Planlos in den Lockdown

Ein Kommentar von Holger Burner

Die zweite Welle ist da. Und wir zahlen gerade den Preis dafür, wie das politische System funktioniert: Die letzten Wochen und Monate sind damit verbracht worden, wahlweise Wunschszenarien zu formulieren, Mantras davon, dass es „bei uns besser läuft als bei den anderen“ und Beschwörungen, dass, was immer auch komme, vor allem ein wirtschaftlicher Lockdown verhindert werden müsse.

Das ist keine Vorbereitung auf einen Pandemieherbst- und Winter. Das ist ein eiskaltes Abwägen davon, wessen Interessen im Kapitalismus am meisten geschützt werden. Und alle, die da nicht oben auf der Liste stehen (Spoiler Alarm: wir Arbeiter*innen), werden jetzt zu Kollateralschäden einer verpassten Vorbereitung.

Wie kann es sein, dass die Regierung auf einen exponentiellen Anstieg der Zahlen so schlecht vorbereitet ist? Wie kann es sein, dass jetzt scheinbar ad-hoc Maßnahmen getroffen werden, über die wir lange vorher gesellschaftlich hätten diskutieren müssen? Auch, um für solche Maßnahmen, die sinnvoll sind, eine Nachvollziehbarkeit und Verständnis zu schaffen.

Die Antwort ist relativ einfach und leider traurig: Uns mitreden zu lassen ist im Kapitalismus eine schlechte Idee für die Reichen und Mächtigen. Könnten wir doch auf die Idee kommen, dass die Finanzierung von Filteranlagen für Klassenzimmer wichtiger ist als neue Kampfjets für die Bundeswehr. (By the way: In den Ministerien, die diese Entscheidungen treffen, sind diese Filteranlagen längst eingebaut). Oder dass es gerade nicht besonders wichtig ist, dass Schlachthäuser weiter aufbleiben und das Privatvermögen von Tönnies ausreichen würde, um seinen Mitarbeiter*innen den Lohn für fünf Pandemien lang weiter auszuzahlen.

Auch dass wir uns die Vorschläge der Wissenschaftler*innen gerade in unserer Freizeit aus den Medien privat rausrecherchieren müssen ist eine Schande. Ein Vorschlag, wie der von Drosten zu vier-wöchigen Wellenbrecher-Lockdowns, hätte in der letzten Woche von jeder Belegschaft in jedem Betrieb diskutiert werden müssen – denn wir wissen am besten, wie man Produktion plant, umstellt, aussetzt, anders organisiert.

Momentan hat man den Eindruck, dass Medien und Politiker*innen vor allem eins machen: private Schuldzuweisungen für den Pandemieverlauf. Da sind über Monate die Jugendlichen, die „egoistisch weiter Party machen wollen“ Thema. Dass man in der Zeit auch bessere Lüftungskonzepte & Filteranlagenbau hätte vorantreiben können? Linkes Rumgemeckere! Artikelüberschriften bringen rüber: Wenn sich Leute an der Arbeit anstecken, dann in der Mittagspause und nicht in den acht Stunden, in denen sie sich zu kleine Räume teilen. Gepaart mit ein bisschen Rassismus, der nicht zu kleine und enge Wohnungen thematisiert, sondern das sich „bestimmte Bevölkerungsschichten nicht an Regeln halten können“ – am besten mit einem Artikel über eine Shishabar daneben.

Das Ziel? Das wir die Verantwortung für den weiteren Pandemieverlauf uns gegenseitig zuschieben, statt zu fragen, welche Stellschrauben verändert gehören. In einem wirklich demokratischen System würden wir nicht in eine Schulöffnung mit unterschiedlichen Regeln stolpern, sondern Schüler*innen, Eltern, Pädagog*innen gemeinsam Regelungen finden lassen. Wir würden zumindest darüber diskutieren, wie das Verhältnis von Ansteckungsgefahr auf den Arbeitsplätzen und im ÖPNV im Verhältnis zur Ansteckungsgefahr in Restaurants mit Hygienekonzept stünde. Stattdessen gibt es das heilige Kalb „Wirtschaftsprofite und (Standort)Konkurrenzvorteil“ – und wir dürfen uns höchstens darüber streiten, welche Opfer wir dafür bringen dürfen. Und zwar unter anderem Armut, Existenzangst, psychische Schäden und Verzicht auf jegliche kulturelle Stimulanz außerhalb des Fernsehgeräts.

Auch in einem sozialistischen System mit wirklicher Arbeiter*innendemokratie wäre diese Pandemie eine Herausforderung. Aber eine, die wir gemeinsam und demokratisch bestimmt meistern würden. Und vor allem: Mit einem gesellschaftlichen Plan für Wirtschaft, Wohnen und öffentlichem Leben. Und nicht mit einem Haufen Politiker*innen, die wie bei einem schlechten Poetry-Slam irgendwelche Satzfetzen mit einer bestimmten Betonung aneinanderreihen, damit sie wirken, als ob sie auf diese Bühne gehören.

David aka Holger Burner