Wahlen in Brasilien: Der Bolsonarismus und der Widerstand auf der Straße

LSR-Mitglieder auf Demo gegen Bolsonaro

Jair Bolsonaro gilt als Paradebeispiel der neuen Rechten weltweit. Die Jahre seiner Präsidentschaft waren für die Mehrheit der Bevölkerung katastrophal: Die Corona-Pandemie forderte 700.000 Tote. Alle 23 Minuten wird eine schwarze Person von der Polizei getötet. Die Abholzung des Regenwaldes und die Umweltzerstörung insbesondere auf indigenem Land wurden intensiviert.

Von Nikolas Friedrich, München

Dazu kommt eine Wirtschaftskrise als Folge des Ukraine-Krieges. Brasilien hat die dritthöchste Teuerungsrate in Lateinamerika. Bei den Präsidentschaftswahlen am 2. Oktober besteht die Möglichkeit, Bolsonaro abzuwählen. Diese Wahl wird die kommenden Jahre prägen. Bolsonaro merkt durch die Krisen, wie instabil und unpopulär seine Regierung ist, und sprach offen davon, dass er eine Wahlniederlage nicht akzeptieren werde. Bei dieser Wahl stehen die Linke und die Arbeiter*innenbewegung vor einer großen Herausforderung. 

Fortschritte und Rückschläge

2013 erreichten die Klassenkämpfe – noch unter der sozialdemokratischen Regierung der PT (Arbeiter*innenpartei) – einen relativen Höhepunkt in Form der „Juni-Tage“. Im Rahmen einer Massenbewegung folgten auf Straßenproteste im ganzen Land eine Welle von Schul- und Hochschulbesetzungen und schließlich Streiks mit sozialen Forderungen der Arbeiter*innenklasse.

Aber die politische Linke war auf diese enorme Dynamik nicht vorbereitet und konnte kein Programm bieten, das die verschiedenen Kämpfe der Juni-Tage vereinen konnte. Danach kam es zu einem reaktionären Gegenangriff. 2016 wurde die Präsidentin Dilma Rousseff von der PT durch ein Amtsenthebungsverfahren abgesetzt und ein neuer rechter Präsident wurde ins Amt gehoben.

Als Antwort brach der größte Streik der jüngeren Geschichte Brasiliens aus: 100.000 Menschen demonstrierten auf den Straßen der Hauptstadt. Diese erneute Bewegung hatte so eine kritische Masse erreicht, dass die neoliberale Rentenreform der Regierung gestoppt wurde. Doch die Bewegung wurde von der PT boykottiert. Die Sozialdemokratie setzte alles auf die Wahlen 2018. Diese Orientierung fesselte die Bewegung, anstatt ihre Dynamik zu nutzen und sie zu erweitern. In der Tat war die rechte Regierung eine Übergangsphase für die brasilianische Rechte, die direkt zu Bolsonaros Wahlsieg führte.

Trotz der langen Reihe Niederlagen hörte der linke Widerstand nicht auf. Während Bolsonaros Präsidentschaft fanden Proteste der “Fora Bolsonaro“-Bewegung (“Bolsonaro raus”) statt. Doch die Dynamik der früheren Bewegungen war ausgeschöpft und die Proteste ließen nach. 

Die gleichen Fehler

Auch in der aktuellen Auseinandersetzung mit Bolsonaro konzentriert sich die Sozialdemokratie nicht auf die Stärke der Massen in den Straßen, sondern verlässt sich vollständig auf die Wahlebene. Der ehemalige Präsident Lula da Silva, Kandidat der PT für die anstehende Wahl, versucht sich als zurückgekehrter Retter darzustellen.

Auch die linke PSOL („Partei für Sozialismus und Freiheit“) hat sich auf einen opportunistischen und parlamentarischen Weg begeben. Sie hat für die Präsidentschaftswahl keine*n eigene*n Kandidat*in aufgestellt und ruft zur Wahl von Lula im ersten Wahlgang auf.

Wahrscheinlich wird Bolsonaro bei der Wahl keine Mehrheit bekommen. Darum redet er offen darüber, dass er eine Niederlage im Oktober nicht akzeptieren wird. Ihm zufolge können die Wahlen nur auf dreierlei Art enden: Durch seine Inhaftierung, seinen Tod oder seinen Sieg. Die fehlende Unterstützung für Bolsonaro in Kombination mit seiner extremen Rhetorik ist brandgefährlich. Er könnte im Falle einer Wahlniederlage versuchen, zu putschen. 

Auf die Straße

Lula kann keine permanente Alternative zum Bolsonarismus anbieten. Die PT stellt sich selbst als Verteidigerin des herrschenden Systems gegen das Chaos und die Instabilität Bolsonaros dar. Eine linke Alternative ist sie nicht. Als verlässliche Verwalterin des Kapitalismus ist die Sozialdemokratie die klare Wahl für die herrschende Klasse. Sie hat keine Lösung zu den kapitalistischen Krisen, die zum Aufstieg der neuen Rechten geführt haben. Stattdessen wird die krisenhafte Natur des Kapitalismus immer wieder neue Bolsonaros erzeugen. 

Die brasilianische Arbeiter*innenklasse hat im letzten Jahrzehnt bewiesen, dass sie kämpfen kann, aber immer wieder fehlt die notwendige Führung, um Erfolge zu erreichen. Der Ansatz, alle linken Kräfte hinter dem kleinsten gemeinsamen Nenner – also Lula – zu versammeln, lähmt die Linke im Kampf gegen rechts. Diese Herangehensweise schürt die Illusion, Wählen alleine reiche aus, um den multiplen Krisen entgegenzuwirken. Der Aufbau einer linken Alternative zum Kapitalismus und der Kampf gegen Bolsonaro können nicht voneinander getrennt werden. Ein Kampf gegen Bolsonaro muss als antikapitalistischer Klassenkampf geführt werden.

Die brasilianische Schwesterorganisation der SAV, die LSR, arbeitet in der PSOL mit und ist für eine eigene Kandidatur auf der Grundlage eines sozialistischen Programms und für eine Mobilisierung gegen Bolsonaro auf der Straße und in den Betrieben eingetreten. In der ersten Runde der Wahlen am 2. Oktober ruft die LSR dazu auf, unabhängige linke Kandidat*innen zu wählen. Wenn es in der Stichwahl zum erwarteten Duell Bolsonaro gegen Lula kommt, ruft die LSR auf, Lula zu wählen, ohne auf klare Kritik zu verzichten. LSR setzt sich für die Mobilisierung auf der Straße ein, um den zu erwartenden Wahlsieg der PT zu verteidigen und gegen einen Putsch von rechts gewappnet zu sein. 

Dieser Artikel basiert auf Diskussionen, die im Juli 2022 auf der Sommerschulung der International Socialist Alternative in Belgien stattfanden.