NATO: Verteidiger der Demokratie?

Das Militärbündnis um die USA wird seit dem Einmarsch Russlands in der Ukraine verstärkt als rein defensives Bündnis und als Garant für Demokratie und Frieden dargestellt. Die von der NATO und ihren Mitgliedern in den letzten Jahren geführten Kriege widersprechen diesem Eindruck.

Nach den Anschlägen vom 11. September erklärte US-Präsident George W. Bush den weltweiten „Krieg gegen den Terror“. Er nutzte die Empörung über die Anschläge aus, um militärisch Stärke zu zeigen, die seit der Niederlage in Vietnam in den USA verbreitete Ablehnung gegen größere Kriege zu überwinden und so mehr Handlungsmöglichkeiten zur Verteidigung imperialistischer Interessen zu bekommen.

Afghanistan 2001-2021

Erstes Ziel wurde Afghanistan, wo die Taliban, die in den 1980ern noch mit Unterstützung der USA gegen die Regierung und sowjetische Truppen gekämpft hatten, mittlerweile an die Macht gekommen waren und die Führung der islamistischen Terrororganisation al-Qaida beherbergten. Die NATO-Mitglieder und einige weitere Staaten vertrieben die Taliban binnen wenigen Wochen aus den afghanischen Städten. In den folgenden zwanzig Jahren führten eine korrupte Regierung, diverse Milizen unter der Führung korrupter Warlords und die NATO-Truppen einen blutigen Bürgerkrieg gegen die Taliban. Dabei kam es auch zu Angriffen auf die Zivilbevölkerung, so veranlassten deutsche Truppen 2009 in Kunduz einen Luftangriff auf zwei Tanklastwagen, bei dem 91 Zivilist*innen getötet wurden. Der aussichtslose Krieg wurde von den USA und ihren Verbündeten bis 2021 fortgesetzt. Insgesamt starben etwa 70.000 afghanische Soldaten auf der Seite der NATO, über 50.000 auf der Seite der Taliban, jeweils über 3.000 NATO-Soldat*innen und Söldner*innen und 46.000 Zivilist*innen.

Sobald die Besatzungstruppen abgezogen waren, übernahmen die Taliban die Macht und errichteten erneut ihre brutale reaktionäre Diktatur – anders als vor 2001 jetzt als unangefochtene, einzige Regierungsmacht im ganzen Land. Bei ihrem Abzug ließen die NATO-Armeen viele Menschen zurück, die für sie gearbeitet hatten und der Rache der Taliban ausgeliefert waren.

Irak 2003-2011

Nächstes Ziel des „Kriegs gegen den Terror“ wurde der Irak. Anders als in Afghanistan ging es hier auch um die Kontrolle über Ressourcen, im Irak befinden sich die fünftgrößten Ölreserven weltweit. 2002 erklärte Bush unter fadenscheinigen Vorwänden, den irakischen Diktator Saddam Hussein militärisch beseitigen zu wollen.  Gegen den drohenden Krieg entstand die größte internationale Friedensbewegung aller Zeiten. Jeweils zwei Millionen Menschen demonstrierten 2003 in London und Rom, in allen europäischen Ländern fanden Massenproteste statt. Teils unter dem Druck der Bevölkerung, teils aus eigenen strategischen Interessen verweigerten die Regierungen vieler  NATO-Mitgliedsländer die Beteiligung am Krieg. Stattdessen beteiligten sich  unter anderem einige Staaten der neokolonialen Welt, die im Gegenzug für US-Entwicklungshilfe Truppen stellen mussten.

Bei der Invasion im März 2003 starben etwa 30.000 irakische Soldat*innen, während der Besatzung und dem auf die Zerschlagung des irakischen Staates folgenden Kampf verschiedener Milizen gegen die Besatzungstruppen, aber auch gegeneinander, kamen mindestens 90.000 Zivilist*innen ums Leben. Wie in Afghanistan wurde im Irak ein formal demokratischer Staat gegründet, dessen wechselnde Regierungen aber nicht in der Lage waren, das Land unter ihre Kontrolle zu bringen. Nach dem Abzug der US-Truppen 2011 ging der Bürgerkrieg weiter. Der IS errichtete eine Terrorherrschaft im Nordwesten des Irak und dem Osten Syriens. 2014 kehrten US- und NATO-Truppen auf Bitten der irakischen Regierung zurück, um den IS zu bekämpfen. Nachdem die US-Truppen einen iranischen Vertreter während eines Staatsbesuchs in Bagdad getötet hatten, forderte das irakische Parlament Anfang 2020 den Abzug der US-Truppen, der  Ende 2021 abgeschlossen wurde.

Syrien seit 2011

Nachdem 2011 der Aufstand der syrischen Bevölkerung gegen das Assad-Regime in einen Bürgerkrieg zwischen dem Regime und überwiegend islamistischen Milizen um die „Freie Syrische Armee“ und die „Al-Nusra-Front“ übergegangen war, griffen auf beiden Seiten imperialistische Mächte ein. Die USA und andere NATO-Mitglieder begannen, die Milizen zu unterstützen, während Russland für Assad intervenierte. Im zu Syrien gehörenden Teil Kurdistans (Rojava) bildete sich ein faktisch unabhängiger Staat unter Führung der PYD und ihrer Milizen YPG und YPJ, die die kurdische Bevölkerung gegen den erstarkenden IS und andere islamistische Milizen verteidigte. Im Kampf gegen den IS verbündeten sich YPG und YPJ mit den USA, während das NATO-Mitglied Türkei aus Angst vor der Entstehung eines kurdischen Staates erst dem IS Angriffe von türkischem Gebiet aus ermöglichte und dann Rojava selbst militärisch angriff und teilweise besetzte. Die USA ließen Erdoğans Regime gewähren. Parallel zum Stellvertreterkrieg gegen Russland stehen NATO-Mitglieder also auf verschiedenen Seiten, die Türkei hat mit der „Syrischen Übergangsregierung“ im Norden des Landes eine Art Vasallenstaat errichtet, der die kurdische Bevölkerung unterdrückt.

Die NATO ist ein Werkzeug zur Durchsetzung der imperialistischen Interessen der USA und kann auch anderen Mitgliedern, wie der Türkei, als Rückendeckung für Angriffskriege dienen. In den letzten Jahren sind ihre Versuche gescheitert, in neokolonialen Ländern stabile und fügsame Regierungen zu installieren. Statt dessen wurden Staaten zerschlagen und Bürgerkriege ausgelöst bzw. verlängert – aus imperialistischer Sicht ist das immer noch besser, als ein Land dem konkurrierenden imperialistischen Block um China zu überlassen, das damit verbundene Leid für die Bevölkerung wird hingenommen.