Sexindustrie – Teil des Problems, nicht der Lösung

Die Sexindustrie ist einer der am schnellsten wachsenden Wirtschaftszweige der Welt, vor allem in Zeiten der Krise. In vielen linken und feministischen Kreisen herrscht die Ansicht, Prostitution und andere Jobs in der Sexindustrie seien Arbeit wie jede andere. Diese Meinung teilen wir als Sozialist*innen nicht.

Von Elisa Mellin, Bremen 

Die Sexindustrie muss im Kontext der bestehenden Geschlechter- und Klassenverhältnisse und der Ungleichheit im Kapitalismus betrachtet werden.

Ihr Ursprung liegt in einer strukturellen Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Die meisten Menschen, die in der Sexindustrie arbeiten, sind Frauen und trans Personen, also Menschen, die sexistisch benachteiligt werden. 

Das kommt nicht von ungefähr. Die traditionelle bürgerliche Familie fördert Ungleichheit: Die Frau als Mutter und Familienbetreuerin war ökonomisch vom Mann als Hauptverdiener und Haushaltsvorstand abhängig. Das Dogma der weiblichen Monogamie sicherte ihm den exklusiven Anspruch auf die von der Frau unentgeltlich zu leistende physische und emotionale Sorgearbeit für ihn und seine Kinder. Diese Struktur hatte große Vorteile für das kapitalistische System. Haus- und Sorgearbeit wurde als „natürliche Aufgabe der Frau“ nicht bezahlt, weibliche Erwerbsarbeit als „Zuverdienst“ nur schlecht.

Diese Ungleichheit lebt weiter. Sie wird sichtbar durch unterschiedliche Bezahlung von Männern und Frauen und auch durch sexualisierte Gewalt, die aus der patriarchalen Vorstellung eines „schwachen Geschlechts“ erwächst: Frauen werden als abhängige Objekte angesehen, während der aktive Mann Stärke zeigen muss – im Zweifel auch durch physische Gewalt. 

Vor diesem Hintergrund hat das enorme Wachstum der Sexindustrie zu einer bizarren Wahrnehmung von Sexualität beigetragen: Weiblich gelesene Personen werden objektifiziert und zur Ware gemacht, die der sexuellen Befriedigung von Männern dient. Das trägt zu weiterer Gewalt im Alltag bei und reproduziert Sexismus. Schon deshalb müssen wir uns als Sozialist*innen gegen die Sexindustrie positionieren.

Machtspiel statt Sexualität

In der Sexindustrie, vor allem in der Prostitution, ist das Geschlecht Basis und notwendige Bedingung der Arbeit. Überwiegend Männer kaufen sich vorübergehend den Zugang zum Körper einer Frau, dieser Körper wird der kapitalistischen Profitlogik unterworfen und muss sich dementsprechend dem aktuellen Markt anpassen.

Von linksliberaler, „sexpositiver“ Seite hören wir häufig, es werde ja kein Körper gekauft, sondern lediglich „Sex als Dienstleistung“. Doch es ist ein Trugschluss zu denken, man könne den Körper, mit dem diese sogenannte Dienstleistung ausgeübt wird, vom „Arbeitsprozess“ trennen, wenn unmittelbar in ihn eingegriffen wird.

Es geht in der Prostitution nicht um Sex, es geht meist viel mehr um Macht und das Ausleben struktureller Hierarchien. Sex ist konsensuell und bezieht die Wünsche aller Beteiligten mit ein – nicht so in der Prostitution. Hier wird der Kunde bedient, um Geld zu verdienen, das häufig lebensnotwendig ist, die eigene Persönlichkeit spielt keine Rolle. Diese „Geschäftsbeziehung“ bedient nicht zuletzt das sexistische Rollenbild der auf den Mann angewiesenen Frau. Das Machtgefüge, das dadurch entsteht, ist immer präsent und hat auch Einfluss im Umgang mit „nicht-professionellen“ Frauen.

Gewalt und emotionale Ausbeutung

Der respektvolle Freier, der „Sex auf Augenhöhe“ kauft, ist ein Mythos. Meist geht es tatsächlich um die gezielte Abwertung von Frauen. In Freierforen werden oft Zwangsprostituierte bevorzugt, weil sie keine Praktiken ablehnen dürfen. Manche sprechen davon, Lust zu verspüren, Frauen zu quälen und an die Grenzen des Erträglichen zu gehen. Es geht hier um „Analfisting“ und „Flatrateficken“, gesundheitsgefährdende Praktiken, die die allermeisten Frauen ohne Zwang schlichtweg ablehnen würden.

Betroffene beschreiben aber auch das Vorheucheln von emotionaler Zugewandtheit, Zärtlichkeit und Intimität beim sogenannten „Girlfried-Sex“ als mindestens genauso belastend, denn solche Praktiken greifen nicht nur in die körperliche Intimsphäre ein, sie verlangen darüber hinaus, dass die Frau sich seelisch „öffnet“ und ihr Innerstes preisgibt. Das ist eine Extremform „emotionaler Arbeit“, die in dieser Gesellschaft als typisch weibliche Aufgabe betrachtet wird.

Wirtschaftliche Selbstermächtigung?

Ist es zulässig, Prostitition zu kritisieren, wenn Frauen sie freiwillig ausüben? 

Tatsächlich ist keine Form von Lohnarbeit im Kapitalismus völlig freiwillig. Menschenhandel gibt es auch in anderen Branchen. Allerdings sind Zwangslagen in der Sexindustrie besonders verbreitet. 2019 hatten nur 19 % der hier registrierten Prostituierten einen deutschen Pass. Die meisten Menschen, die in der Bundesrepublik in der Sexindustrie arbeiten, stammen aus den wirtschaftlich schwächsten Teilen der EU, z.B. Rumänien und Bulgarien oder aus der neokolonialen Welt. Sie sind hier häufig von Rassismus betroffen und haben oft keinen legalen Aufenthaltsstatus.

Auch Frauen mit deutschen Pässen werden gehandelt, von Zuhältern an Laufhäuser verkauft oder von einem Zuhälter zum nächsten. Prostituierte, die aussteigen oder wechseln wollen, müssen sich in vielen Borden teuer „freikaufen“. Der wirtschaftliche Zwang in der Sexindustrie zu arbeiten ist noch ausgeprägter und spezifischer als in anderen Branchen. Nicht rein zufällig stammen viele Menschen, die in dieser Industrie arbeiten, aus gewalttätigen und missbräuchlichen Familien. Sie fliehen früh und finden sich häufig in der Prostitution wieder, weil sie mittel- und obdachlos sind und sie nur gewaltvolle Strukturen kennen.

Prostitution ist gefährlich

Rein statistisch gesehen ist Prostitution kein Beruf wie jeder andere. Zwischen 60 und 90 % der dort Arbeitenden haben in ihrer Biographie sexuellen Missbrauch erfahren. 68 % der Prostituierten zeigen nach Beendigung ihrer Tätigkeit eine voll ausgeprägte posttraumatische Belastungsstörung.

Ähnlich hohe Zahlen gibt es sonst nur bei Opfern von Folter und bei Kriegsveteran*innen. Die Sterblichkeitsrate ist bei Prostituierten laut einer Studie des britischen Innenministeriums gegenüber der übrigen Bevölkerung zwölfmal höher.

Legalize it?

Doch was ist die Lösung? Wie, wenn überhaupt, sollte Prostitution gesetzlich geregelt werden? Viele Linke treten für eine volle Legalisierung ein. Deutschland hat das umgesetzt und gilt seither als „Bordell Europas“. Die oben beschriebenen Probleme wurden nicht gelöst, sondern eher verstärkt. Beschäftigte in der Sexindustrie werden noch immer stigmatisiert – ein Grund dafür, weshalb sich zum Beispiel auch eine Mehrheit der Prostituierten nicht registriert.

Die Legalisierung hat Menschenhandel sogar teilweise erleichtert. Niemand, der*die in der Sexindustrie arbeitet, sollte kriminalisiert, staatlichen Schikanen ausgesetzt oder moralistisch abgewertet werden. Es muss ein sicheres Umfeld geschaffen werden, damit zum Beispiel Gewalt oder Missbrauch ohne Verfolgung der Betroffenen angezeigt werden kann. Volle Legalisierung hat jedoch nicht dazu beigetragen, diese Ziele zu erreichen.

Sexarbeits-Gewerkschaften?

Viele Linke fordern auch „gewerkschaftliche Organisierung“ in der Sexindustrie. Sozialist*innen unterstützen jede kollektive Selbstorganisation der von Ausbeutung betroffenen Gruppen. In der Sexindustrie ist das jedoch besonders schwierig, denn in dieser Branche kommen zahlreiche Probleme zusammen, die aus anderen prekären Bereichen bekannt sind. Zum Beispiel: 

– Scheinselbständigkeit, die Konkurrenz statt Solidarität fördert.

– Isolation, z.B. in „Modellwohnungen“, mit wenig Kontakt zu anderen Kolleg*innen.

– Erpressbarkeit, weil viele Betroffene keine Papiere haben und Angst vor Ausweisungen haben müssen. 

Diese Probleme zeigen sich an bereits existierenden „Prostituiertengewerkschaften“. Häufig gibt es keine klare Trennung zwischen Bossen und Arbeitenden. Manche Organisationen leugnen den offensichtlichen Interessenkonflikt. Die bekannteste Sprecherin und selbsternannte Aktivistin der britischen „Internationalen Vereinigung der Sexarbeiter*innen“ (International Union of Sex Workers) Douglas Fox betreibt selbst eine Escortfirma. In diesem Verein darf jede*r Mitglied werden, auch Zuhälter*innen und Freier. Solche „Gewerkschaften“ sind Interessenvertretungen der Bosse und kein Mittel gegen Ausbeutung.

Das Nordische Modell

Viele sehen im Nordischen Modell eine gute Lösung. Es wird von vielen Aussteiger*innen unterstützt. Das Konzept kriminalisiert Freier, um so die Nachfrage nach Prostitution zu drosseln. Es kann eine Rolle dabei spielen, die gesellschaftliche Botschaft zu verbreiten, dass Sexkauf sozial unerwünscht ist, weil er ein Beitrag zu Sexismus und patriarchaler Unterdrückung ist.

Allerdings löst ein Sexkaufverbot allein das Problem, dass viele Menschen auf Prostitution als Einnahmequelle angewiesen sind, nicht. Viele Prostituierte kritisieren zu Recht, dass sie damit Kunden und Einkommen verlieren, ohne dass die Gesellschaft ihnen eine alternative Einkommensquelle bietet. 

Schluss mit der kommerziellen Verwertung unserer Körper!

Ein Gesetz allein reicht nicht aus, um der Sexindustrie den Nährboden zu entziehen. Wir brauchen eine gesellschaftliche Bewegung, die grundlegend die sexistische Kultur herausfordert. Die Sexindustrie ist nicht die einzige sozialschädliche Branche, die Sozialist*innen abschaffen wollen.

Wir sind auch gegen Braunkohleabbau, Waffenschmieden, Atomkraftwerke und Massentierhaltung. Wie in diesen Bereichen sollten Gewerkschaften und linke Organisationen auch bei der Sexindustrie den Ausstieg propagieren, indem sie Aufklärungskampagnen über die brutale Realität und ihre gesellschaftlichen Folgen organisieren. 

Dieser Ausstieg darf in keinem Bereich auf Kosten der Beschäftigten passieren. Er muss unter anderem von staatlichen Investitionen in Umschulungen und attraktive Ersatzarbeitsplätze begleitet werden. Wir wollen mehr als die bloße Reduzierung der Nachfrage, wir wollen ökonomische Faktoren eliminieren, die die Triebkraft für Prostitution sind.

Wir kämpfen für eine Gesellschaft, die auf gegenseitigem Respekt beruht, in der Menschen sich frei und ohne Stigma lieben können, in der Sex immer einvernehmlich ist und nicht durch ökonomische Notlagen und Machtgefüge erzwungen werden kann.

Transgeschlechtlichkeit und Prostitution

von Jonatan Lange, Bremen

Trans Frauen arbeiten überproportional häufig als Prostituierte. In einer deutschen Befragung von 2020 gaben 15,4 % aller trans Menschen an, sie hätten eine „Tätigkeit in der Sexarbeit“. 13,1 % der in der Sexindustrie arbeitenden trans Frauen sind People of Color – nicht-weiße Menschen. 

Häufig lehnen trans Personen ihren biologischen Körper ab und versuchen ihn hormonell und mit Operationen zu verändern. Das ist kostspielig. Selbst dort, wo es ein Krankenversicherungssystem gibt, sind oft Zuzahlungen notwendig. Es ist häufig ein langer und beschämender Weg, Behandlungen bewilligt zu bekommen. Natürlich hilft die Krankenkasse nur Menschen, die ein Bleiberecht haben und versichert sind. In vielen Ländern gibt es keine bezahlbare Versicherung oder es ist sogar verboten, trans zu sein. Oft gibt es vor Ort keine Behandlungsmöglichkeiten. Die Argumention einiger liberaler Feminist*innen, durch Prostitution in Deutschland könnten trans Frauen sich die Behandlungen finanzieren, ist extrem zynisch angesichts der menschenverachtenden Zustände in der Sexindustrie.

Für die Freier ist eine trans Frau keine Frau, sondern ein fetischisiertes Objekt, das misgendert, diskriminiert und misshandelt werden kann. Immer wieder werden abwertende Begriffe wie „Shemale“, „Ladyboy“, „Transe“ benutzt. Trans Frauen sind auf dem Sex-Markt eine exotische Ware, die Freier erwarten ein mystisches Zwitterwesen mit weiblichen Brüsten und einem funktionsfähigen Penis. Eine fortgeschrittene Transition ist mit den Fantasien der Freier deshalb nicht vereinbar. Um „arbeitsfähig“ zu bleiben und sich vor der Gewalt enttäuschter Freier zu schützen, setzen viele trans Frauen immer wieder ihre Hormone ab. Das führt natürlich zu vermehrter Dysphorie, in der Folge zu Depressionen, Substanzmissbrauch und Suizidgedanken. Oft zwingen Zuhälter*innen sie sogar, auf Operationen zu verzichten. Ihnen wird so jegliche körperliche Selbstbestimmung genommen, statt sie zu ermöglichen.

Sexwork ist nicht transfreundlich. Prostitution schadet Allen, auch trans Frauen.