Der Anfang vom Ende des Stalinismus in Polen – Zum 40. Jahrestag der Verhängung des Kriegsrechts

Im Sommer 1980 begann von der Gdańsker (Danziger) Lenin-Werft ausgehend eine Welle politischer Streiks, aus der die unabhängige Gewerkschaft Solidarność als Massenorganisation hervorging. Die Organisation wuchs schnell und wurde von der herrschenden Bürokratie im November des Jahres zähneknirschend anerkannt. Das war etwas völlig Neues in einem stalinistischen Regime, das sonst keine Macht neben sich duldet. Allerdings versuchte die Bürokratie bald schon, die neue Organisation zu zerschlagen. Am 13. 12. 1981 verhängte der Armeegeneral und Parteichef Jaruzelski das Kriegsrecht. Was das Regime retten sollte, erwies sich schon bald als erster politischer Sargnagel.

von Marcus Hesse, Aachen

Für die bürgerliche Geschichtsschreibung und die Mythenbildung des heutigen kapitalistischen Polen ist der Fall klar: Solidarność schlug den “Kommunismus” und machte den Weg frei für die Wiederherstellung des Kapitalismus. Auch viele Linke – längst nicht nur eingefleischte Stalinist*innen – finden eine kämpferische Arbeiter*innenorganisation suspekt, die die Unterstützung der Katholischen Kirche, des Papstes, Ronald Reagans und Margaret Thatchers erhielt. Tatsächlich stellten sich diese Kräfte und Figuren hinter die Bewegung und versuchten sie in ihrem Sinne zu beeinflussen. Doch Solidarność war zu Beginn keinesfalls an der Wiederherstellung des Kapitalismus interessiert. Die 21 Forderungen des Streikkomitees vom August 1980 artikulierten die Klasseninteressen der Arbeiter*innen, forderten demokratische Rechte, das Streikrecht, Lohnerhöhungen, Preissenkungen, die 5-Tage-Woche, verbesserte Arbeitszeiten und eine bessere Lebensmittelversorgung. Erst sehr viel später sollte sich Soldarnosc stark nach rechts entwickeln und unter ihrem Führer Lech Wałęsa eine Stütze der Wiederherstellung des Kapitalismus 1989-90 werden. Im heutigen kapitalistischen Polen ist Solidarność eine normale Gewerkschaft. Auf dem Höhepunkt ihrer Stärke – in den Streiks und Protesten 1980 und 1981 und den Jahren danach – wurde die Organisation zum Kristallisationspunkt für Arbeiter*innen, die unabhängig von der stalinistischen Bürokratie und den Staatsgewerkschaften für ihre Interessen kämpfen wollten, Die politische Entwicklung war offen und es gab sehr kontroverse Debatten innerhalb von Solidarność – dabei rangen kompromisslerische und radikale Tendenzen ebenso miteinander wie nationalistisch-rechte  und linke Tendenzen, die für eine Verbindung von Sozialismus und Demokratie standen.

Rolle des Stalinismus in Polen

Der Stalinismus war in Polen – wie auch in anderen Ländern Osteuropas – bei der Arbeiter*innenklasse nicht sehr populär. Zwar fand die Abschaffung von Kapitalismus und Großgrundbesitz breite Zustimmung, aber die Unterdrückung jeder unabhängigen Organisierung der Arbeiter*innenklasse und politische Repressionen wirkten schwer. Hinzu kam, dass die kommunistische Bewegung in Polen immer wieder unter stalinistischen “Säuberungen” litt und damit kaum eine Verankerung in der polnischen Arbeiter*innenklasse haben konnte. Die erste KP Polens wurde schon Mitte der 1920er von Stalin aufgelöst, weil sie zu den Ideen Trotzkis und Rosa Luxemburgs stand, und bürokratisch von oben neu organisiert. Die nächste Generation von Kommunist*innen fiel Mitte der 1930er im sowjetischen Exil den blutigen Säuberungen zum Opfer. Übrig blieb eine Partei von Marionetten Stalins ohne Verankerung in der polnischen Arbeiter*innenklasse. Im Zuge des Widerstands gegen die brutale Besatzung Polens durch die Nazis konnten Teile der kommunistischen Partei, die im Land geblieben waren, eine gewisse Popularität erlangen. Doch war ihr Einfluss im Widerstand nicht ansatzweise so groß wie der der bürgerlich-nationalistischen “Heimatarmee”. Der Pakt mit Hitler 1939-41 und die Nichtunterstützung der heranrückenden Roten Armee für den Warschauer Aufstand (Stalin sah ihrer Niederlage zu) trug auch nicht gerade zum Ansehen der Kommunist*innen bei. Jedoch sollten Parteiführer*innen, die im Widerstandskampf waren, wie der spätere Regierungschef Gomułka als “Heimatkommunist*innen” und “Reformer*innen” über etwas größere Popularität verfügen als die sehr moskautreuen Stalinist*innen um Leute wie Bierut, die aus dem sowjetischen Exil kamen. Doch auch diese “Reformer*innen” standen nicht für Arbeiter*innendemokratie, sondern nur für Zugeständnisse im Rahmen der bürokratischen Herrschaftsstrukturen. Vielfach setzen sie auf polnischen Nationalismus.

Die Planwirtschaft brachte kostenlose Bildung und ein kostenloses Gesundheitswesen. Vielen Arbeiter*innen ging es besser als unterm Kapitalismus. Aber der Lebensstandard war dennoch gering. Es gab Versorgungskrisen. Die stalinistische Parteiführung der herrschenden “Vereinigten Arbeiter*innenpartei Polens” finanzierte die Industrialisierung des Landes auf dem Rücken der Beschäftigten, durch hohe Arbeitsnormen und Konsumverzicht. Das schuf politischen Unmut, der sich immer wieder entladen sollte. Eine Besonderheit des polnischen Stalinismus war, dass er auf die vollständige Kollektivierung der Landwirtschaft verzichtete. Das minimierte Konflikte mit der bäuerlichen Bevölkerung, die die Mehrheit der polnischen Bevölkerung bildete.  Zugleich aber gab es den Privatbäuer*innen viel ökonomische Macht und die Möglichkeit, ihre Produkte teuer zu verkaufen. Bei der städtischen Arbeiter*innenklasse führte das zu Unmut, da die Lebensmittelpreise schwankten und nicht selten stiegen. 

Der Stalinismus machte nach einigen Jahren der harten Repression einen Kompromiss mit der erzkonservativen Katholischen Kirche im Land. Die polnischen Massen waren in ihrer übergroßen Mehrheit stark religiös und definierten den Katholizismus als Teil ihrer Nationalkultur, gerade auch vor dem Hintergrund langer Fremdherrschaft durch Russland und Preußen/Deutschland. Bei Solidarność-Demos und Streiks wurden Marienbilder und Papstporträts oft neben rot-weißen Fahnen gezeigt. Anders aber als er  glauben machen will, war der Katholische Klerus keinesfalls an einem radikalen Umsturz interessiert. Lebte die Kirche doch gut mit ihrem Kompromiss mit der stalinistischen Bürokratie. 

Kämpferische Tradition der polnischen Arbeiter*innenklasse

Im Juni 1956 weiteten sich Streiks von Stahlarbeiter*innen in Poznan (Posen) zu einem Aufstand von 100.000 Menschen aus, bei dem es um Forderungen nach besseren Lebensbedingungen und niedrigere Arbeitsnormen ging. Die polnische Armee schlug die Proteste blutig nieder. 57 Tote und 600 Verletzte gab es. Trotz der brutalen Repression musste die Parteiführung um den Reformer Gomułka für einige Zeit Arbeiter*innenräte dulden. Der Aufstand inspirierte in den Folgemonaten die ungarische Arbeiter*innenklasse. Auch Ende der 1950er kam es zu Streiks und Revolten. 1968 kam es zu Demonstrationen der Studierenden, vor allem in Warschau. Der “Reformer” und “Heimatkomunist” Gomułka antwortete mit Repression und einer antisemitischen Hetzkampagne gegen jüdische Führer*innen der Studierendenproteste. In den 1960er und 1970er Jahren dominierten linke, pro-sozialistische Ideen die Opposition in Polen. Intellektuelle wie Jacek Kuroń, der später politischer Berater von Solidarność werden sollte und in den 1980ern sukzessive nach rechts gehen sollte, beriefen sich auf die Ideen des Marxismus und die Proteste der 68er im Westen. 1970 kam es zu Streiks und Massenprotesten an der polnischen Ostseeküste, die von der Lenin-Werft in Gdańsk (Danzig) ausgingen.

Die Gomułka-Regierung versuchte die Kosten einer Rezession auf die Arbeiter*innen abzuwälzen. 

Nachdem das Politbüro kurz vor Weihnachten eine drastische Erhöhung der Verbraucher*innenpreise um 38% insbesondere für Fleisch verfügt hatte und die Abschaffung des 13. Monatsgehalts verfügte, traten die Arbeiter*innen in den Streik. Die Polizei (Miliz) und die Armeesoldat*innen schossen bei einer Demonstration auf die unbewaffnete Menge. 45 Tote forderte das Massaker offiziell. Viele Streikende wanderten in die Gefängnisse. Gomułka musste zurücktreten. Gierek folgte ihm. Doch die Probleme blieben. In den 1970ern stieg Polens Staatsverschuldung. 60% der Exporterlöse wanderte in die Begleichung von Auslandsschulden bei westlichen Banken. Die politische Entfremdung zwischend der Arbeiter*innenklasse und der stalinistischen Staatspartei vertiefte sich. Die polnischen Arbeiter*innen und Studierenden hatten mehrfach ihre Kampfbereitschaft gezeigt. Aber da ihnen eine politische Organisation fehlte, konnten politische Streiks und Aufstände immer schnell niedergeschlagen werden. 

Solidarność betritt das Feld

Nur zehn Jahre nach den Streiks und Protesten von 1970 wurde erneut die Gdańsker Lenin-Werft zum Ausgangspunkt eines politischen Flächenbrands. Zentren der Streiks ab August waren Gdańsk, Lodz, die Stahlarbeiter*innenstadt Now Huta und Warschau. Wieder einmal waren Preiserhöhungen ein Auslöser der Streiks. In der Lenin-Werft verärgerte die Belegschaft besonders die Entlassung von Anna  Walentynowicz, einer Streikführerin und Veteranin des Streiks von 1970. Die im September 1980 gegründete neue Gewerkschaft Solidarność breitete sich auch auf dem Land aus. Sie wurde zur landesweiten Massenorganisation und mit in kürzester Zeit mehreren Hunderttausend Mitgliedern. Prominentes Gesicht und Führungsfigur wurde der gelernte Elektriker und Werftarbeiter Lech Wałęsa. Er hatte 1976 an einem Streik teilgenommen, war dafür entlassen worden. Im Sommer 1980 erreichten Streikende, dass er wieder eingestellt wurde. Wałęsa war charismatisch, aber verkaufte sich als “unpolitischer” einfacher Mann. Als glühender Katholik und polnischer Patriot  sorgte Wałęsa  für eine Rechtsentwicklung von Solidarność. Der sich damals als oppositioneller Marxist verstehende Jacek Kuroń, der in den 1970ern sogar zeitweise mit der IV. Internationale Ernest Mandels in Kontakt stand und Solidarność politisch beriet, stand nicht für eine andere Linie. 

Der Streik im August war erfolgreich. Am 31.8. musste die Regierung aufgrund des Drucks der Massen im Gdańsker Abkommen den Forderungen des 21 Punkte-Programms zustimmen.

Sowohl Wałęsa als auch Kuroń setzten in den folgenden Monaten auf einen Dialog mit der stalinistischen Führung. Im November 1980 musste sie Solidarność offiziell als unabhängige Gewerkschaft anerkennen. Zugleich versicherten Wałęsa und Kuroń, die Macht im Staat den Stalinist*innen zu überlassen. 

Widersprüche und falsche Freunde

Während polnischer Patriotismus und katholischer Glaube eine echte Massenbasis in der Bewegung hatten, taten sich politische Widersprüche auf. Während radikale Teile der Basis und Marxist*innen für eine politische Revolution kämpften und die Errichtung einer auf Räte und Komitees gebildeten Demokratie der Arbeiter*innen (“Demokratie der Produzent*innen”) anstrebten, bremste die Führung um Wałęsa die Bewegung ab und beschränkten sie auf die Anerkennung der Solidarność als unabhängige Gewerkschaft. Die sich auftuenden Widersprüche wurden im September 1981 auf dem ersten und einzigen landesweiten Kongress diskutiert. Wałęsas Führung konnte sich durchsetzen. Dazu trug nicht zuletzt die Rolle der polnischen Kirchenführung und des Papstes bei, die zwar stramm reaktionär und antikommunistisch waren, aber keinesfalls für eine politische Revolution und der Errichtung einer Arbeiter*innendemokratie waren. Sie traten mäßigend auf. 

Weil sich die Streiks gegen eine “kommunistische” Regierung richteten, gehörten auch “Kalte Krieger*innen” wie Ronald Reagan und Margaret Thatcher zu denen, die sich öffentlich mit Solidarność in Worten solidarisierten. Während Thatcher gerade in Großbritannien dabei war, die Gewerkschaften zu zerschlagen, lobte sie Wałęsa. 

Was wirklich dran war an Thatchers “Solidarität” mit den polnischen Arbeiter*innen, sollte sie 1984-85 zeigen, nachdem General Jaruzelski schon drei Jahre lang das Kriegsrecht ausgerufen hatte: Sie ließ mittels der polnischen stalinistischen Regierung Kohle aus Polen importieren, um die Ausfälle durch den britischen Bergarbeiter*innenstreik auszugleichen und die Minenarbeiter*innen-Gewerkschaft NUM zu besiegen. Die Machthaber*innen Thatcher und Jaruzelski, die beide gegen die Arbeiter*innenklasse ihrer Länder standen, machten hier gemeinsame Sache. 

Vom Kriegsrecht zur kapitalistischen Konterrevolution

Obwohl Wałęsa und die Führung von Solidarność deutlich gemacht hatten, dass sie eben keinen politischen Umsturz wollen und mit dem Erreichten zufrieden sind, waren die stalinistischen Machthabenden entschlossen, die Zugeständnisse nichtig zu machen und Solidarność zu schlagen. 

Mit der Ausrufung des Kriegsrechts am 13. 12.1981 wurde Solidarność in den Untergrund gedrängt. 1982 wurde die Gewerkschaft ganz verboten. Doch diese Repression erwies sich als Fehlschlag. 1983 und 1985 reagierte die Untergrund -Solidarność mit Streiks und Massenprotesten. Ab 1988 weitete sich die Streikbewegung aus. Die Auslandsverschuldung Polens nahm unter General Jaruzelski immer schlimmere Züge an, die Versorgungskrise spitze sich zu. Inzwischen versuchte auch die stalinistische Führung mit Reformen und einer Öffnung zur “Marktwirtschaft”, ihre Privilegien zu retten. Es kam die “Wende” von 1989. Wałęsa und die Solidarność-Spitze waren inzwischen komplett zur Orientierung auf den Kapitalismus übergegangen. An “Runden Tischen” handelten sie miteinander den Übergang zum Kapitalismus aus. Bei den ersten freien Parlamentswahlen 1989 trat Solidarność als Partei an und gelangte mit Wałęsa als Staatspräsidenten von 1990 bis 1995 an die Macht. Damit begann eine Welle der Privatisierung und des Arbeitsplatzabbaus. Die einstige stalinistische Staatspartei wurde zur “postkommunistischen” Sozialdemokratie, die für Kapitalismus, Privatisierungen und EU eintrat. Schließlich sollte der ehemalige Arbeiter*innen- und Streikführer Wałęsa die komplette Wiedererrichtung des Kapitalismus mit verheerender Massenarbeitslosigkeit durchdrücken. In den 1990ern sollte sich Solidarność weitgehend politisch diskreditieren. Die 21 Punkte-Forderungen von 1980 wirken da wie ein Dokument aus einer fernen Epoche. Die Lenin-Werft, die zum Ausgangspunkt der Streiks und Proteste wurde, wurde privatisiert. Ihre Belegschaft wurde von 15.760 Beschäftigten 1978 auf unter 700 im Jahr 2014 zusammengeschrumpft.

Da die politische Revolution 1980/81 ausblieb, wurde der Weg geebnet für die soziale Konterrevolution und die Wiedererrichtung des Kapitalismus. Bei dem Prozess arbeiteten ehemalige stalinistische Bürokrat*innen und rechte Solidarność-Führer*innen Hand in Hand. Die Arbeiter*innen Polens leiden bis heute unter den Folgen.