenen Guerillakriege im Irak und Afghanistan störten dieses Bild und brachten die Kapitalist*innen vieler „westlicher“ Länder dazu, an ihrer „Befreiungsmission“ zu zweifeln. In Europa besannen sich vor allem die EU-Führungsmächte Deutschland und Frankreich auf ihre eigenen Interessen und nahmen – auch unter dem Eindruck von Massenprotesten der Bevölkerung – nicht am Irak-Krieg teil.

In den USA stärkten die Niederlagen den Flügel des Kapitals, der militärische Interventionen für Geldverschwendung hält und mit dem Slogan „America First“ die eigenen ökonomischen Interessen priorisiert. Auf politischer Ebene entsprach das einer Verschiebung von liberal-konservativen zu rechtspopulistischen Positionen. In den 2010ern wurden diese Kräfte zur Mehrheit in der Republikanischen Partei und konnten mit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten die Regierungsmacht übernehmen. Trump erhöhte zwar die Rüstungsausgaben, setzte im Konkurrenzkampf gegen das erstarkte China aber vor allem auf wirtschaftliche Entkopplung durch Strafzölle und Sanktionen und bezeichnete die NATO als „überholt“.

Die Idee einer EU-Armee zur Durchsetzung europäischer Interessen unabhängig von den USA wurde verstärkt diskutiert, scheiterte letztlich aber an den unterschiedlichen Bedürfnissen der Kapitalist*innen in den verschiedenen EU-Ländern, vor allem in Deutschland und Frankreich. Frankreich, dessen Stromerzeugung auf Atomkraft basiert, braucht Truppen, um in der Sahara und der Sahelzone den Nachschub an Uran zu sichern, das deutsche Kapital hat bei solchen Interventionen nichts zu gewinnen. Wenn den französischen AKW das Uran ausginge, würde das für deutsche Stromkonzerne Extraprofite bedeuten.

Kein Frieden mit dem Kapitalismus

Mit dem Wahlsieg Joe Bidens und dem Ukraine-Krieg sind solche Differenzen innerhalb des westlichen Blocks in den Hintergrund getreten, aber nicht aufgehoben. Russland hat als innerhalb Europas Krieg führender äußerer Feind den Zusammenhalt der NATO und der EU vorerst gestärkt.  Ohne solchen Druck von außen  werden die Zerfallstendenzen jedoch wieder zunehmen und werden  bereits jetzt wieder sichtbar, da der Krieg in der Ukraine länger dauert. Der Wahlsieg der postfaschistischen Rechten in Italien, der Konflikt zwischen der Türkei und Griechenland um Gasvorkommen im Mittelmeer und eine mögliche Rückkehr Trumps oder einer*s seiner Anhänger*innen bei der nächsten US-Präsidentschaftswahl sind nur einige destabilisierende Faktoren.

Liberale halten Kriege zwischen bürgerlich-demokratischen Staaten für unmöglich – aber in einer Welt, in der durch Klimawandel und zunehmende Ressourcenknappheit die Konkurrenz zwischen Konzernen und ihren Staaten zunimmt, ist das nicht mehr so sicher. Nachdem sozialdemokratische und liberale Kräfte durch Jahrzehnte des Neoliberalismus und der damit verbundenen Verschlechterung der Lebensbedingungen diskreditiert sind, setzen sich in immer mehr Ländern rechte Parteien durch, die einen „nationalen Zusammenhalt“ gegen “Bedrohungen” von außen propagieren. Dass in einem Staat mehr oder weniger freie Wahlen stattfinden, bedeutet nicht, dass er keinen Krieg führt. Mitunter wird sogar Krieg geführt, weil die Regierung sich davon bessere Chancen bei der nächsten Wahl erhofft – Beispiele dafür gab es in Israel und der Türkei.

In der neokolonialen Welt führen imperialistische Mächte ohnehin Kriege, wenn sie ihre Interessen vor Ort gefährdet sehen – dabei haben sich die liberalen Demokratien in den letzten Jahrzehnten sogar besonders hervorgetan.

Die Herrschenden des „Westens“ und ihre Werte werden der Welt keinen dauerhaften Frieden bringen. Dafür müsste die Herrschaft der Kapitalist*innen mit ihren konkurrierenden Interessen gestürzt und weltweit eine sozialistische Gesellschaft errichtet werden, in der Ressourcen solidarisch verteilt und globale Probleme gemeinsam gelöst werden können.

Foto: Von Michael Brandtner – Eigenes Werk, CC BY 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=109424344