Übergangsprogramm – Die Brücke zur Revolution

Wirtschaftskrisen, Arbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigung, Hunger, Kriege, Pandemie, Klimawandel, Rassismus und Wohnungsnot … es gibt viele Probleme, aber die prokapitalistischen Parteien haben keine Antworten. Es ist offensichtlich, dass dieses System die Gesellschaft nicht weiterentwickelt kann, sondern zunehmend zu einer lebensbedrohlichen Gefahr für das Überleben der Menschheit wird. Die Zahl der Leute, die lieber im Sozialismus als im Kapitalismus leben würden, wächst daher nach jahrzehntelanger neoliberaler Propaganda wieder. Aktivist*innen stellt sich die Frage, wie wir aus der existierenden, kapitalistischen Normalität zu einer neuen, sozialistischen, kommen.

Von Ianka Pigors, Hamburg

Auch wenn sich mehr Menschen eine sozialistische Gesellschaft wünschen, herrscht große Unklarheit, ob und wie so eine Gesellschaft erkämpft werden kann. Das ist nicht überraschend.

Karl Marx schrieb:

Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht.“

Die deutsche Ideologie. Marx/Engels, MEW 3, S. 46

Wirtschaftliche Macht verleiht auch Macht über die sogenannte „öffentliche Meinung“. Arbeiter*innen, Schüler*innen, Erwerbslose und Bäuer*innen auf der ganzen Welt können die „öffentliche Meinung“ nicht beeinflussen, indem sie Journalist*innen oder die Programmierer*innen der Facebook-Algorithmen dafür bezahlen, ihre Meinung zu publizieren. Sie können sich nur gegenseitig überzeugen und sich organisieren, um ihre Idee von einer Gesellschaft ohne Ausbeutung ohne die von den Herrschenden kontrollierten Hilfsmittel zu verbreiten.

Im Alltag ist es zwischen Arbeitsstress, Hausarbeit und dem Versuch, die sonstigen Probleme des täglichen Lebens zu meistern nicht leicht, die Energie zu finden, sich für die eigenen Interessen einzusetzen und über gesellschaftliche Alternativen nachzudenken. Aber es gibt immer wieder Situationen, in denen die kapitalistische Routine durchbrochen wird, zum Beispiel, wenn ein Streik den Normalbetrieb lahmlegt oder wenn viele Menschen zu einer Demonstration zusammenkommen.

In solchen Zeiten, in denen diejenigen, die bisher nur Machtlosigkeit erlebt haben, feststellen, dass sie ihre Lebensverhältnisse aktiv beeinflussen können, machen viele Menschen die Erfahrung, dass Dinge, die sie bisher für unmöglich gehalten haben, sich plötzlich als Option darstellen. Praktische Solidarität wird erlebbar. Leute, die bis dahin geglaubt haben, sie könnten nur Anweisungen befolgen, stellen fest, dass sie sehr wohl in der Lage sind, die Situation aktiv mitzugestalten.

Verbesserungen des Bestehenden…

Aber selbst wenn das gelingt, heißt das noch lange nicht, dass sie von sich aus eine Vorstellung entwickeln, was wir konkret tun müssen, um die gesamte Gesellschaft umzukrempeln. Unsere erste, instinktive Reaktion auf Probleme ist der Ruf nach Reformen. Die Vorstellung, dass wir Verbesserungen in kleinen Schritten erreichen, ist tief in das menschliche Denken verankert. Das ist kein Zufall, denn so funktioniert unsere materielle Welt im Alltag.

Hätte der erste Mensch, der auf die Idee kam, einen Feuerstein zu bearbeiten, den Stein beim ersten Misserfolg in den Fluss geschmissen, wären weder der Faustkeil noch das Beil erfunden worden. Die Menschheit hätte nie gelernt, Werkzeuge zu benutzen. Diese Erfahrung prägt uns. Im Normalfall ist die Strategie, das, was wir bereits haben oder wissen, schrittweise zu verbessern, auch sehr erfolgreich. Sie stößt aber an Grenzen.

Die Person, die an irgendeinem Punkt in der Geschichte entschieden hat, nicht weiter an der Verbesserung des technisch ausgereiften Faustkeils zu arbeiten, sondern sich zu überlegen, wie man statt dessen Pfeil und Bogen benutzen kann, hat den Fortschritt der menschlichen Entwicklung mindestens genauso gefördert, wie die Personen, die sich Generationen früher der Verbesserung der ersten Faustkeile widmeten. Trotzdem hat des Jahrhunderte gedauert, bis sich Pfeil und Bogen durchgesetzt haben. Wahrscheinlich überzeugten am Ende nicht die Anhänger*innen von Pfeil und Bogen die Faustkeiltraditionalist*innen, die erklärten, der Faustkeil sei ein Werkzeug zurückgebliebener Halbaffen, vom Gebrauch der neuen Technologie, sondern diejenigen, die ihren Hordenkolleg*innen erklärten, dass der Pfeil einfach ein verkleinerter Faustkeil mit verbesserten Flugeigenschaften ist, mit dem man ungefährlicher jagen kann.

haben ihre Grenzen

Übertragen auf die Funktionsweise unserer Gesellschaft sind wir seit langem an dem Punkt angelangt, an dem einzelne Verbesserungen am Kapitalismus, zum Beispiel bessere Löhne oder sicherere Arbeitsbedingungen, selbst dann, wenn es uns gelänge, sie tatsächlich durchzusetzen, kaum dauerhaft Bestand hätten und angesichts der enormen Masse der übrigen Probleme nur ein Tropfen auf den heißen Stein blieben. Es ist Zeit, vom Faustkeil auf Pfeil und Bogen umzusteigen, den Kapitalismus zu überwinden und eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen.

Diese radikale Veränderung kann leichter umgesetzt werden, wenn wir erklären, welche konkreten, für alle Betroffenen sinnvolle Schritte zu unternehmen sind, um sie zu erreichen, statt abstrakt zu verlangen, dass in Zukunft alles anders und besser gemacht wird. Diejenigen, die bereits erkannt haben, dass das Entwicklungspotential einer Maßnahme oder einer gesamten Gesellschaft bereits erschöpft ist, neigen dazu, denjenigen, die ihre Hoffnungen noch in graduelle Veränderungen setzten, zu unterstellen, sie hätten nichts verstanden oder wären nicht mutig genug, etwas zu ändern. Diese Denkweise gibt es gewiss. Trotzdem wäre es wenig zielführend, pauschal allen Kolleg*innen, die ihre Hoffnungen auf Reformen setzen zu unterstellen, dass sie sich bewusst gegen eine grundlegend andere, solidarische Gesellschaft entschieden hätten – auch wenn wir erkannt haben, dass ihre Strategie nicht funktionieren wird.

Übergangsmethode

In der Arbeiter*innenbewegung wird oft zwischen einem scheinbar „realistischen“ Minimalprogramm mit aktuellen Forderungen und dem Maximalprogramm der Gesellschaftsveränderung unterschieden. Die Sozialdemokratie hatte dies auf die Spitze getrieben, indem sie Tagesforderungen aufstellt, die sie nicht umgesetzt hat und den „demokratischen Sozialismus“ als leere Floskel für Festreden verwendete.

Revolutionäre Sozialist*innen lehnen diese künstliche und unrealistische Trennung ab. Wir bleiben nicht dabei stehen, zu sagen, dass „es kein Richtiges im Falschen“ gibt, sondern wir bemühen uns, Forderungen aufzustellen, mit denen das „Falsche“ sich in das „Richtige“ verwandeln kann, wenn sich eine Mehrheit der Arbeiter*innenklasse für ihre Erfüllung einsetzt. Das setzt voraus, dass wir uns mit unseren Forderungen nicht an die wichtigste kapitalistische Spielregel halten, die besagt, dass nur solche Forderungen „realistisch“ und „umsetzbar“ sind, die den Kapitalismus in seinem Bestand nicht gefährden.

Bereits im ersten Text des Marxismus, im „Kommunistischen Manifest“, haben Karl Marx und Friedrich Engels 1848 einen Forderungskatalog formuliert, in dem sich unmittelbare Forderungen finden, wie sie auch die LINKE in ihrem Wahlprogramm 2021 aufstellt („Starke Progressivsteuer“) oder die damals aktuell waren („Beseitigung der Fabrikarbeit von Kindern“) sowie Forderungen, die auf die Überwindung des Kapitalismus hindeuten („Abschaffung des Erbrechts“, „Expropriation des Grundeigentums“).

Leo Trotzki, ein politischer Aktivist, Organisator, Anführer und Autor, der eine zentrale Rolle bei der Oktoberrevolution in Russland spielte, hat die Methode des Übergangsprogramms weiter entwickelt. 1938 schrieb er in seinem Text „Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der 4. Internationale“, der als „Übergangsprogramm“ bekannt wurde:

Die strategische Aufgabe der nächsten Periode – der vorrevolutionären Periode der Agitation, Propaganda und Organisation – besteht darin, den Widerspruch zwischen der Reife der objektiven Bedingungen der Revolution und der Unreife des Proletariats und seiner Vorhut (Verwirrung und Entmutigung der alten Generation, mangelnde Erfahrung der Jungen) zu überwinden. Man muss der Masse im Verlauf ihres täglichen Kampfes helfen, die Brücke zu finden zwischen ihren aktuellen Forderungen und dem Programm der sozialistischen Revolution. Diese Brücke muss in einem System von Übergangsforderungen bestehen, die ausgehen von den augenblicklichen Voraussetzungen und dem heutigen Bewusstsein breiter Schichten der Arbeiterklasse und unabänderlich zu ein und demselben Schluss führen: der Eroberung der Macht durch das Proletariat.“

aus: Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der 4. Internationale

1938 ist nicht 2021. Zum Beispiel existieren die mächtigen sozialdemokratischen Massenparteien, die die politische Landschaft in Europa und anderen Teilen der Welt zu Trotzkis Zeiten prägten, nicht mehr. Sie haben sich überall von Arbeiter*innenparteien mit bürgerlichen Führungen in bürgerliche Parteien verwandelt. Damit haben auch die Gewerkschaften ihren „parlamentarischen Arm“ verloren. Der organisierte traditionelle Reformismus, der zumindest in der Theorie durch schrittweise Verbesserungen vom Kapitalismus zum Sozialismus gelangen wollte, ist damit Geschichte. Reformistische Ideen hingegen tauchen in verschiedenen Formen aber immer wieder auf.

Sackgasse Minimalforderung

Auch wenn die konkreten Forderungen aktualisiert werden müssen, ist die Übergangsmethode und vor allem der Beitrag, den Trotzki zu deren Weiterentwicklung geleistet hat, heute noch ein wichtiges Werkzeug, um eine Brücke vom heutigen Bewusstsein zur Notwendigkeit der Abschaffung des Kapitalismus zu bauen.

Wie sieht also ein Beispiel für eine Übergangsforderung im Vergleich zu einer „Minimalforderung“ aus? Durch die Corona-Pandemie wurde eine weltweite Wirtschaftskrise ausgelöst. Auch große Konzerne bekamen dies zu spüren und drohten mit Entlassungen. Die Regierungen der finanzstarken Industriestaaten reagierten und griffen ihnen mit gigantischen Finanzhilfen unter die Arme. Diese staatlichen Hilfen waren in der Regel kaum an Bedingungen wie dauerhafte Arbeitsplatz- und Lohngarantien gebunden.

Die Lufthansa erhielt neun Milliarden Euro. Dafür bekam der Wirtschaftsstabilisierungsfonds der Bundesrepublik 20% Lufthansa-Aktien. Für eine Sperrminorität, die der Regierung ein Veto gegen Entscheidungen der Aktionäre und des Aufsichtsrates ermöglicht hätte, wären 25% erforderlich gewesen. Dieses bedingungslose Geldgeschenk an einen Konzern, der weiter Arbeitsplatzabbau betreibt und durch erheblichen CO2-Ausstoß eine Gefahr für das Weltklima darstellt, stieß in breiten Teilen der Bevölkerung auf Unverständnis.

Bernd Riexinger, damals Vorsitzender der LINKEN, schrieb am 11. Juni 2020:

Trotz neun Milliarden Euro Überbrückungshilfe möchte die Lufthansa massenhaft Arbeitsplätze vernichten. Die Bundesregierung hätte es in der Hand gehabt, dieses Szenario bereits im Vorfeld zu vermeiden und die Vergabe von Staatshilfe an klare, regulative Bedingungen zu knüpfen. Ihre ideologischen Scheuklappen drohen zu einem sozialpolitischen Bumerang zu werden. Staatliche Hilfen bedürfen klarer Bedingungen und Mitspracherechte.“

Bernd Riexinger am 11.06.2020

Er stellte damit eine klassische Minimalforderung auf: Er verlangte, dass die Bundesregierung dem Konzern als Gegenleistung für die Zahlung eine punktuelle Verpflichtung zu sozialerem Verhalten abverlangen solle.

Indem er sagt, die Bundesregierung habe „auf Grund ideologischer Scheuklappen“ versäumt, eine derartige Verpflichtung einzufordern, erweckt er den Eindruck, ein inzwischen privater, rein profitorientierter Konzern könne durch pures politisches Wollen in ein Unternehmen verwandelt werden, das dem Allgemeinwohl dient. Gleichzeitig klingt seine Aussage so, als wäre es der Staat in einer kapitalistischen Gesellschaft eine eigenständige, neutrale Instanz, die frei über allen Klasseninteressen schwebt und die Wirtschaft im Sinne der Mehrheit der Bevölkerung lenken kann – wenn er sich nur von falschen Ideologien befreie.

In dieser Gesellschaft hat der Staat die Aufgabe, die Macht zu schützen, die ihr Privateigentum den Aktionär*innen der Lufthansa verleiht, zu schützen und nicht etwa, sie zu brechen. Diese Macht wird dazu genutzt, die Profite des Konzerns zu sichern.

Wird darauf verzichtet, diese Macht zu brechen, werden alle kleinen Verbesserungen über kurz oder lang wieder einkassiert werden. Beschränkt man sich auf Minimalforderungen, hilft das dem Verständnis in der Arbeiter*innenklasse über die anstehenden Aufgaben nicht viel weiter. Zudem erweisen sich einzelne Maßnahmen als unzureichend zur Problemlösung, daraus erwächst die Gefahr, dass diese von vielen Arbeiter*innen für sinnlos gehalten werden und eine linke Kraft, die immer die gleichen, angeblich „realistischen“, aber nicht ausreichenden Maßnahmen fordert, ihre Basis verliert.

Mit der Übergangsmethode greifen Marxist*innen in dieser Situation die verbreitete Kritik an diesem bedingungslosen Geldgeschenk für einen arbeiter*innen- und umweltfeindlichen Konzern auf. Gleichzeitig berücksichtigen sie die Unfähigkeit einer bürgerlichen Regierung, dauerhaft die Klasseninteressen der Arbeiter*innen gegen die Kapitaleigner*innen zu vertreten. Marxist*innen fordern in einer solchen Situation deshalb, dass die staatliche Finanzspritze mit der entschädigungslosen Enteignung des Lufthansakonzerns verbunden wird, der unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten, Vertreter*innen der Gewerkschaften des gesamten Transportgewerbes, Komitees der Nutzer*innen des öffentlichen Verkehrs und Vertreter*innen von Klimaschutzorganisatonen gestellt wird. Sie fordern den Erhalt aller Arbeitsplätze bei gleichzeitiger Umstellung der Produktion von Lufthansa-Technik und anderen Unternehmensteilen auf ökologisch unbedenklichere Produkte, insbesondere zur Förderung des klimaneutraleren öffentlichen Personenverkehrs.

Sie leiten vom aktuellen Problem über zur Notwendigkeit, den Konzern unter demokratische Kontrolle zu stellen und ihn sinnvoll für an Bedürfnissen und nicht am Profit orientierten Verkehr und Transport zu nutzen, um ein Beispiel zu geben, wie der Kapitalismus konkret in Frage gestellt werden kann. Sie betonen, dass dazu staatliche Interventionen nicht ausreichen, sondern die Initiative und aktive Beteiligung der Arbeiter*innenklasse nötig ist.