Seit Anfang März steigen die Coronazahlen in Deutschland wieder stark an. Die Anzahl der Intensivpatient*innen erhöhte sich zwischen dem 13.3. und dem 13.4. um 70%. Die bundesweite 7-Tage Inzidenz liegt heute bei 160. Seit dem 6.4. steigt auch die Zahl der Todesfälle, die seit Mitte Januar steil gefallen war, wieder an.
Die von den bisher für Infektionsschutz zuständigen Bundesländern ergriffenen Maßnahmen sind sehr uneinheitlich. Das Bundeskabinett hat nun beschlossen, den föderalistischen Flickenteppich zu beseitigen und bundeseinheitliche Regeln zu schaffen. Diese Regelung beinhaltet eine verbindliche Ausgangssperre von 21:00 Uhr bis 5:00 Uhr bei einer Inzidenz über 100 mit nur wenigen Ausnahmen wie medizinische Notfälle oder Wege zur Arbeit, Kontaktbeschränkungen auf höchstens eine haushaltsfremde Person und maximal 5 Personen insgesamt – wobei Kinder unter 14 ausgenommen sind.
Fabriken, Lager, Großraumbüros und Behörden bleiben uneingeschränkt geöffnet bzw produzieren weiter. Für die Weiterführung von Präsenzunterricht und- betreuung an Schulen und Kitas gilt ein Inzidenzwert von unter 200, bei zwei obligatorischen Tests pro Woche, wobei zahlreiche Ausnahmen, z.B. für Abschlussklassen, erlaubt werden. Also Ausgangssperre ab einer Inzidenz von 100, Distanzunterricht aber erst ab einer Inzidenz von 200. Dabei geht es nicht um das Wohl der Kinder, sondern um das Wohl der Wirtschaft, die Eltern sollen zur Arbeit gehen. Daran ändert auch nichts, dass die Anzahl von bezahlten Krankentagen zur Kinderbetreuung von 20 auf 30 erhöht werden und auch für Fälle gelten soll, in denen Schulen und Kitas corona-bedingt schließen müssen. Allerdings soll es den Ländern und Kommunen weiter gestattet werden, die Arbeitgeber hier durch Notbetreuungen zu entlasten und die Regelung gilt natürlich nur für betreuende Kolleg*innen, die nicht im Homeoffice sind. Jede/r darf nachrechnen an wie vielen Tagen die Schule des eigenen Kindes schon geschlossen war. Die volle Lohnfortzahlung an allen Schulschließungstagen, das wäre eine korrekte bundesweite Regelung,
Insgesamt gilt für die sog. „Notbremse“ weiter, dass die Maßnahmen fast ausschließlich unser Privatleben betreffen, während Eingriffe in die Wirtschaft und – in Bezug auf den Bildungsbereich – die Leistungsgesellschaft allgemein, koste es was es wolle, vermieden werden. Nicht einmal zu einer verbindlichen Testpflicht für Präsenzbeschäftigte konnte sich das Kabinett durchringen. Die Pflicht zu einem Schnelltest pro Woche und diesen auch nur “anzubieten”, ist zur Bekämpfung des Virus am Arbeitsplatz völlig unzureichend.
Die „Bundesnotbremse“ ist reiner Aktionismus. Ihr Kernstück ist die nächtliche Ausgangssperre, obwohl alle wissenschaftlichen Erkenntnisse darauf hindeuten, dass die meisten Infektionen nicht draußen, sondern in geschlossenen Räumen stattfinden und die Tages- bzw. Nachtzeit hierfür keine Rolle spielt. Es gehe darum, Infektionen bei Zusammenkünften von Jugendliche zu verhindern, heißt es.
Sie dient dazu, den Eindruck zu erwecken, dass unser Freizeitverhalten für den Anstieg der Infektionen verantwortlich ist, obwohl Vieles dafür spricht, dass sich die Meisten auf der Arbeit, im ÖPNV auf dem Arbeitsweg und in der Schule infizieren – oder natürlich in Institutionen wie Altenheimen, Knästen und Asylbewerber*innen bzw. Obdachlosenunterkünften.
Am Arbeitsplatz gilt weiter: wenn der Mindestabstand eingehalten wird oder eine Plexiglasscheibe als “Spuckschutz” vorhanden ist, braucht keine Maske getragen zu werden. Dabei erklären Virologen gebetsmühlenartig, dass der Hauptinfektionsweg die Übertragung des Virus durch Aerosole in geschlossenen Räume ist. Abstand und “Spuckschutz” nützen da wenig. Aber eine Maskenpflicht am Arbeitsplatz würde zu Recht die Frage nach längeren Erholungspausen für die Beschäftigten aufwerfen. ‘Das würde ja den Profit schmälern’ weiß die Wirtschaft und sagt dazu wie zu allen anderen Maßnahmen die sie betreffen “Nein”.
Statt die gesamte Bevölkerung abends einzusperren muss das Virus endlich am Arbeitsplatz wirksam ausgesperrt werden
Die Ausgangssperren sind unnötig und unsozial. Sie treffen diejenigen am härtesten, die in beengten Verhältnissen wohnen, oft nicht einmal über einen Balkon verfügen und die daher die kommenden lauen Frühlingsabende in der Zweizimmerwohnung verbringen müssten.
Die bundeseinheitliche Regelung auf Grund der Inzidenzwerte führt außerdem dazu, dass unterschiedliche Städte und Kommunen über einen Kamm geschoren werden, obwohl sie offensichtlich im Infektionsgeschehen mit unterschiedlichen Problemen zu kämpfen haben. Lübeck z.B. hat bei 216.000 Einwohner*innen und einer Bevölkerungsdichte von 1011 Menschen pro Quadratkilometer einen Inzidenzwert von 69, ist also bisher nicht von der „Notbremse“ betroffen. Dagegen hat Rostock bei etwas weniger Einwohner*innen und einer vergleichbaren Bevölkerungsdichte (1154 Personen pro Quadratkilometer) eine Inzidenz von 109, fällt also unter die Regelungen der „Notbremse“. Die Annahme, dass Rostocker*innen im Vergleich zu Lübecker*innen ca. 60% häufiger zwischen 21:00 und 5:00 feiern gehen, ist fernliegend und bietet keine Erklärung für eine 60%ige Differenz bei den Inzidenzwerten. Deshalb spricht Nichts dafür, dass eine nächtliche Ausgangssperre zu einer Angleichung des Infektionsniveaus zwischen Lübeck und Rostock führen kann.
Die Stadt Hamburg hat einen Inzidenzwert von 145, fast 2 Millionen Einwohner*innen und eine Bevölkerungsdichte von 2443 Personen pro Quadratkilometer. Der Landkreis Oberspreewald-Lausitz hat mit 147 einen vergleichbaren Inzidenzwert. Die dortige Bevölkerung entspricht 6% der Hamburger*innen, sie verteilt sich aber auf 89 Personen pro Quadratkilometer. Die Erwartung, dass dieselbe Maßnahme in Hamburg und im Kreis Oberspreewald- Lausitz dieselben Auswirkungen haben kann, ist lächerlich.
Daher ist die „Bundesnotbremse“ keine Lösung. Nur eine vorurteilslose und nicht auf Sicherung der Profite konzentrierte Bekämpfung des Infektionsgeschehens, gerade auch in den Betrieben, und die demokratische Erarbeitung von Infektionsschutzmaßnahmen durch die Bevölkerung, insbesondere durch die Präsenzbeschäftigten, kann uns in die Lage versetzen, die Pandemie zu kontrollieren.