Beim Angriff von Terroristen auf den Konzertsaal Krokus City Hall in Krasnogorsk am 22. März starben mindestens 137 Menschen, darunter drei Kinder. Hauptsächlich waren dies Bewohner*innen der Moskauer Region, Arbeiter*innen und Angestellte mittleren Alters, die zu einem Konzert der Rockband Picknick gekommen waren. Die Angreifer*innen wurden am nächsten Tag einige hundert Kilometer von Moskau entfernt, nahe der belarussischen und ukrainischen Grenze, gefasst. Die Held*innen waren nicht die Polizist*innen oder Spezialeinheiten, sondern die jungen Mitarbeiter*innen des Konzertsaals, oft Teenager*innen, die bei Konzerten jobben und trotz Panik und ausbrechendem Feuer Tausende von Menschen aus der Feuerfalle führten.
von Sascha Rakowski, Aachen
Obwohl die Verantwortung für den Vorfall vom “Islamischen Staat” übernommen wurde, behaupteten rechtsgerichtete russische Politiker bereits in der Nacht von Freitag auf Samstag, dass ukrainische Geheimdienste an diesem terroristischen Akt beteiligt seien. Am folgenden Tag erklärte der FSB offiziell, dass die Terroristen planten, die russisch-ukrainische Grenze zu überqueren und Kontakte auf der ukrainischen Seite hätten.
Warum die Ukraine?
Die katastrophale Fehleinschätzung der russischen Geheimdienste ist offensichtlich. Die Brisanz der Situation liegt darin, dass die amerikanischen Geheimdienste bereits Anfang März öffentlich vor terroristischen Akten in Moskau gewarnt hatten. Möglicherweise hat diese Warnung und die erhöhten Sicherheitsmaßnahmen der russischen Polizei den ersten Versuch eines Terrorakts am 8. März vereitelt. Putin selbst verglich am 19. März die Aussagen westlicher Geheimdienste über die Möglichkeit von Terroranschlägen mit Erpressung. Er betonte, dass die Äußerungen von Vertreter*innen westlicher Geheimdienste ein Versuch seien, die Bevölkerung Russlands einzuschüchtern. Auf diese Weise hat der russische Staatsapparat es geschafft, sich auf höchster Ebene zu blamieren. Daher ist der Versuch, eine ukrainische Verwicklung zu finden, ein Versuch für den gescheiterten “Garanten der Sicherheit”, den totalen Misserfolg der Geheimdienste auf seinen erklärten Feind abzuwälzen.
Warum Tadschikistan?
Anscheinend wurden vier junge Tadschiken zu „Hauptakteuren“ des blutigen Massakers. Tadschikistan ist ein kleiner Staat im Pamir-Gebirge gepresst zwischen Afghanistan, China und Usbekistan. Die ärmste Republik in Zentralasien ist eine Halbkolonie der Russischen Föderation, eine Quelle von Rohstoffen und Arbeitskräften für das russische Kapital. Das Land ist reich an Ressourcen, aber es fehlt an Kapital und Technologie, um sie durch Förderung und Export zu nutzen. Der russische Kapitalismus kam zur “Hilfe”: Russland ist nicht nur der größte Handelspartner Tadschikistans, sondern auch der dortige Hauptinvestor. Russische Kapitalist*innen kontrollieren Hunderte von Unternehmen in den Bereichen Bauwesen, Telekommunikation, Energie und Handel. Nach verschiedenen Schätzungen leben und arbeiten drei Millionen legale und illegale tadschikische Migrant*innen in Russland – das entspricht einem Drittel der tadschikischen Bevölkerung. Tadschik*innen sind in Russland längst zum Synonym für die ärmsten und rechtlosen Arbeiter*innen geworden: Reinigungskräfte, Bauarbeiter, Restaurantangestellte.
Das russische Kapital in der Region wird durch eine Militärbasis – die größte außerhalb Russlands – geschützt. Dort ist die stärkste Armee in Zentralasien stationiert. Die Ausbeutung des Landes durch russisches Kapital und die Unterstützung des korrupten Diktators Emomali Rachmon durch russische Bajonette sind kein Geheimnis. Da im Land jegliche Möglichkeit einer legalen Opposition vollständig unterdrückt wird, konzentriert sich der soziale Protest in illegalen islamischen Milizen. Die militante islamische Opposition wird derzeit von islamistischen Strukturen unter den Tadschiken Afghanistans unterstützt.
Folgen des Anschlages
Leider wird dieser terroristische Akt die politische Situation in Russland, Osteuropa und Zentralasien negativ beeinflussen. Putin wird zweifellos versuchen, die erfundene ukrainische Spur als Legitimation für gnadenlose Bombardierungen ukrainischer Städte und Infrastruktur zu verwenden. Das Internet ist bereits voll von Fotos mit russischen Raketen, die mit Graffiti “für Krokus” besprüht sind.
Russische rechte Straßenbanden werden den Terror gegen Millionen Migrant*innen verstärken, die in allen größeren Städten Russlands leben und arbeiten. Mit Hilfe der Polizei, Faschist*innen, aufgehetzter Presse und korrupter Politiker*innen wird ders russische Staat den Druck auf Gastarbeiter*innen und vor allem auf ihre Arbeitsbedingungen und Löhne verstärken. Nicht nur Arbeitsmigrant*innen aus Zentralasien werden leiden, sondern auch Russ*innen mit „falschem“ Aussehen oder „falscher“ Religion. Die erste Manifestation dieser Politik waren Polizeirazzien in Hostels und Wohnheimen, in denen Arbeiter*innen aus dem Kaukasus und Zentralasien leben. Das bankrotte Regime wird zweifellos den Druck auf alle Oppositionsgruppen und Minderheiten verstärken. Symbolisch ist die Tatsache, dass am Tag der Anschläge im Krokus City Hall die Regierung die LGBTQ-Bewegung auf die Liste der terroristischen Organisationen gesetzt hat.
Was tun?
Die beste Verteidigung gegen blutige terroristische Angriffe besteht nicht darin, den Staatsapparat weiter zu stärken oder Druck auf Migrant*innen und die ärmsten Schichten der Gesellschaft auszuüben. Polizeirazzien in den Unterkünften für Gastarbeiter, eine Verschärfung des Visa-Regimes und Verhaftungen muslimischer Prediger werden nur zu einer weiteren Radikalisierung junger muslimischer Arbeiter*innen in der Russischen Föderation und in anderen Republiken der ehemaligen UdSSR führen.
Das russische Regime ist für junge Bäuer*innen und Arbeiter*innen aus Kirgisistan, Tadschikistan, Kasachstan und Usbekistan ein Symbol für soziale Ungerechtigkeit, Korruption und Imperialismus. Die einzige wahre Antwort auf den Terrorismus in Russland und den Aufstieg des militanten Islamismus in Zentralasien wäre die Wiederbelebung linker und Arbeiter*innenparteien und -bewegungen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Nur solche Massenorganisationen und Gewerkschaften könnten Arbeiter*innen aus verschiedenen Republiken und mit verschiedenen Religionen zu einer gemeinsamen Kraft vereinen, die sowohl dem Imperialismus des russischen Regimes als auch den blutigen Diktaturen regionaler Despoten Widerstand leisten würde.
Heute mag diese Perspektive für viele wie eine romantische Fantasie erscheinen. Aber die Erfahrung der russischen Arbeiter*innenbewegung, die den Zarismus und die herrschende Klasse des Imperiums gestürzt hat, verweist auf das Gegenteil. Russische, ukrainische, jüdische, finnische, tatarische, armenische, aserbaidschanische Arbeiter*innen konnten auf der Grundlage eines sozialistischen Programms und der Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung für alle Völker eine vereinte Kampforganisation schaffen, die dem russischen und vielleicht sogar der gesamten weltweiten herrschenden Klasse einen der schwersten Schläge in der Geschichte versetzte. Der Weg ist schwer, aber wir haben keine andere Wahl.
Bild: Mosreg.ru, CC BY 4.0