Börsenboom: Was steckt dahinter?

Foto: http://www.flickr.com/photos/idrs/ CC BY-NC-SA 2.0
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Steigende Aktienkurse drücken keine Erholung der Weltwirtschaft aus

In der ersten Märzwoche kam es an der New Yorker Börse zu einem plötzlichen Kursanstieg, woraufhin andere Anleihemärkte nachzogen. Ist dies ein Zeichen für die Wiederbelebung der globalen kapitalistischen Ökonomie?

von Lynn Walsh

Die „Financial Times“ war mit der Feststellung schnell bei der Hand, dass „nur wenig über den Grund der Überschwänglichkeit der Investoren aus den grundlegenden Wirtschaftsdaten herauszulesen ist. […] Die USA und Großbritannien schlossen das vergangene Jahr mit Stagnation ab; die Eurozone und Japan befanden sich erneut in der Rezession; die gerade erst aufatmende Welt gerät abermals ins Stocken“. (aus: „Stock Markets Defy Economic Woes“, 6. März 2013)

„Die ökonomische Erholung Asiens verliert an Fahrt und der Abschwung Europas erweist sich als gravierender denn erwartet, was zur zunehmenden Besorgnis darüber führt, dass die Höhenflüge auf den Börsenmärkten auf globaler Ebene keinen Bezug mehr zur realwirtschaftlichen Lage zu haben scheinen“. (Evans-Pritchard: „Booming Stock Markets Belie World Economy“, in: „Daily Telegraph“, 12. März 2013) Es besteht ein krasser Widerspruch zwischen ansteigenden Aktienkursen und der Realwirtschaft. Das ist ein Symptom der außergewöhnlichen Periode, in der sich der Weltkapitalismus befindet.

Der „Dow Jones Industrial Average“-Index (DJIA), in dem 30 „Spitzen-Unternehmen“ aufgeführt sind, verzeichnete am 4. März einen Rekordstand, nachdem im Laufe des Abschwungs von 2007 bis 2009 diese um 54 Prozent abgesackt waren. Inflationsbereinigt verharrt der DJIA jedoch weiterhin zehn Prozent unterhalb seines Höchstwerts von 2007. Und dennoch haben wir es in diesem Fall mit einer erstaunlichen Erholung zu tun, wenn man die allgemeine Stagnation der Weltwirtschaft bedenkt.

Anhaltend schwaches Wachstum

In seinem Artikel in der „Financial Times“ bezieht Chris Giles sich auf ein „anhaltend schwaches Wachstum“ der entwickelten kapitalistischen Volkswirtschaften. „Während die Daten des Internationalen Währungsfonds zeigen, dass die Volkswirtschaften der entwickelten Länder in den fünf Jahren von 2007 bis 2012 nur um 1,3 Prozent gewachsen sind, ist das Ausmaß, in dem sich diese Ökonomien aus ihren Problemen aufgrund sich oft widersprechender Daten wesentlich schwerer zu erkennen“. („Little Recovery in Advanced Economies“, 5. März 2013)

Giles beruft sich auf eine neue statistische Technik, die verschiedene Typen von Datensätzen miteinander verbindet, um einen gemischt zusammengesetzten Index des ökonomischen Prozesses zu liefern. „Die Untersuchung […] geht davon aus, dass die Meldungen über die wirtschaftliche Lage in den USA nicht besser als sonst gewesen sind und die Erholung des Landes auf kurzen Zyklen moderat guter, dann schlechter Daten seit 2010 basierte“. Dabei zitiert er einen gewissen Professor Beber von der „Cass Business School“, der sagt, dass „die USA sich seit der Krise gegen Null bewegt haben. Jedes Mal, wenn es danach aussieht, dass die Wiederbelebung an Fahrt gewinnt, gibt es wieder einen Abschwung“.

Hinsichtlich der Eurozone spricht Giles davon, dass „die Hinweise für Wachstum um das Jahr 2010 herum in der Ein-Währungszone [gemeint ist der Euroraum] stark waren [was die Folge der umfänglichen Rettungspakete war, die für die EU-Volkswirtschaften geschnürt wurden]. […] Aber die positiven Daten fielen 2011 wieder ab und heute sind sie schlechter als die aus der historischen Entwicklung ableitbaren Normwerte“.

„Großbritannien verharrt weiterhin auf den schwachen Wirtschaftsdaten, die für das Land seit 2011 zum Normalzustand geworden sind. Dabei bleibt der Index halbwegs stabil und rangiert auf unterdurchschnittlichen Werten“. Dies ist die Beschreibung einer Depression, die nicht so schwerwiegend greift wie in den 1930er Jahren, aber auf eine Periode des schwachen, zyklisch bedingten Wachstums hindeutet, in der es der Kapitalismus nicht vermag, die Wachstumshürden zu überwinden und in entscheidendem Maße über die früheren Wachstumsspitzen hinauszukommen.

Gründe für die Kurzzeit-Hausse

Warum aber sind in dieser misslichen Situation die Aktienkurse in die Höhe geschnellt? Der unmittelbare Auslöser dafür scheinen die Beschäftigungszahlen in den USA für den Monat Februar gewesen zu sein. Diese wiesen 236.000 zusätzlich geschaffene Arbeitsplätze aus, was die Erwartungen von 165.000 neuen Stellen deutlich übertraf. Ein entscheidender Faktor dafür war die Erholung in der Bauwirtschaft, was auf bessere Witterungsbedingungen zurückzuführen ist. Die Arbeitslosenquote fiel auf 7,7 Prozent. Von den Finanzmärkten wurde dies als Indikator für eine Fortdauer, wenn nicht gar für eine echte Erholung in der schmerzlich langsamen Wiederbelebungsphase der US-Wirtschaft gewertet. Während die Arbeitslosenquote sank (was auf der Anzahl der ArbeitnehmerInnen basiert, die arbeitssuchend gemeldet sind), sank allerdings in der Tat auch der Anteil der Erwerbstätigen insgesamt. Das Verhältnis von Erwerbstätigen zur Bevölkerung (employment-to-population ratio; EPOP) verschlechterte sich von 63 Prozent im Jahr 2007 auf aktuell 58,6 Prozent. Es sind immer noch weniger ArbeiterInnen in Beschäftigungsverhältnissen als vor der großen Rezession.

Was zusätzlich zur Steigerung der Aktienwerte beiträgt, ist die fortgeführte Politik niedriger Leitzinsen und die massive Bereitstellung liquider Mittel durch die großen Zentralbanken. Die US-Notenbank „Federal Reserve“ hat seit 2007 rund drei Billionen US-Dollar in die Wirtschaft gepumpt und klar gemacht, dass sie auch weiterhin Kredite zur Verfügung stellen wird, bis es wieder zu nachhaltigem Wachstum kommt. Die „Bank of England“ hat 375 Milliarden britische Pfund im Rahmen ihrer Politik der „quantitativen Lockerung“ reingebuttert. China hat seine Gesamt-Kreditvolumina von neun Billionen US-Dollar auf 23 Billionen in den vergangenen vier Jahren ausgeweitet, während Japan gerade dabei ist, ein weiteres Programm staatlicher Wirtschaftsförderung und erweiterter Kreditvergabe zu starten.

Neue Börsenblase statt erhoffter Nachfragesteigerung

Die ausgeweitete Kreditvergabe soll die Wirtschaft zu neuen Investitionen motivieren, zur Produktionssteigerung beitragen und den Konsum ankurbeln. In der Realität hat der anhaltende Kredit-Strom einen perversen Effekt gehabt. Das Kleingewerbe, HauskäuferInnen und KonsumentInnen leiden weiterhin unter der Kreditklemme, weil die Banken ihre Kapitalreserven wieder aufbauen. Unterdessen ist ein Großteil der zusätzlichen liquiden Mittel in die Finanzmärkte geflossen. Der heftige Anstieg der Aktienkurse ist in Wahrheit ein Beleg dafür, dass die enorm günstigen Kredite zu einer neuen Börsen-Blase führen. Diese kann jederzeit platzen. Und so führte die Zypern-Krise an den weltweiten Handelsplätzen erneut dazu, dass man unheimlichen Bammel hatte, noch bevor der Monat März zu Ende war.

Die Renditen aus Staatsanleihen sind derzeit extreme niedrig; inflationsbereinigt rangieren sie sogar im negativen Bereich. Auch das ist eine Folge der erhöhten Liquidität durch die Zentralbanken, die es den Regierungen gestattet, sich Geld zu einem Zinssatz zu leihen, der nahe Null geht. Die Investoren, die Kapital in die Hand nehmen können, wenden sich deshalb den Aktien von Unternehmen zu, weil sie dort höhere Renditen wittern. Reiche Investoren fühlen sich auch durch die Möglichkeit erhöhter Renditen aus profitablen Unternehmen ermutigt (sie haschen nach Dividenden oder Kapitalausschüttungen, die sich aus dem Weiterverkauf von gewinnträchtigen Aktienwerten ergeben könnten). Die höheren Unternehmensprofite resultieren aus der intensivierten Ausbeutung der Beschäftigten. „Angesichts der Tatsache, dass immer noch Millionen Menschen arbeitssuchend sind, haben die Unternehmen keinen Druck, ihre Löhne anheben zu müssen. Gleichzeitig erlaubt es ihnen der Produktivitätsanstieg, die Verkaufszahlen zu steigern ohne zusätzliche ArbeiterInnen einzustellen. Bislang haben die Unternehmen in dieser Wiederbelebungsphase einen selten hohen Anteil an den Ertragszielen für sich einheimsen können, sagte Ethan Harris, Abteilungsleiter für den Bereich globale Wirtschaft bei der Bank of America Merrill Lynch“. (Nelson Schwarz: „Recovery in US Lifting Profits“, in: „New York Times“, 3. März 2013)

Reichtum durch Arbeitnehmer-Armut

„Als Bestandteil des nationalen Gesamteinkommens lagen die Unternehmensgewinne im dritten Quartal des Jahres 2012 bei 14,2 Prozent. Das war der höchste Anteil seit 1950. Dem gegenüber hielten die Arbeitnehmereinkommen einen Wert von 61,7 Prozent, was nahe dran ist am niedrigsten Wert aus dem Jahre 1966. In den letzten Jahren, während der langsamen Erholung, die auf die Finanzkrise und die sich daraus ergebende Rezession von 2008 und 2009 folgte, hat sich dieser Trend beschleunigt“. (Schwarz) Die großen Unternehmen greifen fortwährend auf neue Technologien zurück, um ihren Bedarf nach Arbeitskräften zu reduzieren und sie stützen sich verstärkt auf Billigarbeit in den Niedriglohnländern.

Die Großkonzerne folgen zudem einer Politik des Hochtreibens der eigenen Börsenwerte, indem sie eigene Aktien zurückkaufen. Dies führt dazu, dass den Aktienbesitzern Gelder ausgezahlt werden, was die Börsenwerte künstlich in die Höhe treibt, da ja der Profit je Aktie größer wird. Die Konzerne finanzieren dieses Vorgehen teilweise durch das Zurückgreifen auf die eigenen immensen Kapitalreserven aber auch dadurch, dass man sich günstiges Geld leiht, um die Rückkäufe gegenzufinanzieren. Historisch betrachtet sollten die Börsen eine Quelle sein, aus der Gelder akquiriert werden, um darüber dann in den Unternehmen neue Investitionen tätigen zu können. Die Irrationalität hat heute jedoch derartige Ausmaße angenommen, dass mittlerweile das genaue Gegenteil der Fall ist: Wir haben es jetzt mit einem massiven Kapital-Transfer von profitablen Unternehmen hin zu deren AnteilseignerInnen zu tun.

In der „Lex column“ der „Financial Times“ wird erklärt: „Die Konzerne erfreuten sich an einer Profitabilität auf Rekordniveau. Diese setzen sie aber ein, um Dividenden zu finanzieren und Aktienpakete zurückzukaufen, was im vergangenen Jahr ein Ausmaß angenommen hat, das nur im Jahr 2007 noch übertroffen werden konnte. Die 500 Unternehmen, die die Kredit-Ratingagentur „Standard and Poor’s“ (S&P) aufführt, wandten im letzten Jahr etwas weniger als 90 Prozent ihrer Nettoeinnahmen auf, um Dividenden auszuzahlen und Aktien-Rückkäufe zu tätigen, so die Daten von S&P. Sie zahlen, um im Gegenzug Einnahmen je Wertpapier und steigende Dividenden zu erhalten. Die Investoren sind damit glücklich. Es ist allerdings schwer vorstellbar, dass die Unternehmen das Tempo beschleunigen können, um im Gegenzug Kapitalien zurückzuerhalten. Im Gegensatz zu den Konsumenten sind sie so hoch verschuldet wie zuvor“. (13. März 2013)

Steve Rothwell (von der Agentur „Associated Press“) schreibt: „Die Konzerne horten das Kapital auch. Die Summe an Kapital und Barwerten, die von den Unternehmen gehalten wird, welche in der Liste der 500 von S&P auftauchen, stieg Ende September auf ein Allzeit-Hoch von einer Billion US-Dollar, was im Vergleich zu dem Wert von vor fünf Jahren einen Anstieg von 65 Prozent bedeutet, so die Daten, die sich aus den S&P Dow Jones-Indizes ergeben“. (AP, „Housing and Jobs Key to Lifting S&P to Record“, 28. Dezember 2012)

Darüber hinaus wird ein riesiger Anteil der Rekordprofite US-amerikanischer Konzerne in Steueroasen in Übersee versteckt gehalten (z.B. auf den Bermuda und den Cayman Islands). Das „Wall Street Journal“ hat herausgefunden, dass die 60 größten Unternehmen im letzten Kalenderjahr 166 Milliarden US-Dollar nach Übersee transferiert haben, damit 40 Prozent ihrer Einkünfte [Profite] davor bewahrten, zu US-amerikanischen Steuergeldern zu werden und für die USA somit Kosten in Milliardenhöhe in Form von verloren gegangen Steuereinnahmen verursachten.

Nur 19 dieser 60 Konzerne machten Angaben über ihre potentiellen steuerlichen Verpflichtungen, die sich auf insgesamt 98 Milliarden US-Dollar belaufen. Das ist mehr als die 85 Milliarden Dollar an automatisch vollzogenen, alle Bereiche umfassenden Ausgabenkürzungen, zu denen es jüngst kam, nachdem man im US-Kongress darin gescheitert war, sich auf einen Haushalt zu einigen.

Investitionen in kurzzeitige Profite und nicht in nachhaltiges Wachstum

Kapitalisten investieren und produzieren Waren und Dienstleistungen, um Profite abzuschöpfen. Aus der derzeitigen Situation geht jedoch hervor, wie klar es ist, dass kurzfristige Profite an sich in keinster Weise dazu beitragen, auch steigende Investitionen zu gerieren. Wie hängt das zusammen? In der zu Ende gehenden Periode des Nachkriegsaufschwungs nach 1968 hatten die Kapitalisten der entwickelten Länder es mit einer schrumpfenden Profitrate zu tun. Nach einer Phase der „Stagflation“ (geringes Wachstum, hohe Arbeitslosigkeit aber hohe Inflation) widmeten sie sich nach 1980 einer beispiellosen Ausweitung an Krediten und der Finanzspekulation. Die neoliberale Politik, die mit dieser Wendung einherging, half dabei, in der gesamten kapitalistischen Welt die Bedingungen für exorbitante Profitmargen und eine extreme Konzentration des Reichtums zu schaffen.

Jetzt heimsen die meisten Großkonzerne riesige Profite ein. Aber wegen der in vielen Industriezweigen zu verzeichnenden Überkapazitäten und einer schwächer gewordenen Konsumentennachfrage (Grund: sinkende Löhne und Kürzung bei den öffentlichen Ausgaben) sehen die Unternehmen und ihre Finanzjongleure unzureichende Möglichkeiten für profitable Investitionen. Paul Krugman fasst das so zusammen: „Nicht nur die Arbeiter verzichten auf ihren Anteil an den Früchten ihrer eigenen, steigenden Produktivität. Hunderte von Milliarden US-Dollar türmen sich in den Schatzkammern der Konzerne auf, die angesichts einer schwachen Konsumnachfrage keinen Grund dafür sehen, diese Summen ans Arbeiten zu bringen“. („The Market Speaks“, „New York Times“, 7. März 2013) Krugman fordert eine massive Ausweitung der öffentlichen Ausgaben, um Nachfrage zu stimulieren. Während dieser Ansatz zwar zu einem zeitweiligen Anstieg der Wirtschaftstätigkeit führen würde, wäre damit nicht notwendigerweise verbunden, dass für die Kapitalisten auch die Bedingungen für profitable Investitionen geschaffen werden. Innerhalb der Logik des Kapitalismus ist das jedoch die Voraussetzung für anhaltendes Wachstum.

Unterdessen „fressen“ die Unternehmensprofite – wie es ein Kommentator dargelegt hat – weiterhin die ganze Wirtschaftstätigkeit auf. (Derek Thompson: „Corporate Profits are Eating the Economy“, in: „New Atlantic“, 4. März 2013) Die (auf den US-Daten basierende) Rangliste zeigt, dass von 1970 bis in die Mitte der 1990er Jahre die Zuwächse bei den Unternehmensprofiten ungefähr dem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts und der Arbeitnehmereinkommen entsprachen. Dann „in den 1990ern, begannen die Unternehmensprofite – vor allem im Verhältnis zum BIP – abzuheben, bevor sie in den letzten zehn Jahren förmlich explodierten“. Die Profite stürzten während der Krise von 2008 ab, haben sich seither aber auf neuen Höchstwerten erholt (rund die Hälfte der US-amerikanischen Profite werden heute im Finanzsektor eingenommen).

„Wenn die Wirtschaft zusammenbricht [sagt Thompson], dann brechen wir alle zusammen: Unternehmensprofite, Arbeitsmarkt und Wachstum. Aber als die Wirtschaft sich erholte, haben wir uns nicht alle erholt […] .“

Lynn Walsh ist verantwortlicher Redakteur des britischen Magazins Socialism Today. Dieser Artikel erschien in englischer Fassung am 16. April auf www.socialistworld.net