Zwei Jahre Ukraine-Krieg – sieben Erkenntnisse

Die russische Invasion der Ukraine markierte einen Wendepunkt der Weltlage. Verschärft durch die globale Krise des Kapitalismus, eskalieren die Spannungen zwischen den imperialistischen Lagern. Der Krieg in der Ukraine ist mittlerweile fest eingebettet in die globale Blockbildung zwischen „Ost“ und „West“. Die Militarisierung weltweit nimmt zu. 

Von Sebastian Rave, Bremen, und Sascha Rakowski, Köln

1. Der imperialistische Massenkrieg des 20. Jahrhunderts ist zurück 

Die beiden größten Armeen Europas sind in den blutigsten Konflikt auf dem Kontinent seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verwickelt. In den gefrorenen Steppen der Süd- und Ostukraine kämpfen Millionen Männer und Frauen täglich um geringfügige Fortschritte der Armee um einige hundert Meter. Jeden Tag sterben tausende Menschen oder werden zu Invaliden in den endlosen, mit Stacheldraht bewehrten Schützengräben, in Minenfeldern oder verbrennen in gepanzertern Fahrzeugen.

Die Triebfeder dieses Massakers ist nicht in der Psychologie Putins zu finden. Hier kämpft auch nicht Autokratie gegen Demokratie. In der Ukraine stoßen die ökonomischen und geopolitischen Interessen von Großmächten aufeinander. Die russische Invasion der Ukraine war die imperialistische Antwort auf die ebenso imperialistischen Bestrebungen, die politisch destabilisierte Ukraine in die westliche Einflusssphäre zu ziehen. 

2. Der High-Tech-Krieg ist eingebettet in die globale Blockbildung 

Die Fortschritte der modernen Technologie – Luftabwehrraketen, Panzerabwehr, kostengünstige Drohnen – haben den Radius der Zerstörung einzelner Infanterieeinheiten erheblich erweitert. Gleichzeitig blockiert die hohe Konzentration von Luftabwehr den Einsatz der Luftwaffe beider Länder.

Beide Kriegsparteien sind vollständig abhängig von ihren „Großen Brüdern“. Die russische Ökonomie ist mittlerweile zum größten Teil auf Im- und Exporte aus China und dessen Partnern umgestellt. Militärtechnologie aus China und Munition aus Nordkorea sind für die russischen Kriegsanstrengungen ebenso wichtig wie militärische Drohnen aus dem Iran. 

Für die Ukraine gilt das gleiche: Ohne Militärhilfe von NATO-Verbündeten – Kampfpanzer, Truppentransporter, Flugabwehr- und Artilleriesysteme, Panzerabwehrwaffen – wäre die Front längst zusammengebrochen. Die Rückeroberung größerer Gebiete um Cherson und Charkiw wäre ohne westliche Waffensysteme nicht möglich gewesen.

3. Die Materialschlacht führt zur Pattsituation 

Beide Armeen stecken trotz der weltweit höchsten Konzentration an Zerstörungsmitteln in einer Pattsituation fest. Jeder Versuch, Kräfte für einen Durchbruch zu konzentrieren, endet mit Raketen- und Artillerie- oder Drohnenangriffen an der fast lückenlos überwachten Front.

Weder die ukrainischen Generäle Saluschnyi und Syrskyj noch ihre Gegner in Moskau erwarten schnelle Siege. Der Krieg hat sich in ein langsames, blutiges Ringen mit dem Ziel der Erstickung des Feindes verwandelt. Obwohl genaue Angaben zu den Verlusten beider Armeen geheim sind, sprechen selbst patriotische ukrainische Politiker wie Arestowitsch von jeweils 300.000 Toten und Verwundeten in jeder der beiden Armeen.

Der Krieg ist zu einem langsamen und schrittweisen Zermahlen von Menschen, Ressourcen und Reserven geworden. Wenn die menschlichen und technischen Reserven einer der Armeen erschöpft sind, kann die Front zusammenbrechen.

4. Der Krieg wird auf dem Rücken der einfachen Bevölkerung ausgetragen 

Eine wichtige Rolle spielt die Rüstungsindustrie beider Länder, daher wurden in letzter Zeit die Raketen- und Drohnenangriffe der russischen Armee auf das industrielle Potenzial ukrainischer Städte gerichtet. Darunter leidet die ukrainische Zivilbevölkerung. Aber auch in der russischen Grenzstadt Belgorod werden immer wieder Zivilist*innen durch ukrainische Angriffe getötet. 

Der Krieg hat bereits enorme Mengen von militärischer Ausrüstung verschlungen – das Ergebnis von Milliarden Arbeitsstunden, die woanders fehlen. Der Mangel an Ausrüstung muss durch die Verfügbarkeit von immer neuen Truppen ausgeglichen werden. 

5. Die ukrainische Armee blutet aus 

Die Zeiten des massiven Beitritts von Freiwilligen zur ukrainischen Armee sind längst vorbei. Die Regierung plant deshalb, 500.000 weitere Soldat*innen zu mobilisieren. Dabei soll es kein Recht auf Verweigerung geben, und die Einberufung wird auch an Ukrainer*innen geschickt, die im Ausland leben. 

Militär-Rekrutierer machen Jagd auf Männer im wehrpflichtigen Alter. Ukrainer*innen versuchen das Land zu verlassen: 17.000 wurden bisher bei der illegalen Ausreise festgenommen. Andere konnten sich über Korruption freikaufen. Viele verlassen ihre Viertel oder oft sogar ihre eigenen Wohnungen nicht, um den Rekrutierern zu entgehen. Es gibt Telegram-Kanäle, um sich gegenseitig vor Rekrutierern zu warnen. 

Auch in der herrschende Klasse nimmt die Kriegsmüdigkeit zu: Ein Teil des Militärapparats unter der Führung von General Saluschnyi und der Oberbürgermeister von Mykolajiw, Kim, drängen auf den Bau von Befestigungen, um den Krieg einzufrieren. Der einflussreiche ehemalige Berater von Selenskyj, Oleksij Arestowitsch, ruft sogar zu Friedensverhandlungen auf. 

6. Für beide Kriegsparteien erhöht sich der innenpolitische Druck 

Die auf enormen Gas- und Ölreserven sitzende Putin-Clique verfügt über weit größere finanzielle Möglichkeiten als die Regierung Selenskyj. Mit hohen Gehältern von 2500 Euro und mehr pro Monat gelingt ihr die Rekrutierung von durch Kredite gequälten Armen, Jugendlichen aus verarmten Regionen und Menschen, die wegen kleiner Vergehen ins Gefängnis gekommen sind.

Trotz der vergleichsweise vorsichtigen Mobilisierungspolitik sind Hunderttausende von jungen russischen Männern nach Georgien, Armenien, die Türkei und andere Länder geflohen. Die Gesamtzahl der Migrant*innen könnte eine Million Menschen überschritten haben. Viele befürchten schärfere Mobilisierungsmaßnahmen nach den Wahlen im Frühjahr 2024.

Oppositionelle Stimmungen bei der Jugend sind vor allem in der Gruppe junger städtischer Arbeiter*innen verbreitet. Die Unterstützung für den Krieg ist in den letzten zwei Jahren um die Hälfte gesunken und liegt bei etwa einem Viertel bis maximal einem Drittel der Bevölkerung.

In der russischen Teilrepublik Baschkortostan wurde am 17. Januar der Ökoaktivist und Kriegsgegner Fail Alsynow verhaftet. Daraufhin versammelten sich 10.000 Protestierende vor dem Gerichtsgebäude. Spezialkräfte lösten die Demonstration gewaltsam auf. Sowohl in der Ukraine als auch in Russland hat es Proteste von Angehörigen von Soldat*innen gegeben, die eine Rotation oder Demobilisierung forderten. 

7. Das Putin-Regime ist morsch 

Die beste Option für die ukrainische Bevölkerung wäre der Aufstand der russischen Arbeiter*innenklasse und Jugend gegen die Putin-Bande. Die Fragilität des Putin-Regimes wurde bereits durch den Putsch des Söldnerkorps Wagner demonstriert, das durch ganz Zentralrussland marschierte und dabei auf breite Unterstützung stieß. 

Trotz der durch den Krieg enthüllten Korruption und der Lügen der Oligarchenherrschaft hat Putin immer noch die Unterstützung eines erheblichen Teils der Bevölkerung. Viele haben Angst vor dem Zusammenbruch Russlands nach einer Niederlage und vor der Wiederholung der imperialistischen Plünderung Russlands wie in den 1990er Jahren, vor allgemeiner Armut und Zerstörung. Doch diese Unterstützung hat ein Verfallsdatum. Die Hauptwähler*innenschaft Putins, ältere Arbeiter*innen und die unteren Schichten der Mittelklasse, unterstützen ihn nur, solange Krieg und Krise nicht ihre Städte und Familien erreichen. 


Militarisierung nimmt zu – weltweit 

Scholz’ „Zeitenwende“ begründete das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Aufrüstung der Bundeswehr. Ähnliche Entwicklungen gibt es in anderen Ländern. Der Haushalt des baldigen NATO-Mitglieds Schweden sieht eine Erhöhung der Rüstungsausgaben um 27 Milliarden auf 119 Milliarden Kronen (10 Milliarden Euro) vor. Die japanische Regierung möchte in den nächsten fünf Jahren die Militärausgaben um 65 % auf 2 % des BIP erhöhen und damit den drittgrößten Verteidigungshaushalt der Welt stellen. Die USA planen, die Rekordsumme von 886 Milliarden Dollar für ihre Armee auszugeben. Russland erhöht sein Militärbudget um 68 % auf ein Drittel seines Gesamthaushaltes. All diesen Ländern ist übrigens gemein, dass Gesundheitssystem, Bildung und Soziales dringend Geld brauchen. 

Planspiele der NATO skizzieren zum Ende dieses Jahres einen russischen Angriff auf das Baltikum und die Mobilisierung von 300.000 kampfbereiten NATO-Soldat*innen. Um sich auf solche Szenarien vorzubereiten, wird im Februar das größte Militärmanöver seit Ende des Kalten Krieges mit 90.000 Soldat*innen durchgeführt, ausdrücklich zur Abschreckung Russlands. Bei solchen Planspielen und Manövern geht es nicht nur um die logistische Vorbereitung auf den Krieg, sondern auch um dessen Normalisierung in den Köpfen. 

Bundesverteidigungsminister Pistorius sprach im November 2023 davon, dass Deutschland „kriegstüchtig“ werden müsse. Der schwedische Verteidigungsminister sagte diesen Januar, dass sich die Bevölkerung auf einen Krieg einstellen solle. Und auch das russische Außenministerium gab im November letzten Jahres an, dass Russland bereit für einen Krieg mit der NATO sei, wenn diese es darauf anlege. Der Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Admiral Rob Bauer, sprach von der Notwendigkeit, „das Unerwartete zu erwarten“.

Die Herrschenden beider Seiten demonstrieren bei jeder Gelegenheit die Bereitschaft, in den Krieg zu ziehen. Oder um genauer zu sein: ihre Untertanen in den Krieg zu schicken. Frei nach einem Märchenkönig: „Einige von Euch sterben vielleicht, aber das ist ein Opfer, das ich bereit bin einzugehen!“ Zeit, die Märchenkönige auf beiden Seiten abzusetzen. 

Foto: Protest am 24.2.2022 in Moskau. Акутагава, CC BY-SA 4.0 , via Wikimedia Commons