Debatte zu Befreiung, Selbstbestimmung und Existenzrecht in Nahost: Was liegt zwischen Fluss und Meer?

“Free Palestine” – das ist keine Frage. Ohne das Ende der Besatzung und Belagerung wird es keinen Frieden im Nahen Osten geben. Doch wie würde ein freies Palästina aussehen, woraus würde es bestehen? Muss die Staatlichkeit in der Region ganz neu sortiert werden, mit einem gemeinsamen Staat, in dem Palästinenser*innen und Jüd*innen zusammenleben? Wie kann die Befreiung gegen den Widerstand des hochgerüsteten israelischen Staates durchgesetzt werden?

Von Claus Ludwig, Köln

Der deutsche Staat will die inhaltliche Debatte mit Repression ersticken. Der Slogan “From the river to the sea, Palestine will be free” (“Vom [Jordan-]Fluss bis zum [Mittel]meer, Palästina wird frei sein”) darf auf Demonstrationen nicht gerufen werden, in Bayern ist er als “Terror-Kennzeichen” definiert und wird strafrechtlich verfolgt. Es drohen laut §86a StGB eine Geldstrafe oder bis zu drei Jahre Haft.

Was bedeutet “From the river to the sea”?

Doch der Slogan ist keineswegs eindeutig – und vor allem ist er ursprünglich keine Losung der islamistischen Hamas. Das Verwaltungsgericht Berlin hatte noch im August 2023 geurteilt, dass “From the river to the sea” nicht per se strafbar sei. Tatsächlich kann die Parole vielfältig interpretiert werden. Sie kann die Vorstellung eines gemeinsamen demokratischen Staates auf dem Gebiet Palästinas meinen oder sie kann schlicht ausdrücken, dass alle Palästinenser*innen frei von Unterdrückung leben wollen, in welcher Staatsform auch immer. Reaktionäre Islamist*innen mögen sie inzwischen auch verwenden, um damit ausdrücken, dass sie die Jüd*innen aus der Region vertreiben wollen.

Im Alltag werden viele Palästinenser*innen diesen Slogan als “Maximalforderung” verstehen, mit denen man in die Verhandlungen geht und froh ist, wenn die Westbank nicht noch weiter durch Siedlungen verkleinert wird und es irgendeine Perspektive auf Selbstbestimmung gibt. Doch der inoffizielle Slogan der Netanyahu-Regierung ist “From the river to the sea, Palestine will never be”. Im Westjordanland werden palästinensische Dörfer eingekreist und Menschen vertrieben. In Ost-Jerusalem schreitet der Landraub vorwärts. Nicht geringe Teile der israelischen Rechten träumen davon, auch am Meer, auf den Trümmern Gazas, Platz für Siedlungen zu schaffen.

Wir weisen die Sprechverbote des deutschen Staates und die unwahre Behauptung zurück, dass “From the river to the sea” per se gegen jüdische Menschen gerichtet sei und verteidigen das Recht, diesen Slogan in Deutschland zu verwenden. Trotzdem verwenden wir ihn nicht selbst. Es ist nicht allein entscheidend, was mit der Forderung gemeint ist, sondern auch, wie sie in Israel verstanden wird. Da sie als ersatzlose Auflösung des Landes verstanden werden kann, halten wir sie nicht für geeignet, um innerhalb der jüdischen Bevölkerung die Kritik am Zionismus zu befördern.

PLO und palästinensische Linke

Die 1964 gegründete palästinensische Befreiungsbewegung PLO und die Ende der 1960er Jahre entstandenen linken Organisationen wie die PFLP (Volksfront zur Befreiung Palästinas) und DFLP (Demokratische Volksfront) betrachteten Israel als illegitimen Siedlerstaat, welcher die nationale und soziale Befreiung vom Imperialismus unmöglich machen würde.

Die Vorstellung der palästinensischen Linken war, dass durch den Sieg des Befreiungskampfes, der vor allem militärisch und diplomatisch gedacht wurde, der exklusiv jüdisch-religiös definierte Staat Israel überwunden werden und ein neuer Staat Palästina entstehen würde, der laizistisch und demokratisch sein sollte und in dem beide Völker bzw. Religionen unter Wahrung ihrer Rechte und Besonderheiten miteinander leben könnten. Die Idee eines gemeinsamen Palästinas beschränkte sich nicht auf die Palästinenser*innen. Auch der antizionistische Teil der jüdisch-israelischen Linken vertrat und vertritt diese Position.

Die palästinensischen Linken verharrten dabei im Denken der Etappentheorie, die aus der stalinistischen Ideologie hervorgegangen war: die erste Etappe sollte die nationale Befreiung sein, die zur Gründung eines demokratischen Staates führen würde. Erst nach der Lösung der nationalen Frage würde sich der Klassenkampf entwickeln und die soziale Befreiung käme auf die Tagesordnung. Marxist*innen gehen hingegen davon aus, dass die Lösung der nationalen Frage und die Abschaffung des Kapitalismus nicht voneinander zu trennen sind.

Jüdische Staatenbildung

Vor dem Zweiten Weltkrieg handelte es sich beim Zionismus um ein Projekt von Siedlung und Landnahme, ohne die von der Existenz einer jüdisch-israelischen Nation auf dem Gebiet Palästinas die Rede sein konnte. Der Völkermord an Europas Jüd*innen erzeugte jedoch eine gewaltige Wucht für eine Staatsbildung. Viele Überlebende sahen in einem jüdischen Staat die einzig vorstellbare Möglichkeit, sich zu schützen und einen zweiten Holocaust zu verhinden.

Nach dem gewonnenen Krieg gegen die arabischen Armeen und die palästinensischen Milizen 1949 verfestigte sich diese Nation. Israel entwickelte sich zu einem bürgerlichen Staat, die Klassen differenzierten sich aus. Es blieben Besonderheiten: die zionistische Ideologie und die Lage als westlicher Wachturm im Nahen Osten wirkten als Kitt, der das Land klassenübergreifend zusammenhielt. Bedeutende Teile der jüdisch-israelischen Gesellschaft profitieren bis heute direkt vom Landraub im Westjordanland und Ost-Jerusalem. Dieses Plündern und Rauben korrumpiert auch aus der Arbeiter*innenklasse stammende Schichten und verwandelt sie in Profiteure des Besatzungsregimes.

Existenzrecht Israels?

Doch trotz dieser Besonderheiten: eine jüdisch-israelische Nation im Nahen Osten existiert. Daraus ergibt sich aus sozialistischer Sicht, dass die Jüd*innen im Nahen Osten das Recht auf nationale Selbstbestimmung haben, wenn sie wollen, auch in einem eigenen Staat. Teilen der palästinensischen Linken vertreten noch immer die Definition der PLO, bei den Jüd*innen handele es sich nicht um eine Nation, sondern um eine religiöse Gemeinschaft, die keinen eigenen Staat beanspruchen könnte.

Auch aus der Perspektive des palästinensischen Kampfes um die nationale Befreiung muss dies in die Rechnung einbezogen werden. Die gewaltsame Vertreibung der jüdisch-israelischen Bevölkerung ist ausgeschlossen, allein wegen der Bewaffnung Israels und der strategischen Bedeutung des Landes als Vorposten des westlichen Imperialismus, und wäre nur theoretisch im Rahmen eines großen regionalen Krieges denkbar n, der weitaus schrecklicher als das Massaker von Gaza  wäre.

Wir verteidigen das Recht der jüdisch-israelischen Nation im Nahen Osten auf Selbstbestimmung. Wir schließen uns allerdings nicht der deutschen “Staatsräson” an, das “Existenzrecht Israels” zu beschwören, da mit diesem Begriff ist nämlich nicht dieses Selbstbestimmungsrecht gemeint ist, sondern der Schwur auf den heute konkret existierenden Staat Israel, einen Militär- und Siedler*innenstaat mit religiösen Gesetzen, dem Besatzungsregime im Westjordanland und einer Kriegsführung mit genozidalen Elementen, einem Staat, der jeder friedlichen Lösung im Weg steht. Für das “Existenzrecht” dieses real existierenden Staates einzutreten bedeutet eben nicht, die Sicherheit jüdischen Lebens in Nahost und Europa zu befördern, sondern weitere “Rachekriege” samt Kriegsverbrechen und entsprechende Gegenreaktionen gutzuheißen.

Wie kann die IDF besiegt werden?

Alle heute kursierenden romantischen Vorstellungen, der bewaffnete palästinensische Kampf würde immer stärker und mit Unterstützung der Menschen auf der ganzen Welt irgendwann die IDF besiegen, sind illusorisch. Es ist diese vereinfachte Idee von der nationalen Befreiung Palästinas, die auch manche Linke dazu verleitet, das reaktionäre Massaker der Hamas vom 7. Oktober als Auftakt als Teil eines erfolgreichen Kampfes umzudeuten.

Der israelisch-palästinensische Konflikt ist nicht symmetrisch, er hat ein en nationalen, kolonialen Charakter, es gibt eine unterdrückende und eine unterdrückte Nation. Aber darin erschöpft sich das Problem nicht. Unsere Betonung, dass die Interessen beider Seiten berücksichtigt werden müssen, bedeutet nicht, dass wir neutral wären oder sich beide in der Mitte treffen müssten. Wir schlagen jedoch vor, den palästinensischen Kampf nicht nur als nationalen Befreiungskampf zu führen, sondern auch als sozialen, als Klassenkampf, der gemeinsame Interessen aller Menschen in der Region – Sicherheit, Jobs, Einkommen – anspricht, soweit das möglich ist.

Das bedeutet auch und vor allem, alle Maßnahmen zu unterlassen, die den Spalt zwischen Jüd*innen und Araber*innen vertiefen. Der bewaffnete Kampf palästinensischer Einheiten ist legitim. Aber sein Hauptzweck kann nur die Selbstverteidigung sein, durch den militärischen Kampf allein wird der palästinensische Staat nicht geschaffen werden. Eine Befreiung ist nicht möglich, ohne Teile der israelischen Bevölkerung – der Arbeiter*innenklasse und der Jugend – von der zionistischen Ideologie zu lösen und für die Idee zu gewinnen, auf Solidarität und Zusammenleben zu setzen und aktiv gegen die Besatzung zu werden. Die IDF kann vor allem dadurch geschwächt werden, dass ihre Soldat*innen nicht mehr bereit sind, für ihre herrschende Klasse und deren imperialistisches Projekt zu sterben und zu töten.

Keine Lösung im Kapitalismus

Als Marxist*innen sind wir gegen Kleinstaaterei und Grenzen. Im Nahen Osten sind die vom Kolonialismus gezogenen Grenzen ohnehin absurd. Zudem kommt, dass bei vielen Fragen, nicht zuletzt der Wasserversorgung, Kooperation und gemeinsame Planung nötig sind. Doch vorübergehend getrennte Staaten können ein notwendiger Umweg sein, eine vertrauensbildende Maßnahme, dass man die andere Nation nicht dominieren oder unterwerfen will.

Daher treten wir dafür ein, dass beide Nationen das Recht auf Selbstbestimmung haben, neben Israel ein vom zusammenhängenden Territorium lebensfähiger palästinensischer Staat mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt. Im Rahmen des kapitalistischen Systems halten wir diese Entwicklung für unrealistisch. Unsere Vision ist ein sozialistisches Palästina neben einem sozialistischen Israel. Die Anerkennung des Rückkehrrechts für die vertriebenen Palästinenser*innen muss Teil der Verhandlungen sein. Die Frage einer sozialistisch geprägten Zwei-Staaten-Regelung ist daher für uns kein ferner Wunschtraum und kein “Add On”. Eine sozialistische Lösung ist eine praktische Notwendigkeit. Auf Grundlage des Kapitalismus erscheint es unmöglich, zu einer zufriedenstellenden Regelung zu kommen. Die herrschende Klasse Israels kann sich ein lebensfähiges Palästina nicht leisten. Einerseits würde das bedeuten, die Geister, die man einst rief, die Siedler*innen, diese bisher privilegierte Schicht, zu verarmten Wohnungssuchenden im teuren Israel zu machen und damit die eigene Basis zu verlieren. Andererseits fürchtet man, dass Palästina in Konkurrenz zu Israel von der einen oder anderen imperialistischen Macht als neue Interessenvertretung in der Region auserkoren werden könnte.

Ein längerfristiger ökonomischer Aufschwung eines unabhängigen kapitalistischen Palästinas hingegen ist faktisch ausgeschlossen. Dafür fehlt jeder Spielraum auf dem Weltmarkt. Palästina bliebe, selbst wenn es nicht durch Siedlungen zerschnitten und formal existenzfähig wäre, ein Armenhaus, abhängig von Hilfsgeldern. Soziale Explosionen und heftige politische Auseinandersetzungen ließen nicht lange auf sich warten. Die bürgerliche Führung der PLO ist bereit, solch einen von internationaler Hilfe abhängigen Mini-Staat zu akzeptieren. Die israelische herrschende Klasse hingegen hat ihre Paranoia verstärkt, dass selbst ein Marionettenstaat als Basis für Angriffe gegen Israel genutzt werden kann.

Was bedeutet Internationalismus?

Manche mögen es für vermessen halten, dass wir diese Perspektive aus der vergleichsweise bequemen Position von Revolutionär*innen in Deutschland und in Kooperation mit unseren Genoss*innen von Socialist Struggle in Tel Aviv, Jerusalem und Haifa formulieren. Wir verstehen, dass die Menschen in Gaza zunächst ums Überleben kämpfen, die Wut der Menschen, die so viele Verwandte haben sterben sehen, wir verstehen, dass sie sich grade keine Gedanken darüber machen wollen, wie sie diejenigen erreichen, die schweigen oder gar jubeln, wenn ganz Gaza pulverisiert wird. Doch jeder Kampf wird mit einer Strategie geführt. Wenn es nicht gelingt, eine sozialistische Strategie auf Klassenbasis zu entwickeln, dann bleibt nur die Strategie von Hamas – diese wird nicht die Befreiung bringen und kein Leiden beenden.

In der Realität wird die Möglichkeit der Zwei-Staaten-Regelung täglich untergraben, durch die fortgesetzte Landnahme durch jüdische Siedler*innen im Westjordanland und dessen Zerschneiden durch Zäune, Mauern und Checkpoints; die israelischen Ansprüche auf ganz Jerusalem inklusive dessen arabischen Ost-Teils, die permanente Enteignung palästinensischen Landes. Jetzt ist die physische Zerstörung Gazas dazu gekommen. Netanyahu rühmt sich damit, dass er den palästinensischen Staat bis jetzt verhindert habe.  Trotzdem halten wir sie in der aktuellen Phase noch immer für die aus sozialistischer Sicht beste Losung, um zum Ausdruck zu bringen, dass die Interessen beider Völker berücksichtigt werden müssen. Würde die palästinensische Bewegung ihren Kampf mit einem Programm für zwei sozialistische Staaten  führen und deutlich machen, dass bewaffnete Aktionen nur zur Selbstverteidigung gegen rechte Siedler*innen und die IDF stattfinden würden,  etwas einfacher als jetzt, die israelische Jugend und arbeitenden Menschen zu erreichen.  Es würde einfacher, zu erkennen, dass nicht ethnische Zugehörigkeit oder Religion die Menschen in Israel-Palästina trennen, sondern vielmehr die kapitalistische Klassengesellschaft – und dass sie es ist, die wir gemeinsam überwinden müssen.

Foto: Alexander Gerst (CC-BY-SA 2.0)