LehrerInnen in Seattle boykottieren Test-Vergleichsarbeiten

Foto: http://scrapthemap.wordpress.com
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Dieser Artikel erschien zuerst am 27. April in englischer Sprache auf socialistworld.net.

LehrerInnen an der Garfield High School in Seattle im US-Bundesstaat Washington waren von Disziplinarmaßnahmen bedroht, weil sie die MAP-Tests (Measures of Academic Progres, ähnlich den VERA-Vergleichsarbeiten in Deutschland) des Wintertrimesters boykottiert hatten.

von Dylan Murphy, „Socialist Alternative“ (US-amerikanische UnterstützerInnen des „Committee for a Workers´ International“, dessen Sektion in Deutschland die SAV ist)

Der zuständige Schulrat Jose Banda hatte die LehrerInnen ursprünglich dazu aufgefordert, die MAP-Tests bis 22. Februar schreiben zu lassen, anderenfalls würde er sie 10 Tage lang aussperren (d.h. Zwangsurlaub ohne Gehalt). Der Boykott begann am 9. Januar, als die 19 LehrerInnen der Garfield High einstimmig entschieden, die Tests nicht durchzuführen – zum ersten Mal in der Geschichte der standardisierten Schultests in den USA tat dies eine ganze Gruppe von LehrerInnen.

In einem offenen Brief legten sie dar, wie die MAP-Tests, die von der 1. bis zur 12. Klasse dreimal jährlich durchgeführt werden, den Lernprozess der SchülerInnen unterbrechen und letztendlich eine kostspielige und ineffiziente Analyse ihres Lernfortschritts sind. Außerdem werden die Ergebnisse in einer unfairen Weise dazu verwendet, die „Effektivität“ der LehrerInnen zu bewerten sowie leistungsabhängige Bezahlung im Bildungsbereich einzuführen. Der Brief schließt mit den Worten: „Wir sind keine Unruhestifter und wollen auch nicht das gute Funktionieren unserer Schule behindern. Wir sind vielmehr professionelle BildungsarbeiterInnen, die sich große Sorgen um ihre SchülerInnen machen, und können darum nicht weiterhin an einer Testserie teilnehmen, die sowohl diesen als auch unserer Schule schadet.“

Die American Federation of Teachers, die Seattle Education Association und weitere LehrerInnen von mehreren Schulen in Seattle erklärten ihre Unterstützung des Boykotts und riefen Schulrat Banda auf, die Tests auszusetzen. Viele SchülerInnen der Garfield High unterstützen den Boykott, dem durch die Unterstützung der Elternvereinigung weiter der Rücken gestärkt wurde, und auch USA-weit erklärten sich weitere LehrerInnen, Eltern und WissenschaftlerInnen solidarisch. Hunderte SchülerInnen setzten ihre Unterstützung in die Tat um, indem sie die Durchführung der Tests ablehnten.

Der Boykott der MAP-Tests an der Garfield High und an anderen Schulen Seattles ist Teil des wachsenden landesweiten Widerstands gegen das stressintensive Testsystem, dass an öffentlichen Schulen im US-Bildungswesen durchgesetzt wurde. Im letzten Jahr haben hunderte von Schulkonferenzen Resolutionen verabschiedet, die ein Ende des Test(un)wesens fordern, da es das Lernen abwürge. In New York lehnen immer mehr Eltern eine Beteiligung ihrer Kinder an den standardisierten Tests ab. Viele kritisieren auch private Firmen wie Pearson für die Geschäftemacherei mit der Abwicklung der Tests.

Die Professorin Diane Ravitch, eine Bildungshistorikerin, die von von 1991 – 93 stellvertretende Bildungs-Staatssekretärin in der Bush-Regierung war, hat eine Erklärung zur Unterstützung der Seattler LehrerInnen unterzeichnet, der sich 60 weitere führende BildungsforscherInnen angeschlossen haben. Schon im März 2010 erläuterte sie ihre ablehnende Haltung gegenüber standardisierten Tests in einem Artikel für das Wall Street Journal: „Die derzeitige Betonung der ‘Überprüfbarkeit’ hat in den Schulen für eine an Strafen orientierte Atmosphäre gesorgt. Präsident Barack Obamas Verwaltung scheint zu glauben, dass Schulen besser werden, wenn wir LehrerInnen entlassen und Schulen schließen. Sie übersehen, dass Schulen oft der Dreh- und Angelpunkt ihrer Kieze sind und Werte, Traditionen und Ideale vertreten, die sich über Jahrzehnte entwickelt haben. Sie verstehen auch nicht, dass der beste Vorhersagefaktor für geringen Bildungserfolg Armut ist – und nicht etwa schlechte LehrerInnen.“

Die Chicagoer LehrerInnengewerkschaft hat die Kampagne „Lasst die Stifte sinken“ gestartet, um lokale und landesweite Bemühungen um die Abschaffung von stressintensiven standardisierten Tests zu unterstützen. In ihrer Denkschrift „Mit den Mythen des standardisierten Testwesens aufräumen“ schreibt sie: „Kinder, die keinen Zugang zu medizinischer Versorgung haben, die hungrig sind, die zu Hause keine Bücher und keinen Zugang zu anderen informellen Bildungsmöglichkeiten haben, deren Eltern ein geringes Bildungsniveau haben, deren Familien ständig unter dem Druck wirtschaftlicher Probleme stehen, und die in ihrer Freizeit nicht in Bibliotheken und Museen gehen, sind akademisch gesehen benachteiligt. All diese Faktoren stehen in einem engen Zusammenhang, und zwar sowohl zu Testergebnissen, akademischem Erfolg, zukünftiger Bildungsentwicklung und sozioökonomischem Erfolg als auch zur ethnischen Herkunft und Klassenzugehörigkeit der individuellen Kinder.“

Der Bildungsforscher Alfie Kohn hat festgestellt, dass PolitikerInnen und das Bildungs-Establishment auf kurzfristige (Schein)Lösungen fixiert sind und gerne LehrerInnen für geringe Bildungserfolge von Kindern, die aus ärmeren Haushalten stammen und / oder anderweitig benachteiligt sind, verantwortlich machen: „Viele FunktionärInnen spielen die Frage der Vorrausetzungen und Ressourcen herunter und behaupten, dass alle Bildungsnachteile von armen Kindern oder Kindern, die einer Minderheit angehören, behoben werden können, ‘indem wir die Messlatte höher legen’ – und dabei werden sie von JournalistInnen und anderen Akteuren mit ähnlichen Zielen unterstützt. Die logische Schlussfolgerung wäre dann ihrer Ansicht nach, dass LehrerInnen und SchülerInnen zwar bessere Leistungen abliefern könnten, sich aber aus irgendwelchen Gründen dagegen entschieden haben… und zur Verbesserung entweder durch Extra-Anreize oder durch drohende Nachteile im späteren Leben gebracht werden könnten. Der Schwerpunkt der politischen EntscheidungsträgerInnen liegt also seit einiger Zeit auf standardisierten Endergebnissen, anstatt auf gleichwertige Chancen zu setzen“.

Das stressintensive standardisierte Testsystem ist ein wesentlicher Bestandteil von Obamas Bildungsprogramm „Wettlauf nach oben“. In dessen Rahmen dürfen Behörden auf städtischer und Bundesland-Ebene solche Schulen und einzelne LehrerInnen bestrafen, deren SchülerInnen in standardisierten Tests schlecht abschneiden. Übrigens werden diese Tests an den meisten Privatschulen, auf die Obama und andere FunktionärInnen ihre Kinder schicken, nicht durchgeführt.

Dies reiht sich ein in die Privatisierungswelle für staatliche Schulen, die „schlecht abschneidende“ Schulen entweder schließen lässt und mit neuer Belegschaft wiedereröffnet oder sie zu Charter Schools macht [„Vertragsschulen“, deren Funktionsgrundlage ein individueller Vertrag zwischen der Schulbehörde und der Schulleitung ist, adÜ]. Letztere sind gewerkschaftsfreie Zonen und werden oft von großen Bildungskonzernen mit Profitinteressen geführt. Schulbudgets werden gekürzt, während Firmen wie Pearson millionenschwere Verträge zur Durchführung standardisierter Tests verschafft werden.

Der Widerstand gegen die MAP-Tests durch LehrerInnen, SchülerInnen und Eltern, durch den nur 180 von 810 geplanten Tests an der Garfield High durchgeführt wurden, zwang die Schulbehörde von Seattle, die Winter-Testperiode vom 22. Februar auf den 1. März zu verlängern. Schulrat Banda musste auch die angedrohte Aussperrung unterlassen, drohte aber weiterhin mit der Bezeichnung „aufmüpfige LehrerInnen“ und nicht näher definierten Disziplinarmaßnahmen. Bis heute hat die Behörde keine Maßnahmen gegen die boykottierenden KollegInnen unternommen. Deren Entschlossenheit, standhaft zu bleiben und den Boykott fortzusetzen, hat zusammen mit der Solidarität von Eltern, SchülerInnen und Gewerkschaften aus allen Teilen der USA zur Zurückhaltung von Herrn Banda beigetragen.

Kit McCormick, Kunstlehrerin an der Garfield High, erklärt: „Diese Sanktionsdrohungen der Behörde haben weder die Entschlossenheit der KollegInnen an meiner Schule noch die der LehrerInnen an anderen Schulen der Stadt verringert, die MAP-Tests zu boykottieren“. Der Geschichtslehrer Jesse Hagopien ergänzt: „LehrerInnen, die sich gegen unfaire Tests auflehnen, gehorchen den Grundlagen der Bildungsgerechtigkeit. Wenn die Behörde die Drohungen gegen den Lebensunterhalt der LehrerInnen fortsetzt, wird es eine weltweite Solidaritätskampagne für die Garfield High School geben“.

Auch in Grossbritannien haben Politiker aller Couleur die Ausrichtung des US-amerikanischen Bildungswesens in den letzten beiden Jahrzehnten übernommen. Alle vertreten sie die Privatisierung der Bildung in der Form von Akademien und freien Schulen und die Test-Manie für Kinder, und alle blenden die Tatsache aus, dass Armut und die soziale Klassenzugehörigkeit entscheidende Faktoren für den Bildungserfolg sind.

Eine weitere Idee aus den USA, welche die liberal-konservative britische Koalitionsregierung einzuführen wollen scheint, ist die leistungsabhängige Bezahlung von LehrerInnen, d.h. orientiert an Testergebnissen und Examensnoten der SchülerInnen. Wenn die Ergebnisse einer Schule niedrig sind, drohen den LehrerInnen Lohnkürzungen bis hin zur Schließung der Schule oder deren Umwandlung in eine Akademie. Im Gegensatz dazu sollte aber der Fokus auf der Verbesserung der Bildungsqualität für benachteiligte junge Menschen liegen, und dies sollte einher gehen mit einer Bekämpfung der Kinderarmut und der hohen Jugendarbeitslosigkeitsrate.

Ende März schrieb Schulrat Banda den Seattler LehrerInnen, dass sie keine Disziplinarmaßnahmen für die Boykottaktion zu erwarten hätten. Das ist ein eindeutiger Rückzug. Die Boykottkampagne geht mit den demnächst anstehenden Frühjahrs-MAP-Tests weiter.