Die Geschichte eines queeren Arbeiters aus der Provinz – Das Leben von Johann Ballensiefen

Anlässlich des gerade vergangenen Pride Month und der in den nächsten Wochen noch anstehenden Pride-Demos und CSDs möchten wir auch an die queeren Opfer des Faschismus erinnern. Als Beispiel soll die Lebensgeschichte von Johann Ballensiefen aus Siegburg stehen.

von Patrick Haas, Siegburg

Geboren am Stadtrand von Siegburg
Johann Ballensiefen kam am 27. Mai 1870 als Kind der Protestanten Jacob Ballensiefen und Anna Maria Ballensiefen geb. Kraft in Siegburg-Driesch zur Welt. In diesem Stadtteil, dessen Name auf eine Fläche zurückgeht, deren Boden für den regelmäßigen Ackerbau zu trocken war, lebten vor allem die Menschen, die sich die Steuern in der Kernstadt nicht leisten konnten. Und so verwundert es nicht, dass Johanns Vater sein Geld als Dachdecker verdiente und als Zeugen von Johanns Geburt einen Dachdecker-Kollegen und einen Hüttenarbeiter benannte, wie in Johanns Geburtsurkunde zu lesen ist.

Die rasante Entwicklung des Stadtteils
Wo genau Johann mit seinen Eltern lebte, kann nicht mehr ermittelt werden, da der Stadtteil Driesch erst um das Jahr 1893 mit der Eröffnung des königlich-preußischen Feuerwerkslaboratoriums, einem Vorgängerbau der heutigen Brückberg-Kaserne in Siegburg, baulich erschlossen wurde. Zuvor standen hier nur einzelne Hütten und kleine Höfe, die den Kolonien und Mietshäusern für die Fabrikarbeiter*innen des Feuerwerkslaboratoriums sowie der Geschossfabrik weichen mussten, welchen während des 1. Weltkrieges insgesamt bis zu 15.000 Menschen beschäftigen. Zum Vergleich: Bei Johanns Geburt 1870 hatte ganz Siegburg ca. 5.000 Einwohner*innen.

Mehrere Umzüge bis nach Schlesien
Bereits am 24.04.1883, also kurz vor seinem 13. Geburtstag, ist Johann mit seinen Eltern im ca. 40 Kilometer entfernten Waldbröl-Wies gemeldet. Im Laufe seines Lebens lernt er den Beruf des Friseurs und lässt sich schließlich 1921 in Hausdorf, dem heute polnischen Jugow, in Niederschlesien nieder. Im benachbarten Waldlitz, dem heutigen Wlodowice, heiratet Johann 1931 zum zweiten Mal.

Johann gerät in die Fänge der NS-Justiz
Der 9. November 1940 war Johanns vorläufiges Todesurteil. Eine Zugangsliste des KZ Sachsenhausen führt ihn mit der Nummer 34103 unter der Kategorie „BV/175“. Die Gerichtsakten über das zugrundeliegende Verfahren sind wahrscheinlich durch die gezielte Aktenvernichtung durch die SS vor der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee verloren gegangen. Jedoch ist über die Kategorisierung ersichtlich, was Johann vorgeworfen wird: Wiederholte Sexualkontakte mit anderen Männern.

Am 12. Juli 1940 sorgte ein Pauschalerlass des SS-Chefs Heinrich Himmler dafür, dass Homosexuelle, denen mehrere Sexualkontakte mit anderen Männern nachgewiesen werden konnten, gleich nach ihrer Haftentlassung in polizeiliche Vorbeugehaft genommen wurden. Konkret bedeutete dies eine direkte Deportation in die Arbeits- und Vernichtungslager. Auf diese perfide Weise kam Johann, wahrscheinlich unmittelbar nach Ablauf der Haftdauer, als bereits 70-Jähriger ins KZ Sachsenhausen.

Kein Einzelfall
Auf dieser „Rechtsgrundlage“ wurde Johann wie tausende homosexuelle Männer nach der Haftzeit in den Gefängnissen in ein KZ verschleppt. Der Lageralltag war geprägt von Zwangsarbeit. Da sie nach Paragraf 175 verurteilt wurden, mussten Homosexuelle  sichtbar den Rosa Winkel an ihrer Häftlingskleidung tragen. In der Lagerhierarchie bildeten sie die unterste Kategorie und waren den ständigen Demütigungen des Wachpersonals rechtlos ausgeliefert. Die Zustände im KZ Sachsenhausen überlebte Johann nur 20 Tage. Als Todesursache für seine eingeplante Ermordung steht in seiner Sterbeurkunde „Herzlungenentzündung (Herzschwäche)“.

Insgesamt wurden im Nationalsozialismus 100.000 Verfahren aufgrund des § 175 eingeleitet, von denen ca. 50.000 mit einer Verurteilung endeten. Die aktuelle Forschung geht von 10. – 15.000 Männern aus, die wie Johann ins KZ deportiert wurden.

Der zweite, soziale Tod
Für die überlebenden Homosexuellen war die Verfolgung mit dem Ende der Nazi-Herrschaft allerdings nicht vorbei. Denn der § 175 galt in der BRD in der Nazi-Fassung (als verschärfter 175a) weiter. Und so kam es, dass KZ-Überlebende nach dem Krieg bei einer erneuten Verurteilung erneut den Richtern gegenüber saßen, die sie auch schon während des Nationalsozialismus verurteilt hatten.
Oftmals konnten Polizei und Staatsanwaltschaft hierbei auf die „Rosa Listen“ zurückgreifen, die bereits die Gestapo angelegt hatte. Doch nicht nur das: Die Polizei führte diese Listen sogar noch bis in die 1980er Jahre weiter.

Für die Betroffenen dieser Unrechtsurteile bedeutete dies auch einen sozialen Tod: Viele setzten ihrem Leben ein Ende, weil sie die Demütigungen und die Ausgrenzung nicht mehr aushielten. Erst 1994 wurde der § 175 gestrichen, die letzte verurteilte Person wurde erst 2004 aus dem Gefängnis entlassen.

Gerechtigkeit – Ja, aber…
Erst seit dem 22. Juli 2017 – mehr als 75 Jahre nach Johanns Ermordung – sind alle Urteile aufgrund des § 175 aufgehoben. Die Betroffenen haben also Anspruch auf eine Entschädigung für die Haftzeit. Eine absurde Situation: Der Großteil der Betroffenen ist im Rentenalter und hat ein Leben voller Demütigungen hinter sich und soll nun mit ein paar Brotkrumen abgespeist werden. Zumindest wenn sie es schaffen, bis Juli 2027 die nötigen Dokumente einzureichen – wer schonmal mit den Behörden zu tun hatte weiß, dass dies eine Never-Ending-Story werden kann.

Stattdessen muss es umgekehrt laufen: Die Urteile liegen doch in den Archiven. Hier können die Betroffenen ermittelt werden und Beträge ausgezahlt werden, sofern die Personen noch leben. Dabei darf sich die „Entschädigung“ nicht nur auf die Haftzeit beschränken, sondern muss mit einer Reparation einhergehen.

Dazu gehört es auch, eine angemessene Erinnerungskultur für queere Opfer des Faschismus zu ermöglichen. Erst 2023 fand die erste Gedenkstunde des Deutschen Bundestages hierzu statt. Große Wissenslücken gibt es nach wie vor zu den Schicksalen lesbischer Frauen, von transgeschlechtlichen Menschen ganz zu schweigen.

Diese Lücke wird durch das Engagement privater Initiativen geschlossen, die Großartiges leisten. So auch in Johanns Fall. Sein Grab wurde erst 2004 auf dem Friedhof Berlin-Altglienicke durch den Historiker Klaus Leutner gefunden. Dort ruhen die Überreste von Johann in einer Urne in einem Urnenfeld mit 1.360 Mitgefangenen. Die Urnen liegen dabei so eng beisammen, dass eine Hebung nicht möglich ist, ohne die Anderen zu beschädigen. Ein ordentliches Begräbnis bleibt ihm und den Mitgefangenen verwehrt. Es wäre ohnehin unmöglich, ihm eine einzelne Urne zuzuordnen, da die einzelnen Urnen oftmals mit der Asche mehrerer Menschen gefüllt wurden.

Umso wichtiger ist es, dass seit 2020 sein Name auf einer Gedenktafel auf dem Friedhof steht. Aktivist*innen in Siegburg und Umgebung kämpfen aktuell dafür, dass auch in Siegburg oder Jugow ein Stolperstein an sein Leben erinnert.

Titelbild: Manfred Brueckels, Gedenktafel Rosa Winkel Nollendorfplatz, CC BY-SA 3.0