Die Nationalitätenpolitik der Bolschewiki

Unter den russischen Zaren wurden nationalen Minderheiten Rechte verwehrt. Im Programm der Bolschewiki spielte die Selbstverwaltung für die vielen Nationalitäten und Minderheiten im „Völkergefängnis“ des Russischen Reichs eine wichtige Rolle. Zwar betonten die Revolutionär*innen immer den Internationalismus und die gemeinsamen Ziele der Arbeiter*innen aller Nationalitäten. Doch trat die revolutionäre sozialistische Bewegung für dieses grundlegende demokratische Recht ein.

Von Marcus Hesse, Aachen 

Für Lenin und Trotzki ging das Selbstbestimmungsrecht bis zum Recht auf staatliche Lostrennung. Dadurch sollten die Nationalitäten gleichberechtigt werden, was als Grundlage für die spätere Vereinigung aller Arbeiter*innen gesehen wurde. Das machte die revolutionäre Partei zur Anwältin der unterdrückten Nationalitäten. Die Bolschewiki traten für das Recht Polens und Finnlands ein, sich von Russland zu trennen, ebenso der ukrainischen und baltischen Nationen. 

1917: Revolution als Tor zur nationalen Selbstbestimmung

Das Revolutionsjahr 1917 bot für die unterdrückten Nationen die Chance, sich zu befreien. Polen, das Baltikum und Finnland wurden selbst revolutionäre Zentren. In der Ukraine bildete sich 1917 ein eigenes Parlament, die Rada, welche die nationale Selbstbestimmung forderte. Auch im Kaukasus und in Zentralasien  kam es zur Bildung selbstständiger Staaten. Die von rechten Sozialdemokrat*innen und Sozialrevolutionär*innen geführte bürgerliche Regierung Russlands, die nach der Februarrevolution in Russland an die Macht kam, setzte weiterhin stur auf die Einheit des russischen Staates und wollte die Beteiligung am Ersten Weltkrieg fortsetzen. Dagegen unterstützen die Bolschewiki, die im Oktober an die Macht kamen, die Selbstbestimmungsbestrebungen. Wenige Tage nach der Oktoberrevolution, am 15. November 1917, erließ die neue Sowjetmacht die „Deklaration über die Rechte der Völker Russlands“. Den Nationalitäten wurde das Recht auf Selbstbestimmung gewährt, ob als gleichberechtigter Teil Russlands oder als unabhängige Nationalstaaten. Damit wurde die Grundlage geschaffen für neue Staaten wie Estland, Polen, Finnland, die Ukraine, Georgien, Armenien und Aserbaidschan. Doch natürlich war damit eine wichtige Frage offen: Wer sollte diese neuen Staaten regieren, welche Wirtschaftsordnung sollte dort herrschen?

Umkämpfte Gebiete, neue Konflikte

Revolutionäre Arbeiter*innen versuchten, Räterepubliken zu errichten. In Lettland hatten die Bolschewiki eine starke Basis. Revolutionäre lettische Regimenter der alten zaristischen Armee bildeten den Kern der neu geschaffenen Roten Armee. Doch im Baltikum brach – wie in Russland auch – ein Bürgerkrieg zwischen „roten“ Revolutionär*innen und „weißen“ Konterrevolutionär*innen aus, der durch Unterstützung der Konterrevolutionär*innen  durch deutsche Truppen mit einer Niederlage der „Roten“ endete. Lettland, Estland und Litauen wurden von da an zu bürgerlichen Staaten mit antikommunistischen Regierungen. Dasselbe galt auch für das 1918 neu gegründete Polen. 1920 fielen dessen Truppen sogar in Sowjetrussland ein und besetzten Kiew. Besonders brutal tobte der Bürgerkrieg in Finnland, wo sich 1918 „Rote“ und „Weiße“ bekämpften. Anders als in Russland siegten dort die Weißen, was in einen Massenmord an ca. 30.000 besiegten finnischen Arbeiter*innen mündete. In der Ukraine setzten sich rechte Sozialdemokrat*innen an die Spitze der neuen Ukrainischen Volksrepublik, die vom deutschen und österreichischen Imperialismus gestützt wurde. Die pro-sowjetischen Kräfte in der Ukraine hatten lange das Problem, keine Basis in der ukrainischsprachigen bäuerlichen Bevölkerung zu finden, was es für die bürgerlichen Nationalist*innen leichter machte, sie als „fremd“ abzulehnen. In den ersten Jahren stützten sich die Bolschewiki in der Ukraine auf russischsprachige Arbeiter*innen. Erst ab 1920/21 setzte sich die Sowjetmacht durch. Im Kaukasus entstanden eigene bürgerliche Staaten, die sich zeitweise vereinten, dann wieder bekriegten. Während des Bürgerkrieges wurden nach und nach Armenien, Aserbaidschan und Georgien Sowjetrepubliken und traten der Sowjetunion bei. Die bürgerlichen Staaten wurden dabei zu Teilrepubliken der neuen Föderation.

Der Sonderfall Georgien

In Georgien waren rechte Sozialdemokrat*innen (Menschewiki) von 1918-21 an der Macht. Sie setzten auf georgischen Nationalismus und waren in Kriege mit ihren Nachbarstaaten sowie den Minderheiten im eigenen Land verwickelt. Die bolschewistische Opposition im Land unterdrückten sie und gingen wechselnde Bündnisse mit imperialistischen Ländern wie Großbritannien und Deutschland ein. Das machte Georgien zum potenziellen Aufmarschgebiet für Interventionstruppen. 1921 marschierte die Rote Armee zur Unterstützung der dortigen Bolschewiki und nationalen Minderheiten ein und beendete die georgische Unabhängigkeit gewaltsam. Trotzki schrieb später rückblickend, dass er diese Maßnahme, die maßgeblich von Stalin und Ordschonikdse (beide georgischer Herkunft) vorangetrieben wurde, politisch falsch fand. Dennoch verteidigte er sie öffentlich als Beispiel dafür, dass die Ziele des Klassenkampfes und des Kampfes gegen den Weltimperialismus für Revolutionär*innen höhere Priorität haben als die Souveränität eines einzelnen Nationalstaats. Nichtsdestotrotz sollte diese Entstehungsgeschichte Sowjetgeorgiens durch militärische Zwangsmittel bis zum Schluss ein politisches Problem bleiben. Lenin,Trotzki und die Führung der Bolschewiki in Georgien bemühten sich gegenüber Stalin, mehr Selbstbestimmung zu erkämpfen. Die „georgische Frage“ war ein wichtiger Teil des letzten Kampfes des schon todkranken Lenin 1922-23 gegen Stalin und die neue Bürokratie.

Die Politik der „Korenisazija“

Mit dem Sieg der Roten Armee im Bürgerkrieg und der Gründung der UdSSR als Föderation 1922 bekamen die Bolschewiki die Möglichkeit, ihr Programm der Selbstbestimmung der vielen Völker unter Friedensbedingungen zu verwirklichen. (Auch wenn es in den 1920er Jahren noch in Zentralasien Aufstände religiöser Stammesführer, der „Basmatschen“, gegen die Bolschewiki gab.) In den 1920ern setzte die Sowjetmacht darauf, nationale Kultur und Sprache zu fördern. Die Sowjetmacht sollte sich „einwurzeln“ – das bedeutet der Name dieser „Korenisazija“-Politik. Viele Nationalsprachen von kleinen Nomad*innenvölkern in Zentralasien und Sibirien wurden erstmals verschriftlicht. Besondere Verdienste erwarb sich die junge Sowjetunion bei der kulturellen Förderung und Integration der besonders unterdrückten Roma. So gab es Schulen, Hochschulen und Theater in Romani.

Ukrainisches Plakat, 1921: “Sohn! Tritt in die Schule der Roten Kommandanten ein und die Verteidigung der Sowjetukraine wird gesichert sein.”

Bemerkenswert war der Umgang der Sowjetmacht in den islamischen, von feudalen Stammesstrukturen geprägten Gebieten Turkmenistans, Aserbaidschans, der Tatarengebiete und Usbekistans. Die Bolschewiki duldeten dort lokale Scharia-Gerichte. Allerdings konnten Sowjetgerichte ihre Urteile revidieren. Durch diese Methode konnte die Sowjetmacht Entscheidungen, die frauenfeindlich oder auf andere Weise ungerecht waren, aushebeln und wurde zur Anwältin der Frauen und Armen in den muslimischen Gegenden. 

Errungenschaften trotz Rückschritte

Mit der Stalinisierung wurden viele dieser Maßnahmen wieder zurückgenommen. Spätestens in den 1930ern wurden Freiheiten für die nationalen Minderheiten eingeschränkt. Es gab Zwangssesshaftmachungen von Nomad*innen und politische Säuberungen gegen Kommunist*innen aus nationalen Minderheiten, die auf nationale Eigenständigkeit setzen. Die Bedeutung der russischen Nation in der UdSSR wurde stark betont. Trauriger Höhepunkte dieser Rückentwicklung war Stalins Politik der Zwangsumsiedlungen und Kollektivstrafen gegen ganze Nationalitäten, wie gegen Wolgadeutsche, Krim-Tatar*innen und Tschetschen*innen.

Das krimtatarische Dorf Üsküt (russ. Uskut), heute Prywitne/ Priwjetnoje, nachdem 1945 alle Bewohner*innen deportiert wurden

Nach Stalins Tod endeten die schlimmsten Auswüchse. Doch blieb die UdSSR bis zu ihrem Untergang fest in den Händen einer privilegierten Bürokrat*innenschicht. Als die UdSSR zusammenbrach, kamen die lange verdrängten Nationalitätenkonflikte wieder zum Ausbruch. Die bolschewistische Politik des Rechts auf nationale Selbstbestimmung bietet in ihrer unverfälschten Form bis heute eine Vorstellung für ein friedliches, demokratisches und gleichberechtigtes Zusammenleben von Nationalitäten, welches eine notwendige Ausgangsbedingung für den freiwilligen Zusammenschluss aller Nationalitäten zu einer sozialistischen Gemeinschaft ist. 

Weiterführende Texte

Nationale Frage und marxistische Theorie – Teil 2: Die sowjetische Erfahrung

Marxismus und die nationale Frage

Bücher zum Bestellen:

Trotzki – Zwischen Imperialismus und Revolution

Lenin – Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage

Lenin – Die nationale Frage in unserem Programm