Osterweiterung der EU

Eine erste Zwischenbilanz
 
Was im Wahlkampf „jener Professor aus Heidelberg“ kundtat, rückt mit der Großen Koalition, an deren Start ein Kassensturz stehen wird, näher: eine auf längere Frist gesehen radikale Steuerreform mit erhöhter Mehrwertsteuer und weiter abgesenkten Kapitalsteuern. Auch wenn noch nicht alle Steuerarten einen Einheitssatz haben werden, so ist der Trend doch auch eine Fernwirkung des slowakischen Modells, wo seit dem 1. Januar 2004 die Einkommens-, Körperschafts- und Mehrwertsteuer auf einheitliche 19 Prozent festgelegt wurde. Seither haben sich in dem neuen EU-Mitgliedsland die Umverteilung von unten nach oben und der Run westlicher Konzerne zur Kapitalanlage intensiviert.
Just so war es geplant: Das slowakische Modell des Steuer- und Lohndumpings ist charakteristisch für die Wirkungsweise der EU-Osterweiterung, die am 1. Mai 2004 vollzogen wurde.
Die Osterweiterung der EU wurde von vielen als win-win-Projekt beschrieben. Die führenden Wirtschaftsinstitute errechneten ökonomische Vorteile für beide Seiten. Eineinhalb Jahre nach der formellen EU-Osterweiterung, dem eine mehr als ein Jahrzehnt andauernde reale Erweiterung vorgeschaltet war, sind als Gewinner nur die Konzerne und Banken auszumachen. Lohnabhängige, Erwerbslose und Gewerkschaften sind in Ost und West die Verlierer.
Offensichtlich zielt die EU-Osterweiterung auf ein riesiges Potenzial von Menschen, wie es dies bei keiner der vorausgegangenen Erweiterungen gab. Allein in den neuen östlichen EU-Mitgliedsländern (ohne Malta und Zypern) und in den drei Ländern Bulgarien, Rumänien und Kroatien, die als sichere nächste EU-Staaten gehandelt werden, leben mehr als 105 Millionen Menschen, gut ein Drittel der Gesamtbevölkerung der Eurozone. Da in allen diesen Ländern keine relevante eigenständige „nationale“ Wirtschaft mehr existiert, steht dieses Potenzial den Konzernen von Kerneuropa für deren Mehrwertproduktion und als Absatzmarkt fast uneingeschränkt zur Verfügung.

Osteuropa bleibt abgehängt

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner liegt bei den neuen Mitgliedsländern – mit der Ausnahme von Slowenien – durchschnittlich bei einem Drittel des Eurozonen-Niveaus. Bei der EG-Süderweiterung, als Griechenland (1981) und Spanien und Portugal (1986) neue Mitglieder der Gemeinschaft wurden, war die Kluft weit geringer. Bereits vor diesem Hintergrund ist die These, am 1. Mai 2004 habe es einen Startschuss für eine „Aufholjagd“ der neuen EU-Mitgliedsstaaten gegeben, nicht haltbar. Selbst bei fortgesetzt hohen Wachstumsraten könnten die neuen Länder in den nächsten zwei Jahrzehnten das Niveau von Kerneuropa nicht erreichen.
Hinzu kommt, dass die jüngsten Zahlen überwiegend von einem deutlich geringeren Wachstum berichten. Insbesondere in Polen und Ungarn (und bei dem Beitrittskandidaten Rumänien) kommt es 2005 gegenüber 2004 zu einem deutlich reduzierten BIP-Wachstum.  Gleichzeitig hat die EU-Erweiterung in Kerneuropa keinen Wachstumsschub gebracht. Im Gegenteil – 2005 liegt die Eurozone mit einem prognostizierten Wachstum von weniger als zwei Prozent erneut an der Schwelle zur Stagnation.
Vieles spricht für eine Wiederholung der deutschen Entwicklung: Nach einigen Jahren mit deutlich überproportionalem Wachstum in den neuen Bundesländern kam es zu einer Anpassung der Wachstumsraten, damit zu einer Festschreibung der bestehenden ökonomischen und sozialen Kluft. In den letzten Jahren traten spezifische Krisenerscheinungen auf, was sogar zu einer neuerlichen Ausweitung der sozialen Diskrepanzen führt.

Bauernlegen

Für das letztere sprechen bei der EU-Osterweiterung vor allem einige der sozialen Indikatoren. Die Erwerbslosenquoten in den neuen Beitrittsländern liegen teilweise deutlich über dem EU-Durchschnitt. Dies trifft insbesondere auf das bevölkerungsreichste neue EU-Land, Polen, mit einer offiziellen Arbeitslosenquote von 19 Prozent zu. Es folgen die Slowakische Republik mit 17 Prozent und Litauen und Lettland mit elf und zehn Prozent. Es handelt sich dabei gleichzeitig um diejenigen Länder, die noch am stärksten von ihrem jeweiligen Agrarsektor geprägt sind (in Polen arbeiten 19,3 Prozent in diesem Sektor). Diese Anteile werden unter den gegebenen Bedingungen eines starken und hoch subventionierten Agrarsektors in Kerneuropa schnell reduziert und in die Nähe des durchschnittlichen Werts in der Eurozone von 3,2 Prozent gebracht werden.
Hinter den abstrakten Zahlen und Durchschnittswerten steht die bittere soziale Realität. Im nordpolnischen Ort Garbno gab es bis Anfang der neunziger Jahre eine Kolchose, die 1.000 Landarbeiter beschäftigte und bis zur Wende eine der ertragreichsten in ganz Polen war. Der Landwirtschaftsbetrieb wurde geschlossen. Die Arbeitslosigkeit in der Region liegt heute bei 40 und mehr Prozent. Stefania Siewruk-Welens, Direktorin der Dorfschule mit 350 Kindern, weiß: „Für ein Viertel unserer Kinder ist das Schulessen die einzige Mahlzeit am Tag.“ Sie fürchtet, dass auch die „Schule bald dicht gemacht wird“ (Tagesspiegel vom 12. Februar 2004).

Lohndumping in Ost – und West

Es sind vor allem die extremen sozialen und wirtschaftlichen Diskrepanzen, die das Dumping im Lohnsektor, im Bereich der sozialen Sicherheiten und bei den Steuern antreibt. Die in den neuen EU-Ländern gezahlten Löhne liegen teilweise – so in den baltischen Staaten – bei einem Zehntel des Niveaus in Kerneuropa. Die Löhne in der industriell hoch entwickelten Slowakei machen mit weniger als 400 Euro brutto im Monat nur 18 Prozent der Bruttolöhne in Kerneuropa aus. Es bedarf gar nicht der Wanderung von Millionen Menschen – allein die extrem unterschiedlichen Bedingungen in ein und demselben Wirtschaftsraum müssen soziale Erosionen hervorrufen. Die Electrolux-Manager, die das Nürnberger AEG-Werk schließen und bis zu 2.000 Beschäftigte entlassen wollen, erklären kühl, dass der lohnintensive Sektor der Hausgerätefertigung perspektivisch nur in den neuen östlichen EU-Ländern oder in der östlichen EU-Peripherie eine Überlebenschance habe.

Steuerdumping für Unternehmer

Die eingangs skizzierte flat tax von 19 Prozent, die in der Slowakei am 1. Januar 2004 in Kraft trat, war nur der Auftakt. Kurz danach führte die neue Regierung in Rumänien eine 18-Prozent-Einheitssteuer ein. In Bulgarien wurde der Körperschaftssteuersatz auf 15 Prozent gesenkt. Längst ist auch Kerneuropa vom Steuerdumping erfasst. Österreich reduzierte 2005 die Körperschaftssteuer von 34 auf 25 Prozent und wirbt mit der neu aufgebauten Ansiedlungsagentur Austrian Business Agency (ABA) aggressiv auch bei deutschen Unternehmen um die Industrieansiedelung. Die 25 Prozent sind just die Zahl, die der Union als neuer deutscher Körperschaftssteuersatz vorschwebt.
„Für Mindeststeuern wird es in Brüssel keine Mehrheiten geben. Die EU braucht doch diesen Steuerwettbewerb. Damit werden längst überfällige Reformen angestoßen“ (Ivan Miklos, slowakischer Finanzminister auf dem Munic Economic Forum). Das will heißen: Mindestnormen für agrarische Erzeugnisse machen Sinn, weil sie das Bauernlegen beschleunigen. Das Ausbleiben von Mindestnormen beim „Steuerwettbewerb“ macht Sinn, weil damit das Lohn- und Sozialdumping beschleunigt und die Profitmargen weiter angehoben werden.

Abhängigkeit vom Kapital in Westeuropa

Tatsächlich befindet sich nicht nur der Balkan, sondern ein großer Teil der neuen EU-Mitgliedsstaaten und der neuen „EU-Peripherie“ in einem Abhängigkeitsverhältnis von den Kräften, die in Kerneuropa dominieren.
So gilt das für den Finanzsektor, der in allen neuen östlichen EU-Mitgliedsländern und weitgehend in der neuen EU-Peripherie – ausgenommen Weißrussland – zu 80 und mehr Prozent von österreichischen, italienischen, belgischen und deutschen Banken kontrolliert wird.
Ein weiteres Element in diesem Abhängigkeitsverhältnis sind die ausländischen Direktinvestitionen, die fast ausschließlich aus Kerneuropa kommen und die das gesamte wirtschaftliche Leben bestimmen. In Ungarn und in Tschechien macht der Anteil der ausländischen Direktinvestitionen jeweils rund die Hälfte des gesamten Bruttoinlandprodukts aus.
Hinzu kommt der hohe Verschuldungsgrad und die Art dieser neuen Schulden. Es handelt sich dabei zu einem großen Teil um Auslandsschulden. Allein die acht osteuropäischen Beitrittsländer sind gegenüber westeuropäischen und US-Banken inzwi-schen mit 240 Milliarden Euro verschuldet.
Die imperialistische, teilweise bereits neokoloniale Abhängigkeit wird abgerundet im Bereich der Medien. Anlässlich des Starts des polnischen Boulevard-Blattes „Fakt“ aus dem Hause Springer im Jahr 2003 stellte die Financial Times Deutschland nüchtern fest: „Der Großteil der Pressemärkte in den ost- und mitteleuropäischen Beitrittsländern wird bereits von deutschen Verlagen beherrscht.“

Billigarbeitskräfte

Die Erdbeerernte in Spanien wurde noch vor wenigen Jahren von marokkanischen Erntehelfern ohne Aufenthaltspapiere eingebracht. Als diese für ihre Legalisierung streikten, kam erfreulicherweise die EU-Osterweiterung. Seither werden jährlich rund 20.000 OsteuropäerInnen, überwiegend RumänInnen, mit Bussen nach Spanien zur Erdbeerernte gebracht. In Marokko und in Rumänien werden Milliarden Euro in moderne und damit tödliche Sicherungsanlagen investiert. Längst zieht der Treck weiter ostwärts. Weißrußland, in heftiger Konkurrenz mit China stehend, gilt bereits als „Nähstube der EU“. Unter anderem werden aus diesem Billiglohnland jährlich 200.000 Polizeiuniformen nach Deutschland verschickt.

Ein win-loose-Projekt

Es gibt aber neben all den Besonderheiten auch einen tiefer liegenden Grund dafür, weswegen die Osterweiterung ein win-loose-Projekt sein muss. Karl Marx kritisierte in seiner Schrift „Kritik des Gothaer Programms“ die Phrase vom „gleichen Recht“. Er argumentierte: „Die Gleichheit besteht darin, dass an gleichem Maßstab, der Arbeit gemessen wird. Der eine ist aber physisch und geistig dem anderen überlegen, liefert also in derselben Zeit mehr Arbeit oder kann während mehr Zeit arbeiten; und die Arbeit, um als Maß zu dienen, muss der Ausdehnung und der Intensität nach bestimmt werden (…) dies gleiche Recht ist ungleiches Recht für ungleiche Arbeit. Es erkennt keine Klassenunterschiede an; aber es erkennt stillschweigend die ungleiche (…) Leistungsfähigkeit als natürliche Privilegien an. Es ist daher ein Recht der Ungleichheit.“

von Winfried Wolf