Das Massaker im nigerianischen Baga

Entweder Sozialismus oder Barbarei!

von H.T. Soweto, „Democratic Socialist Movement“ (DSM; Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Nigeria) – Der Artikel erschien ursprünglich am 19. Januar 2015 auf socialistworld.net

Das blutige, über vier Tage andauernde Massaker, das in Baga im Nordosten Nigerias verübt wurde, führt uns in abstoßender Weise vor Augen, dass es – so mörderisch die Situation im Land schon sein mag – einfach keine Grenze gibt, was die Degenerierung der Gesellschaft angeht. Erste Berichte sprechen von 2.000 Toten und 35.000 Vertriebenen. Das Militär hat diese Zahlen jedoch als übertrieben abgetan. In einer offiziellen Erklärung gab General Chris Olukolade, ein Armeesprecher, an, dass die Zahl der Getöteten „bisher die Marke von 150 Personen nicht übertroffen“ habe, wozu auch Kämpfer von „Boko Haram“ zählen sollen. Ob es nun 2000 oder 150 Tote sind: In jedem Fall geht es um den unvorstellbaren Verlust von Menschenleben an nur einem einzigen Tag.

Insgesamt sind bei den Angriffen auf Baga und Doron Baga 3.720 Gebäude (Wohnhäuser, Hospitäler, Schulen) dem Erdboden gleichgemacht worden. Überlebende sprechen davon, dass man durch leere Dörfer geht, die voll sind mit leblosen Körpern. Jede Schamgrenze ist damit überschritten worden. Solche Taten sind absolut nicht hinnehmbar, und die Täter müssen zur Rechenschaft gezogen werden. SozialistInnen verurteilen dieses Gemetzel und stimmen mit den Forderungen der NigerianerInnen überein, die diesen Tag für Tag stattfindenden Verlust an Menschenleben beendet wissen wollen.

Anhand der jüngsten Satellitenbildern beschreibt „Amnesty International“ den Angriff auf Baga als „Verwüstung katastrophischen Ausmaßes in zwei Ortschaften, von denen eine innerhalb von vier Tagen nahezu von der Landkarte getilgt worden ist“. Von all den Anschlägen und Gewalttaten, die die Sekte zu verantworten hat, handelt es sich bei diesem Fall um den „bislang umfangreichsten und zerstörerischsten“.

Legt man sämtliche heranziehbaren Maßstäbe zugrunde, so ist es nun eine schwere Untertreibung, wenn man die seit sechs Jahren durchgeführten Angriffe von „Boko Haram“ einfach als terroristische Attacken beschreibt. Wir haben es hierbei mit einem Krieg innerhalb des Territoriums eines souveränen Landes zu tun. In Teilen der drei betroffenen Bundesstaaten im Nordosten Nigerias sind die Verwaltungsstrukturen der Regierungen zusammengebrochen, weil die Mitglieder der Sekte sich dort durchgesetzt haben. Momentan kontrolliert die Sekte dort einen Gutteil der Grenze zwischen Nigeria und dem Tschad bzw. zu Kamerun. Damit haben sie auch die Kontrolle über den Handel und den Warenverkehr.

Mit ihren „Heldentaten“ hat eine islamistische Terrorvereinigung namens „Boko Haram“ die Standards des weltweiten Terrorismus auf eine neue Stufe verfrachtet. In der Nacht vom 14. auf den 15. April 2014 sind von dieser Gruppe 276 Schulmädchen aus der Ortschaft Chibok im Bundesstaat Borno entführt worden. Abgesehen von einigen wenigen, die in der Lage waren ins Unterholz zu flüchten, als sie zum Basislager der Sekte abtransportiert werden sollten, hat man von den Verschwundenen seitdem nichts mehr gehört. Und das trotz der internationalen Empörung und einer stürmischen Protestkampagne in Nigeria ( vgl.: „#BringBackOurGirls“), die zur Freilassung beitragen soll. Doch statt sich zu mäßigen hat „Boko Haram“ mit einer Praxis weitergemacht, die jeden Tag zu neuem Gemetzel führt. Auch in Kamerun wurde ein Rückzugsort etabliert, wo vor kurzem rund 80 Personen entführt worden sind, darunter viele Kinder. Drei weitere Personen sind bei einem Angriff ums Leben gekommen, der im Norden des Landes und über die dortigen Landesgrenzen hinweg durchgeführt wurde.

Hilfloses Militär

Die atemberaubende Fähigkeit dieser Sekte, mit der sie von einer Gewalttat zur nächsten schreitet, ist so alarmierend, dass die Öffentlichkeit sich kaum von einem Blutbad erholt hat, da wird schon das nächste angerichtet. Genauso alarmierend ist die Hilflosigkeit der Armee. Während des Angriffs auf Baga, so wird berichtet, sollen sich Soldaten „Zivilisten angeschlossen haben, die in den Busch geflohen sind“. Tatsächlich befindet sich in Baga das Hauptquartier der „Multinational Joint Task Force“ (MNJTF), einer internationalen Einheit mit Soldaten aus Nigeria, dem Niger und dem Tschad, die 1994 zusammengestellt wurde, um sich grenzübergreifenden Sicherheitsaspekten sowie seit einiger Zeit auch dem Problem namens „Boko Haram“ zu widmen. Als die Kämpfer von „Boko Haram“ herannahten, überrannten sie zuerst die Kasernenanlage der MNJTF. Es gibt Berichte, dass die Soldaten fliehen mussten, nachdem sie die Sektenmitglieder neun Stunden lang abwehren konnten, allerdings ohne Verstärkung zu bekommen.

Der Niedergang der nigerianischen Armee hat mit dem generellen Vertrauensverlust in das Regime und das System insgesamt zu tun. Jahrelange Korruption hat in der Armee zum Verfall geführt, wovon auch die Ausstattung und die Bewaffnung betroffen ist. Die Lebensstandards der unteren Ränge sind so schlecht wie beim Rest der Arbeiterklasse des Landes. Das Ergebnis davon ist, dass die Soldaten keine Lust haben, ihr Leben für eine korrupte herrschende Elite aufs Spiel zu setzen. Es ist zu Meutereien gekommen und zu einer Reihe von Prozessen vor Militärgerichten. Im September 2014 sind 12 Soldaten wegen Meuterei zum Tode verurteilt worden. Ende letzten Jahres wurde dann gegen weitere 54 Soldaten wegen Befehlsverweigerung die Todesstrafe verhängt. Mehr als 100 Rekruten stehen zudem vor Gericht, weil man ihnen Vergehen wie den Verlust von Waffen während militärischer Einsätze bis hin zu Fahrlässigkeit und Feigheit vorwirft. Doch anstatt die Disziplin wieder herzustellen, haben diese willkürlichen und selbstherrlichen Maßnahmen zu noch stärkerem Unmut unter den Soldaten, ihren Familien und den Menschen geführt, die darüber hinaus von ihren Einkünften abhängig sind.

So kam es beispielsweise am Freitag, dem 16. Januar 2015, in Jos (im Bundesstaat Plateau State) zu einer Protestaktion, an der sich rund 227 Militärangehörige beteiligten. Sie wollten ihre Entlassung aus der nigerianischen Armee nicht einfach hinnehmen, da sie diese als Folge des anhaltenden Krieges gegen den Aufstand von „Boko Haram“ betrachten. Der Rädelsführer der protestierenden Soldaten, Sergeant Abiona Elisah, zeichnete dabei ein blutiges Bild von den Bedingungen, die es den SoldatInnen extrem schwer machen, physisch wie auch mental auf die Konfrontation mit „Boko Haram“ vorbereitet zu sein:

„Wir sind überrascht, dass wir in unserem eigenen Land derart behandelt werden können. Wir sind unbewaffnet losgeschickt worden, um gegen Aufständische vorzugehen. Bei dem Versuch, unser Vaterland zu verteidigen, sind viele unserer Kameraden getötet worden. Sogar die Kameraden, die im Hospital liegen, wo sie wegen ihrer Verletzungen, die sie auf dem Schlachtfeld davongetragen haben, behandelt werden, sind noch während ihres Krankenhausaufenthalts aus der Armee entlassen worden. Am schlimmsten ist, dass die Familien unserer Kameraden, die in Adamawa und Yobe ihr Leben ließen, jetzt Hunger leiden, weil die nigerianische Armee sich weigert, ihre Anwartschaften auszuzahlen.“ (vgl.: „This Day“, 17. Januar 2015).

Darüber hinaus wurde bekannt, dass SoldatInnen, PolizistInnen und anderes Sicherheitspersonal ihre Uniformen und Ausrüstung oft selbst bezahlen müssen. In einigen Fällen müssen sie sich sogar die Munition selbst kaufen, wenn sie in Gefahrengebiete verlegt werden, in denen diese schwierig zu bekommen ist. Der jämmerliche Zustand, in dem sich Armee, Polizei und andere Sicherheitsdienste befinden, obwohl jedes Jahr seit Beginn des Aufstands von „Boko Haram“ im Jahr 2009 dafür gestimmt wird, Milliarden von Naira in den „Krieg gegen den Terror“ zu stecken, macht eine energische Kampagne der Gewerkschaftsbewegung erforderlich. Die SoldatInnen der unteren Ränge in der Armee sind Teil der Arbeiterklasse. Wenn sie – als Teil der Arbeiterklasse – in den Tod geschickt werden, so müssen wir das mit Nachdruck verurteilen und kollegiale Solidarität leisten.

Damit ist nicht gemeint, den „Krieg gegen den Terror“ zu unterstützen, den die Regierung betreibt. Es muss vielmehr darum gehen, dass die Arbeiterklasse sich mit den Angehörigen der Arbeiterklasse zu solidarisieren beginnt, die der Armee angehören, und dass letztere umgekehrt mit ihrer gesellschaftlichen Klasse vereint werden. Eine solche Kampagne muss zu allererst die Rücknahme der Disziplinarverfahren zum Ziel haben, die Verbesserung der sozialen Bedingungen für die SoldatInnen, PolizistInnen und Sicherheitsbediensteten der unteren Ränge, angemessene Kompensationsleistungen für die Hinterbliebenen von im Dienst ums Leben Gekommene, Verletzte oder Dienstunfähige sowie die angemessene Bezahlung der Diensthabenden, die Demokratisierung von Armee und Polizei sowie das Recht der SoldatInnen, PolizistInnen und anderen Sicherheitsbediensteten, Gewerkschaften gründen zu können, um ihre Rechte zu verteidigen.

Kein Ende in Sicht

Die Realität, zu der auch gehört, dass über eine Million NigerianerInnen zu Flüchtlingen im eigenen Land geworden sind, und die Tatsache, dass ein Gutteil der drei nordöstlichen Bundesstaaten (Borno, Yobe und Adamawa) komplett überrannt und eingenommen worden ist, haben zu einer ernsthaften Krise geführt, was die Durchführung der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen angeht, die auf den 14. Februar terminiert worden sind. Abgesehen von der Frage, wie demokratisch diese Wahlen überhaupt sein werden, gibt es berechtigte Zweifel, wie sehr die „Independent National Electoral Commission“ (INEC; dt.: „Unabhängige Landeswahlleitung“) überhaupt in der Lage ist, in den nordöstlichen Bundesstaaten für einen geordneten Wahlgang zu sorgen. Über diese Gebiete, in denen Kasernen angegriffen, ganze Siedlungen und Dörfer von „Boko Haram“ dem Erdboden gleichgemacht worden sind, hat die nigerianische Regierung die Kontrolle verloren.

Die Frage, wie man das Gemtzel von „Boko Haram“ beenden soll, beherrscht dann auch den laufenden Wahlkampf. Für den amtierenden Präsidenten Jonathan von der „Peoples Democratic Party“ (PDP), der seit sechs Jahren einer arbeitnehmerfeindlichen kapitalistischen Regierung vorsteht, für die – so heißt es – selbst für nigerianische Verhältnisse eine schlechte Bilanz zu ziehen ist, bedeuten diese Wahlen eine schwere Herausforderung. Schließlich wollen Jonathan und seine PDP die Tradition aufrechterhalten, nach der Amtsinhaber häufig die besseren Chancen haben, um wiedergewählt zu werden. Der pensionierte General Muhammadu Buhari, seines Zeichens Kandidat der größten Oppositionspartei „All Progressive Congress“ (APC), hat versprochen, die Rebellion im Falle seiner Wahl zu beenden. Dabei fehlt bislang eine klare Antwort auf die Frage, worin sich seine Herangehensweise an das Problem wesentlich von der der jetzigen Regierung unterscheiden soll.

Klar ist hingegen, dass das, was beide Präsidentschaftskandidaten – sowohl von der PDP als auch dem APC – als Lösung für das Problem namens „Boko Haram“ im Sinn haben, ziemlich sicher aus stärkeren Militäraktionen besteht. Als pensionierter General und ehemaliges Staatsoberhaupt, das durch einen Militärputsch an die Macht kam, hofft Muhammadu Buhari, auf seiner ganzen militärischen Erfahrung wie auch dem Umstand aufbauen zu können, dass er aus dem Norden des Landes stammt und Moslem ist.

So erstrebenswert eine militärische Lösung in den Augen traumatisierter NigerianerInnen auch sein mag, so ist auch wahr, dass davon nur eine kurzfristige Atempause ausgehen kann. Für das Problem namens „Boko Haram“ kann es keine „einfache militärische Lösung“ geben. Es ist das grandiose Versagen der kapitalistischen herrschenden Elite, das für Gruppen wie „Boko Haram“ ideale Bedingungen geschaffen hat, um unter den jungen und verarmten Menschen im Land massenhaft rekrutieren zu können. Der Gründer von „Boko Haram“, Muhammed Yusuff, war in der Lage, im Nordosten Nigerias, der als ärmste und am schlechtesten entwickelte Region des Landes gilt, Massenunterstützung zu bekommen, weil er in seinen Predigten gegen die Ungleichheit in der Gesellschaft und die Korruption der regierenden Elite wetterte. Das hat die erwerbslosen jungen Leute und die verarmten Existenzen am unteren Rand der Gesellschaft angesprochen.

An dieser Stelle ist es allerdings wichtig darauf hinzuweisen, dass die NigerianerInnen nicht vergessen dürfen, wie dieser Muhammed Yusuff ums Leben gekommen ist. Nachdem man ihn vor laufenden Kameras zur Schau gestellt hatte ist er 2009 ohne Gerichtsverfahren in Untersuchungshaft hingerichtet worden. Das war der Anlass für „Boko Haram“, um zu der Terrororganisation zu werden, die sie heute ist. Abgesehen von der rechtlich nicht legitimierten Tötung Yusuffs und anderer Sektenführer sowie ihrer Finanziers sind mehr als 700 Mitglieder dieser Sekte in einem breit angelegten Vorgehen zur Strecke gebracht worden. Damals ging eine noch bestens bewaffnete nigerianische Polizei gegen Sektenmitglieder vor, die sich mit Pfeil und Bogen einem Kampf stellten, der auf die vollkommene physische Vernichtung der Sekte ausgerichtet war. Doch anstatt dieses Ziel zu erreichen, geriet die Sekte nur unter die Führung eines noch extremeren Flügels, der von Abubakar Shekau und anderen vertreten wird, denen man nachsagt, Kontakte zu al Kaida im islamischen Maghreb (Region im Norden Afrikas; Anm. d. Übers.) zu haben. Mit der Zeit konnte sich „Boko Haram“ neu aufstellen und begann eine Serie von Rachefeldzügen. Zu diesem Zeitpunkt waren sie besser ausgerüstet, hatten plötzlich Bomben, Panzerfäuste und Kalaschnikows zur Verfügung und konnten auf umfassende technische Kenntnisse sowie Kämpfer zurückgreifen, von denen es heißt, sie seien in Somalia und anderen Zentren des Terrorismus in Afrika ausgebildet worden.

Aus diesem Grund gilt: Selbst wenn man sich des Problems namens „Boko Haram“ entledigen könnte, die Widersprüche aber, die zur Entfremdung der großen Bevölkerungsmehrheit geführt haben, weiterhin Bestand haben (was übrigens vor allem für die jungen Leute im Land gilt!) und die Mehrheit der Gesellschaft nach wie vor vom Reichtum des Landes ausgeschlossen bleibt, so besteht immer noch die Gefahr, dass es irgendwo in Nigeria zu Gewaltaufrufen kommen wird. Ein Beispiel ist die Region im Niger Delta, wo ein Vizepräsident namens Goodluck Jonathan, der heute übrigens das Land regiert, seinen Beitrag dazu geleistet haben mag, die KämpferInnen in diesem Gebiet zeitweilig mit Geld und einer Amnestieregelung ruhig gestellt zu haben, die Milliarden von Naira gekostet hat.

Doch auch wenn wir einen aus dem Norden stammenden Moslem mit militärischer Erfahrung als neuen Präsidenten bekommen, der das Gemetzel von „Boko Haram“ bis zu einem gewissen Punkt beenden kann, so sollten die NigerianerInnen nicht davon ausgehen, dass es keine ähnlich gewaltsamen und sektiererischen Agitationsversuche mehr geben wird. Es gibt genügend andere ethnische, religiöse und einige weitere extremistische Gruppierungen, von denen Derartiges zu erwarten ist. „Boko Haram“ ist nicht die erste derartige Bewegung im Norden des Landes. „Ihr reaktionäres und religiöses Auftreten geht viel weiter zurück bis auf das Erstarken der Maitasine-Bewegung in den frühen 1980er Jahren.“ (vgl.: „Socialist Democracy“, Ausgabe Juni/Juli 2014). Von daher wird ein Militärschlag gegen „Boko Haram“ an sich nichts nützen, um das Aufkommen ähnlicher Bewegungen in der Zukunft zu verhindern. Das gilt vor allem, so lange die Bedingungen aus Krise, Armut und Korruption Bestand haben.

Zuallererst liegt das an der scheinbar hartnäckigen ethnischen und religiösen Krise Nigerias, die eine Folge der ungelösten nationalen Frage ist. Das hängt auch mit der undemokratischen Art und Weise zusammen, in der die britischen Kolonialherren die verschiedenen Einheiten in der Region zusammengelegt und daraus einen Staat namens Nigeria gemacht haben. Ein weiterer Grund ist das ausbeuterische und mörderische System des Kapitalismus, aber auch das Erbe der neo-kolonialen kapitalistischen Elite, die regelmäßig mit den religiösen Gefühlen und ethnischen Empfindsamkeiten spielt, um zur Agitation anzustacheln. Sie verfolgt damit nichts anderes als die ganz eigene politische Zielsetzung.

Eine sozialistische Lösung

Von daher besteht der einzige gangbare und nachhaltige Weg, „Boko Haram“ und anderen Erscheinungen, die zur ethno-religiösen Krise beitragen, dauerhaft ein Ende zu bereiten, darin sicherzustellen, dass der enorme Öl- und Rohstoff-Reichtum Nigerias, der im derzeit bestehenden kapitalistischen System nur einem Prozent der Bevölkerung zu Gute kommt, jetzt zum Wohle und Nutzen der Masse der Bevölkerung eingesetzt wird. Das ist die einzige Möglichkeit, mit der wir damit beginnen können, die religiöse und ethnische Spaltung zu beenden. Dazu bedarf es eines Staates, der auf einem umfassenden und öffentlich finanzierten Sozialprogramm aufbaut, mit dem die Entwicklung auf breiter Front vorangetrieben und dafür Sorge getragen wird, dass sich die Infrastruktur und die sozio-ökonomischen Bedingungen in Nigeria verbessern. Es braucht kostenlose Bildung und Gesundheitsversorgung, die Schaffung einer umfassenden Zahl von Arbeitsplätzen und die Umverteilung des Reichtums. Damit ein solches Sozialprogramm erfolgreich sein kann, müssen die arbeitenden Massen allerdings dafür sorgen, dass das ausbeuterische und mörderische System namens Kapitalismus durch ein demokratisches sozialistisches System ersetzt wird.

Wenn es zum Beispiel kostenlose Bildung für alle und in allen Bereichen gibt, wenn die Menschen in Fertigkeiten ausgebildet werden, die sie in sinnvoller Arbeit einbringen können, dann ist es möglich damit zu beginnen, die Millionen von „almajiris“ (die Ärmsten der Armen im Norden Nigerias) ins gesellschaftliche Leben einzubeziehen. Bisher liefern sie nur das „Menschenmaterial“, das am Ende Gruppen wie „Boko Haram“ und anderen extremistischen Kräften in die Hände fällt. Auf diese Weise werden Gruppen wie „Boko Haram“ die Menschen entrissen, die sie heute noch als frische Rekruten eingliedern. Damit wäre der Grundstein gelegt, um die Menschen immun zu machen gegen die Appelle solcher extremistischer Gruppierungen. „Boko Haram“ selbst hält die Zügel über die eigene Armee aus ehemaligen Straßengangs und entfremdeten Jugendlichen auch deshalb fest in der Hand, weil diese Gruppierung Geld und Lebensmittel liefert sowie einen gewissen Lebensstandard garantieren kann. All dies sind eigentlich die ureigensten Aufgaben einer Regierung. Der Kapitalismus hat es dem Staat jedoch unmöglich gemacht, diese Verantwortung zu übernehmen.

Es ist eine Tatsache, dass kein Teil der herrschenden Eliten sich einer politischen und sozio-ökonomischen Alternative verschrieben hat, die zu dieser Lösung beitragen könnte. So stehen die beiden größten politischen Parteien, die bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2015 antreten (die PDP und der APC) beide für eine neoliberale und kapitalistische Politik, die sich gegen die Armen richtet, in der die Bildung unterfinanziert ist sowie Gebührensteigerungen und die Kommerzialisierung aller Bereiche an der Tagesordnung sind. Aus diesem Grund kann keine der beiden Parteien angesichts der Herausforderungen, vor denen das Land steht, für irgendeine Form von dauerhafter Lösung sorgen. Und das gilt auch für das Problem namens „Boko Haram“.

Die Verantwortung dafür, die Nation vor der Barbarei zu bewahren, liegt einzig und allein in den Händen der arbeitenden Massen und der Jugend des Landes. Jede Illusion in irgendeinen Teil der herrschenden Klasse wird nur zu Enttäuschung führen. Für die Arbeiterbewegung besteht die dringende Notwendigkeit, sich jetzt zu erheben, um im Prozess der Vereinigung der NigerianerInnen die führende Rolle zu übernehmen. Geschehen muss dies auf der Grundlage eines Aktionsprogramms, mit dem der Kampf für die Verbesserung der sozio-ökonomischen Verhältnisse aufgenommen werden kann. Es ist die Unfähigkeit der Führung der Arbeiterbewegung, die keine mutige revolutionäre Alternative vertritt, weshalb ein Vakuum entstanden ist, in das „Boko Haram“ eindringen und so eine extremistische Ideologie verbreiten kann. Es gilt hingegen, aus der Sackgasse herauszukommen, in die wir durch die kapitalistische Ausbeutung Nigerias geraten sind.

Die Situation ist derart dramatisch, dass sogar Teile der Medien die Frage stellen, weshalb sich die Führung der Arbeiterbewegung phasenweise so schweigsam und inaktiv verhält. In der Neujahrsausgabe stand im Leitartikel der Tageszeitung „The Punch“ über die politischen Führungspersonen zu lesen: Sie „feiern mit ihren Familien opulente Feste, (während) viele nigerianische Arbeiter Hunger leiden – und wütend sind“. Der Artikel endete mit den Worten: „Der (Gewerkschaftsbund) NLC muss den Finger in die Wunde legen und für die sozialen Belange der nigerianischen Arbeiter kämpfen“. Bedauerlicher Weise haben die Arbeiterführer – auch wenn sie manchmal Forderungen aufstellen – keine konkreten Aktionen vorgeschlagen, um diese auch durchzusetzen. Es ist diese Inaktivität, die Gruppen wie „Boko Haram“ den Raum gibt, um Teile der am meisten entfremdeten und der ärmsten Schichten zu mobilisieren.

Für den gemeinsamen Kampf gibt es allerdings ein großes, latent vorhandenes Potential. Während des Generalstreiks gegen die Streichung der Kraftstoffsubventionen im Januar 2012, der von der Arbeiterbewegung angeführt wurde, erlebte der Norden des Landes einige der schönsten Momente, die eine atemberaubende Massenbewegung nur liefern kann. Die Medien waren voll mit Bildern von christlichen ProtestteilnehmerInnen, die sich untergehakt hatten, um Gruppen von MuslimInnen schützten, die an den aufgebauten Barrikaden ihre Gebete durchführen wollten. Das war der Beweis für die Fähigkeit der arbeitenden Massen, die ohne Weiteres in der Lage sind, ethnische und religiöse Trennlinien zu überwinden und sich im Kampf für die gemeinsame Sache zu vereinen – vor allem dann, wenn die Arbeiterbewegung einen klaren Kurs vorgibt.

So lange die ArbeiterführerInnen damit weitermachen, sich ihrer historischen Rolle zu verschließen und nicht die Führung der arbeitenden und verarmten Massen zu übernehmen, um diese aus dem Würgegriff des Kapitalismus zu befreien, so lange werden fundamentalistische Gruppen damit fortfahren, ihr todbringendes Gift zu versprühen, das dann auf die verzweifelten Massen niedergeht. Wir brauchen eine politische und revolutionäre Alternative, um eine vereinte Bewegung aufzubauen, die angesichts der ethnischen und religiös-verbrämten kapitalistischen Auflösungserscheinungen eine Perspektive aufzeigen kann. Diese Perspektive muss ein Bild von der Zukunft enthalten, das aus echter Einheit, Solidarität und Brüderlichkeit (Schwesterlichkeit) der Menschen aus der Arbeiterklasse besteht. Dabei darf die Frage keine Rolle spielen, wer welcher Ethnie angehört oder welche religiöse Überzeugung gerade vorliegt. Eine solche Gesellschaft ist auf der Grundlage des Kapitalismus nicht möglich. Wie Rosa Luxemburg, die deutsche Sozialistin und Revolutionärin, schon sagte: „Entweder gibt es Sozialismus oder Barbarei!“.

Das „Democratic Socialist Movement“ (DSM) und die „Socialist Party of Nigeria“ (SPN) fordern:

• Unabhängige Aktionen, die nun unerlässlich sind, um die Wohnviertel und Gemeinden gegen die Angriffe von „Boko Haram“ zu verteidigen. Das „Democratic Socialist Movement“ (DSM) und die „Socialist Party of Nigeria“ (SPN) fordern die Aufstellung bewaffneter, multi-ethnisch und multi-religiös zusammengesetzter Verteidigungsausschüsse, denen arbeitende Menschen und junge Leute angehören und die unter deren demokratischer Kontrolle und Aufsicht stehen, um für Sicherheit in den Wohnvierteln und Kommunen zu sorgen.

• Wir fordern die Verbesserung der Bedingungen in den Flüchtlingslagern. Notwendig ist die Versorgung mit Lebensmitteln, Trinkwasser, sanitären Einrichtungen, Betten und Schlafzeug, eine Gesundheitsversorgung und ein Programm zur gesellschaftlichen Eingliederung. Die Gewerkschaftsbewegung muss eingreifen und die Flüchtlingszentren besuchen, um sich über den Zustand der NigerianerInnen zu informieren, die sich dort aufhalten müssen, und den Kampf für die Verbesserung der dortigen Bedingungen aufzunehmen.

• Rücknahme der Todesurteile und Entlassungen mit denen die Soldaten und andere Angehörige der Sicherheitskräfte belegt wurden, denen man im Kampf gegen „Boko Haram“ Gehorsamsverweigerung, Fahrlässigkeit und Feigheit vorgeworfen hat.

• Wir fordern höhere Löhne und bessere Bedingungen für die SoldatInnen der unteren Ränge und andere Angehörige von Sicherheitsdiensten. Außerdem muss ihnen das Recht, Gewerkschaften zu gründen bzw. ihnen beizutreten, gewährt werden. Ihnen muss das Streikrecht zugestanden werden, und sie müssen das Recht haben, inakzeptable Befehle ihrer Vorgesetzten in Frage stellen zu können.

• Für die Organisierung von Solidaritätsaktionen wie Kundgebungen und Protestveranstaltungen durch die Arbeiterschaft und die Zivilgesellschaft, um mit der Vereinigung der arbeitenden Massen gegen „Boko Haram“ zu beginnen, aber auch um gegen die armenfeindliche und kapitalistische Politik vorzugehen, die nur die Bedingungen schafft, die „Boko Haram“ braucht, um junge Menschen und Arme für sich gewinnen zu können.

• Für den Aufbau einer unabhängigen Bewegung durch die Arbeiterschaft, die den Kampf gegen eine Politik aufnehmen kann, die sich gegen die verarmten Massen richtet. Ziele dieser Bewegung müssen kostenlose Bildung, einträgliche Arbeitsplätze, ein höherer bundesweiter Mindestlohn und bessere Lebensbedingungen sein.

• Die Gewerkschaftsbünde „Nigeria Labour Congress“ und „Trade Union Congress“ müssen eine Konferenz einberufen, an der Gewerkschaften, sozialistische und den Massen zugewandte Organisationen teilnehmen, um über die Gründung einer Partei der arbeitenden Menschen zu diskutieren, die mit sozialistischen Ideen bewaffnet ist, um für die Machtübernahme durch die Arbeiterklasse und eine Gesellschaft zu kämpfen, die frei ist von ethnischer und religiöser Spaltung.