Jahrestag: Achidi Johns Tod in Polizeigewahrsam oder: Brechmittel-Olaf Scholz

Vor 20 Jahren, am 12.12.2001 um 14.23 Uhr starb Michael Paul Nwabuisi, besser bekannt als Achidi John, auf der Intensivstation des renommierten Universitätsklinikums Hamburg Eppendorf. Die Ärzte stellten die lebenserhaltenden Apparate am Bett des 19-jährigen Nigerianers ab, nachdem der Hirntod festgestellt worden war. Damit endete das Leben des Teenagers anderthalb Jahre nach seiner Einreise nach Deutschland.

Von Ianka Pigors, Hamburg

Wer war Michael und wie landete er in Hamburg?

Über Michaels Leben ist wenig bekannt.

Wir wissen nur, dass er Anfang der 1980er Jahre in Nigeria zur Welt kam.

Der als Biafra-Krieg bekannte Bürgerkrieg, indem die Volksgruppe der Igbo, zu der auch Michaels Familie gehörte, erfolglos versucht hatte, nationale Unabhängigkeit zu erkämpfen, lag gerade zehn Jahre zurück. Der Krieg hatte hunderttausende zivile Opfer gekostet und die Menschen in Biafra kämpften noch immer mit den Folgen der Zerstörungen.

Im November 1993, Michael war damals in der Grundschule, putschte sich der Militärführer Sani Abacha an die Macht. Diese Militärdiktatur endete erst 1999. Mit Gewalt, staatliche Willkür, Armut und Perspektivlosigkeit überschattete sie die Jugend von Michaels Generation.

Wie viele andere junge Leute war Michael offenbar nicht bereit, sich mit einer Zukunft in Armut und Hoffnungslosigkeit abzufinden. Er wollte sein Glück in Europa suchen.

Es ist schwer, sich vorzustellen, welche Träume und Erwartungen der Teenager hatte, als er in Deutschland ankam. Welche Illusionen er auch immer hatte, die ersten Gespräche mit Landsleuten müssen ihm schnell vor Augen geführt haben, dass es für jemanden wie ihn keinen „geraden Weg“ zu einem Leben in diesem Land gibt: Armut und Perspektivlosigkeit sind nach deutschem Recht nun einmal keine anerkannten Fluchtursachen.

Michael tat, was alle Menschen in seiner Situation tun müssen: Er stellte einen Asylantrag.

Bei seiner Anhörung vor dem Amt für Migration und Flüchtlinge hatte er offensichtlich schon genügend Erfahrungsberichte von anderen Betroffenen gehört, um zu wissen, dass er sich, wenn er die Wahrheit sagen würde, schnell in einem Flugzeug nach Lagos wiederfände. Das war, nach allem, was er durchgestanden hatte, sicher keine Option.

Wahrscheinlich hatte er von Kolleg*innen im Lager gehört, dass eine Abschiebung nicht möglich ist, wenn die Ausländerbehörde keinen Pass in den Händen hat und nicht weiß, in welches Land der Betroffene abgeschoben werden kann.

Bei der Antragstellung gab der Teenager deshalb einen falschen Namen und eine falsche Nationalität an. Er behauptete, er sei der kamerunische Staatsangehörige Achidi John. Zu seinen Asylgründen befragt, behauptete er, er habe sein Heimatland verlassen müssen, weil er befürchte, dort heidnischen Göttern geopfert zu werden. Diese an den Haaren herbeigezogene Geschichte taucht in verschiedenen Variationen in vielen Asylakten aus den letzten Jahrzehnten des 20sten Jahrhunderts auf.

Glaubte er, dass die deutschen Verwaltungsmenschen ihm seine Gruselgeschichte aus dem „wilden Afrika“ tatsächlich abkaufen würden? Wiederholte er nur, was ihm andere vorgegeben hatten, so wie man ein Gebet oder ein Mantra nachplappert, ohne sich über die Bedeutung der Worte Gedanken zu machen? Oder bereitete es ihm ein zynisches Vergnügen, den Beamten, dessen klarer Auftrag es war, ihm seinen Wunsch, in Deutschland zu leben, zu versagen, mit dem offensichtlich von rassistischen und kolonialen Stereotypen geprägten Bild der „menschenopfernden Wilden“ zu provozieren?

Im Ergebnis spielt es keine Rolle. Wenig überraschend wurde Michaels Asylantrag im Januar 2001 abgelehnt. Nun war sein Aufenthalt nur noch „geduldet“, weil den Behörden die Papiere für eine Abschiebung fehlten. Nach den Vorschriften für „Geduldete“ hätte sich Michael nun nur noch im Landkreis Nordhausen im thüringischen Ostharz in der ihm zugewiesenen Asylbewerberunterkunft aufhalten dürfen.

Letzter Ausweg: Drogenhandel

Das Gesetz sah und sieht vor, dass Menschen in Michaels Situation untätig in einem Asylheim sitzen und auf ihre Abschiebung warten müssen. Eine Arbeitserlaubnis zu bekommen und einen Job zu finden, war so gut wie aussichtslos. Aber Michael hatte wahrscheinlich viel Geld investiert und Gefahren auf sich genommen, um nach Europa zu kommen. Ziemlich sicher hatte er Schulden und wahrscheinlich warteten zu Hause Angehörige darauf, dass er im „goldenen Westen“ Arbeit finden und sie finanziell unterstützen würde.

Der Teenager wollte, musste Geld verdienen und eine legale Möglichkeit dazu bot sich nicht. Stattdessen gibt und gab es für geduldete und illegalisierte Menschen andere, nicht legale Angebote: Schwarzarbeit, Prostitution und Drogenhandel auf der Straße. Michael entschied sich für Letzteres.

Menschen, die diese Form des Drogenhandels betreiben, befinden sich am untersten Ende der Nahrungskette: Sie übernehmen Kleinstmengen von Drogen, meist Kokain, Crack oder Grass von Zwischenhändlern und verkaufen sie auf eigene Rechnung. Sie, und nicht ihre Hintermänner, tragen das finanzielle Risiko, wenn sie Stoff „verlieren“, er ihnen also geklaut wird oder sie ihn wegen einer Polizeikontrolle wegschmeißen müssen. Der Straßenverkauf macht nur einen geringen Anteil des Drogenhandel aus, aber er birgt das größte Risiko, erwischt zu werden.

Die Kund*innen werden, besonders wenn sie gegen ihre Dealer*innen aussagen, fast nie strafrechtlich verfolgt – die Kleindealer*innen hingegen müssen, vor allem im Wiederholungsfall, mit erheblichen Gefängnisstrafen rechnen – obwohl der Gewinn pro Verkauf ziemlich gering ausfällt.

Olaf Scholz und tödliche Brechmittel

Michael kam in dem Jahr nach Hamburg, in dem Olaf Scholz Innensenator für den damaligen rot-grünen Senat wurde. Scholz übernahm den Posten am 30.5.2001, knapp 4 Monate vor der Bürgerschaftswahl. Damals zeichnete sich ab, dass der ultrarechte Richter Ronald Schill mit seinem Programm für „Recht und Ordnung“ mit der „Partei Rechtsstaatlicher Offensive“ Stimmen ziehen und damit die Möglichkeit schaffen würde, das erste Mal seit 1957 die Herrschaft der SPD durch eine CDU geführte Koalition abzulösen. Olaf Scholz entschied sich bei einem erfolglosen Versuch, den „Richter Gnadenlos“ rechts zu überholen dafür, mit einem Hamburger „Krieg gegen die Drogen“ am rechten Rand auf Stimmenfang zu gehen. – Unnötig zu sagen, dass diese Strategie nicht dazu führte, die Machtübernahme durch eine CDU-geführte Koalition mit prominenter Beteiligung des rechtsextremn Richters Schill zu verhindern.

Für Michael bedeutete das Einknicken der SPD jedoch das Todesurteil.

Ein Teil von Scholz‘ „Kriegs gegen die Drogen“ war nämlich die Einführung zwangsweiser Brechmitteleinsätze gegen Menschen, die des Drogenhandels verdächtigt wurden.

Kokain und Crack werden im Straßenverkauf in sogenannten „Bubbles“ gehandelt. Dabei werden Kleinstmengen der Betäubungsmittel häufig in Plastikfolie verschweißt im Mund getragen. Bei einer Polizeikontrolle schlucken die Dealer*innen die Kügelchen herunter, damit sie nicht gefunden werden. Die Befürworter*innen von Brechmitteleinsätzen argumentierten, man müsse die Verdächtigen zwingen, diese „Bubbles“ zu erbrechen, um sie als Beweismittel sicherzustellen.

Die Maßnahme war unter Ärzt*innen und Jurist*innen bereits lange vor ihrer Einführung in Hamburg umstritten. Es war bekannt, dass sie bereits für gesunde Menschen lebensgefährlich sein kann.

Einige Brechmittel können starke Bewusstseinstrübungen und Herz- und Ateminsuffizienz auslösen. Beim der Verabreichung über eine Magensonde oder durch das Erbrechen selbst kann der Vagus-Nerv gereizt werden, wodurch die Herzfrequenz und die Kontraktionskraft des Herzmuskels sinkt, so dass es zum Herzstillstand kommen kann. Eine falsch platzierte Sonde kann in der Lunge statt im Magen landen und dort schwere innere Verletzungen verursachen. Erbrochenes kann in die Lunge geraten und zum Ersticken führen. Diese Gefahren sind besonders groß, wenn sich der Patient gegen das Einführen der Magensonde wehrt. Deshalb vermuteten Kritiker*innen, dass Abschreckung und nicht Beweissicherung Hauptmotiv für solche Einsätze war.

Vor Scholz Amtsantritt hatten sowohl die SPD, als auch ihr grüner Koalitionspartner Brechmitteleinsätze strikt abgelehnt. Unter Scholz kam es zu einer 180 Grad Wende.

Die von ihm eingeführte Regelung blieb auch nach der an eine aus CDU, „Rechtsstaatlicher Offensive“ (also „Schill-Partei“) und FDP bestehenden Koalition verlorenen Wahl in Kraft und kostete Michael das Leben.

Michaels letzte Stunden

Am 8.12.2001 wurde Michael nach Aussage von Zivilpolizisten bei einem Drogendeal beobachtet. Die Polizisten gaben an, sie hätten „Schluckbewegungen“ bei ihm gesehen und vermuteten deshalb, er habe „Kokain-Bubbles“ im Körper. Der Teenager wurde zum Zwecke der Beweissicherung ins Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) gebracht. Die Staatsanwaltschaft ordnete einen Brechmitteleinsatz an. Es ist nicht sicher, ob Michael in einer Sprache, die er verstehen konnte, über die angeordnete Maßnahme informiert wurde.

Michael wehrte sich heftig gegen die Maßnahme. Er wurde von vier Polizisten zu Boden gedrückt. Dann versuchte eine Ärztin, ihm eine Magensonde zu legen. Erst beim dritten Versuch konnte die Sonde richtig platziert werden. Der Jugendliche, der vor der Festnahme Kokain konsumiert hatte, geriet in Todesangst. Er schrie: „I will die!“ (Ich werde sterben).

Das waren seine letzten Worte.

Unmittelbar nachdem ihm das Brechmittel verabreicht worden war, erbrach er eine Anzahl von Kokain-Kügelchen, dann kollabierte er.

Laut Ermittlungsbericht vergingen drei volle Minuten, bis die anwesende Ärztin den Herzstillstand feststellte und mit der Reanimation begann. Zu diesem Zeitpunkt war das Gehirn des Jugendlichen bereits irreparabel geschädigt, er fiel ins Koma. Michael starb vier Tage später auf der Intensivstation, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Die Obduktion ergab, dass er unter einem Herzfehler gelitten hatte.

Wäre Michael für den Besitz oder Verkauf der Betäubungsmittel, die er verschluckt hatte, vor Gericht gestellt worden, hätte das Jugendgericht „erzieherische Maßnahmen“, also z.B. Arbeitsauflagen oder Jugendarrest angeordnet. Statt dessen starb der Teenager bei der „Beweissicherung“.

Niemand will schuld sein

Im Juni 2002 stellte die Staatsanwaltschaft die Vorermittlungen gegen die Beteiligten Mediziner*innen und Polizist*innen ein. Sie bezeichnete den Tod des Jugendlichen als Unfall. Die Beteiligten hätten nicht ahnen können, dass eine Vorerkrankung vorgelegen habe. Niemand, der an Michaels Tod beteiligt war, musste eine strafrechtliche Verantwortung übernehmen.

Etwas mehr als drei Jahre später starb in Bremen am 27.12.2004 der sierra-leonische Staatsangehörige Laye-Alama Condé bei einem noch brutaleren Brechmitteleinsatz unter den Augen des aus einer großen Koalition unter dem SPD Bürgermeisters bestehenden Senats.

Mitte 2006 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Bundesrepublik Deutschland in einem anderen, ähnlichen Fall wegen Folter und menschenunwürdiger Behandlung an einem durch Brechmitteleinsatz des Drogenhandels überführten Landsmannes von Condé zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 10.000 Euro.

Seitdem wurden die Brechmitteleinsätze in Deutschland überwiegend eingestellt.

Der „Krieg gegen Drogen“ geht jedoch weiter.

In Hamburg werden große Teile der Innenstadt noch immer als „Gefahrengebiete“ definiert. Dort sind Kontrollen zur Bekämpfung der „offenen Drogenkriminalität“ an der Tagesordnung. In der Praxis bedeutet das, dass Schwarze Menschen weiter verdachtsunabhängig kontrolliert und rassistische kriminalisiert werden. – Während andernorts nachweislich ebenfalls gesundheitsschädliche Drogen wie Alkohol frei verkäuflich sind und über die Legalisierung anderer Drogen verhandelt wird.

Im Oktober dieses Jahres beantragte die Linksfraktion in der Hamburger Bürgerschaft, die Hansestadt solle Michaels Angehörigen eine Entschädigung zahlen und sich entschuldigen, die Verantwortung für seinen Tod übernehmen und einen Gedenkort einrichten. Der Antrag wurde mit den Stimmen aller anderer Fraktionen – einschließlich der der Grünen – abgelehnt.

Was wurde aus den Verantwortlichen?

Ronald Schill, Gründer der „law and order“ Partei „Rechtsstaatliche Offensive“ und zum Zeitpunkt von Michaels Tod Innensenator, war in zahlreiche Skandale verwickelt. Er verkrachte sich bald mit dem CDU-Bürgermeister von Beust und seiner eigenen Partei, die sich daraufhin spaltete. Nach einer Niederlage bei den Neuwahlen Anfang 2004 wanderte Schill nach Lateinamerika aus. Presseberichte seit 2008 bestätigten die Gerüchte, dass der ehemalige „Richter Gnadenlos“ selbst Kokain konsumiert. Er verschnupft heute seine Richterpension in Brasilien.

Olaf Scholz wurde 2011 Erster Bürgermeister in Hamburg. Er spielte zum Beispiel 2016 eine undurchsichtige Rolle im Cum-Ex-Skandal der Warburg Bank und trug die Verantwortung für exzessive Polizeigewalt während des G20-Gipfels 2017. Inzwischen ist er der neue Bundeskanzler.

Der Fall „Achidi John“ aka Michael Paul Nwabuisi zeigt, dass er bereit ist, auch bei genauer Kenntnis der Risiken aus machtpolitischen Erwägungen über Leichen zu gehen.

Wer sich von der neuen Regierung positive Impulse für Arbeiter*innen und Menschen in schwierigen Lebenslagen erwartet, sollte das im Hinterkopf behalten.