Klassenkampf statt Co-Management

Zur Geschichte und Gegenwart der Gewerkschaften

Gewerkschaften waren im 19. Jahrhundert die ersten Organisationen der aufkommenden Arbeiter*innenklasse. Sie erkämpften Verbesserungen der Arbeitsbedingungen im bis dahin ungezügelten Kapitalismus. Schnell wuchsen sie zu Massenorganisationen, aber ihre Begrenztheit in der Auseinandersetzung mit den Kapitalist*innen wurde auch deutlich. Somit war die Gründung von sozialistischen Arbeiter*innenparteien notwendig und der nächste logische Schritt.

Von Marc Treude, Aachen

Schon Karl Marx machte auf die Beschränktheit des rein ökonomischen Kampfes der Gewerkschaften aufmerksam: „Gewerkschaften (…) verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen (…) zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems.“ (aus „Lohn, Preis und Profit“).

Sobald die Gewerkschaften wuchsen, benötigten sie auch einen Apparat, der ihre Arbeit koordinierte, die Verhandlungen mit den Unternehmen führte sowie Versammlungen und Streiks organisierte. So entstand allmählich eine Bürokratie, die nicht mehr für die Bewegung, sondern von ihr lebte und arbeitete. Diese Bürokratie wurde schon im Kaiserreich zu einer sozialen Schicht, die mehr und mehr Privilegien anhäufte: gutes Gehalt, relativ sichere Arbeitsplätze und ein Ansehen, das erreichen sollte, mit den Kapitalist*innen „auf Augenhöhe“ zu verhandeln.

Diese Schicht der Bürokraten stützte sich nicht mehr auf die gesamte Arbeiter*innenklasse, sondern vor allem auf Funktionär*innen, Hauptamtliche und die am Besten bezahlten Schichten der Facharbeiter*innen – die sogenannte Arbeiteraristokratie. Mehr und mehr wurden Kompromisse mit den Kapitalist*innen das Ziel gewerkschaftlichen Handelns. Grund dafür war, dass die Schicht der Bürokratie ihre Privilegien in Gefahr sah, wenn man sich zu sehr mit dem Kapital anlegen würde. Das zeigte sich in der „Massenstreikdebatte“ in den 1900er Jahren, als Rosa Luxemburg für den Streik als politisches Kampfmittel eintrat und die Gewerkschaftsspitzen dies zurückwiesen. Die Bürokratie wurde so zur Basis der reformistischen Strömung innerhalb der organisierten Arbeiter*innenbewegung. Die Klasse selbst stand nun in gewissem Gegensatz zur konservativen Bürokratie, denn sie drängte in Kämpfen stets weiter als diese. Faule Kompromisse mussten nun als einzig erreichbare Ergebnisse verkauft werden.

Aufschwung nach dem Krieg

Als die zerstörte westdeutsche Wirtschaft nach dem 2. Weltkrieg auch durch US-amerikanische Hilfe (Marshallplan) wieder aufgebaut und in den Block der westlichen Kapitalist*innen unter Führung der USA integriert wurde, fielen auch für die Arbeiter*innen einige Brotkrumen von der Tischkante. Mit der Erfahrung der Spaltung der Arbeiter*innenbewegung in Sozialdemokrat*innen und Kommunist*innen sowie ihrer todbringenden Unterdrückung in den zwölf Jahren der Nazidiktatur erstarkten die Gewerkschaften. Die Arbeiter*innenklasse hatte das Bewusstsein, dass die Nazis durch das Kapital an die Macht gebracht wurden, um die Arbeiter*innenbewegung zu zerschlagen. Dies führte zu dem Schlachtruf: Nie wieder!

Es entstand eine kapitalismuskritische Richtung in den Gewerkschaften, die für die Vergesellschaftung der Industrie und der Konzerne eintrat. Gleichzeitig war mit dem Ende des zweiten Weltkriegs auch die Sowjetunion gestärkt worden, zahlreiche Länder Osteuropas wurden zu deformierten Arbeiter*innenstaaten, die nicht-kapitalistisch organisiert waren. Diese Staaten bildeten eine gewisse Konkurrenz zum Kapitalismus, wenn auch stalinistisch degeneriert únd ohne echte Demokratie. Aber diese Systemkonkurrenz saß in Westdeutschland sozusagen immer unsichtbar mit am Verhandlungstisch zwischen Gewerkschaften und Kapitalisten. Einer der größten Erfolge war der 114-tägige Kampf um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall 1956/1957. In den 1970er Jahren konnten in Tarifrunden teilweise sogar zweistellige Lohnsteigerungen erkämpft werden.

Kampf um die Ausrichtung

Marxist*innen haben von Beginn an die Rolle der Gewerkschaften im Kapitalismus beschrieben: Einerseits die konservative Rolle der Bürokratie und ihre Basis unter ehrenamtlichen Funktionär*innen in den Betrieben, andererseits der ständige Kampf um die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der gesamten Klasse.

Auch heute können wir sehen, wie die Führung des DGB und der Einzelgewerkschaften eine Rolle dabei spielt, die Aktivitäten der abhängig Beschäftigten kapitalismuskonform einzuhegen, und als Vermittler auftritt. Die Vorstände ließen sich auf die „konzertierte Aktion“ des Bundeskanzlers während der Pandemie ein, bei der zusammen mit den Arbeitgeberverbänden die Einmalzahlungen zum „Inflationsausgleich“ entwickelt wurden, die auch nach dem Anstieg der Energie- und Lebensmittelpreise in die Tarifverhandlungen hineingedrückt wurden.

So konnten tabellenwirksame Lohnforderungen begrenzt werden und die Führung der Gewerkschaften hatte ein Argument, die Tarifabschlüsse schönzureden. Tatsächlich konnten in einzelnen Branchen Reallohnverluste verhindert oder deutlich begrenzt werden, insgesamt allerdings hat die deutsche Arbeiter*innenklasse in den letzten Jahren Reallohnverluste hinnehmen müssen. Die Gewinne der Konzerne wurden auf dem Rücken der arbeitenden Klasse erhöht. Dies liegt auch an der immer weiter sinkenden Tarifbindung der Betriebe und Branchen. Diese ist mit unter 50% auf einem neuen Allzeittief angelangt. Selbst die EU hat offiziell eine Tarifbindung von 80% als Ziel ausgegeben.

Für die notwendige Richtungsänderung der Politik der Gewerkschaften müssen kämpferische Aktivist*innen und Belegschaften sich mit dem Kapital und der Bürokratie anlegen. Sie müssen inhaltlich, programmatisch und personell um eine andere Führung in den Gewerkschaften kämpfen. Das bedeutet auch, dass Revolutionär*innen solche Forderungen aktiv in die Betriebe und Gremien der Gewerkschaften hineintragen müssen. Wo immer möglich, sollten sie um Positionen kämpfen, sich eine Basis in den Betrieben aufbauen und sich untereinander vernetzen. Dies tun Mitglieder der SAV unter anderem in der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften – VKG (www.vernetzung.org).

Streiks im öffentlichen Dienst

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Position der Gewerkschaften verschlechtert. Die DGB-Gewerkschaften schrumpften von 12 Millionen Mitgliedern 1991 auf heute unter sechs Millionen. Doch dieser Schwund scheint 2023 stark verlangsamt und teilweise gestoppt worden zu sein. Ver.di hatte sogar zum ersten Mal wieder ein leichtes Mitgliederwachstum.

Dies liegt vor allem an der Intensität der gewerkschaftlichen Kämpfe im Gesundheitswesen und der Logistik. Während sich die Industriegewerkschaften immer noch vor allem auf die kampf- und mitgliederstarken Großbetriebe stützen, musste vor allem im Bereich des Öffentlichen Dienstes und in neueren Branchen immer wieder hart gekämpft werden. Bund, Länder und Kommunen sind mit sinkenden Steuereinnahmen konfrontiert, vor allem, weil Unternehmenssteuern immer weiter gesenkt wurden, während die Abgabenlast für Beschäftigte stieg.

Die Jahre 2022 bis 2024 waren geprägt von den Kämpfen um den TVÖD (Bund und Kommunen), in den Landeskliniken in Nordrhein-Westfalen, beim Nahverkehr (TV-N), bei den Ländern (TVL) und zuletzt bei der Bahn, bei der die GDL eine stufenweise Arbeitszeitverkürzung durchsetzen konnte. Durch diese Kämpfe konnte zwar keine Umkehr der konservativen Gewerkschaftspolitik erreicht werden, aber es wurden wichtige Erfolge erzielt: Entlastung und teilweise auch echte Lohn- und Gehaltserhöhungen. Dies brachte neue Mitglieder in die Gewerkschaften, von denen man zumindest erhoffen kann, dass sie weiter Einfluss auf deren Aktivitäten nehmen werden.

Ein wichtiges Element der gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen der letzten Jahre waren neue Formen von Streikdemokratie. Vor allem in ver.di konnte nach viel Kritik durch die Basis immer wieder ein Ansatz von Beteiligung und Abstimmung über die nächsten Schritte erreicht werden, so bei den Kliniken in Berlin in NRW. Aber auch dort hat der gewerkschaftliche Apparat immer wieder versucht, diese zurückzudrängen oder die wirklich wichtigen Entscheidungen aus der demokratischen Kontrolle von unten herauszulösen. Dennoch waren dies Beispiele, wie die Hegemonie der Bürokratie herausgefordert werden kann.

Diese Ansätze müssen weiterverfolgt und verstetigt werden, auch in den behäbigeren Industriegewerkschaften. Die Konferenz für gewerkschaftliche Erneuerung im Mai 2023 in Bochum bot den über 1000 Teilnehmenden dafür gute Ansätze, auch wenn die Diskussionen meist innerhalb der kritischeren Teile des Apparat verblieben. Daher braucht es weitere Ansätze wie die VKG, um kämpferischen Schichten der Beschäftigten Forum und Handlungsoptionen zu bieten.


Die Strategiekonferenz der VKG findet vom 1. bis 3. November in Mainz statt.

Foto: Jonas Priester, CC BY-NC-ND 2.0 DEED