Einheitsfront und rot-rot-grüne Regierungsbündnisse

Foto: https://www.flickr.com/photos/dielinke_nrw/ CC BY-SA 2.0
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Anmerkungen zu einem Interview mit Bernd Riexinger

Der Vorsitzende der Linkspartei, Bernd Riexinger, erläutert in einem Interview mit marx21 vom 5.3.2014 seine Sicht auf die historischen Erfahrungen mit der Einheitsfront- und Bündnispolitik in der deutschen Arbeiterbewegung. Diese kritische Bewertung soll an die Grundlagen dieser Politik erinnern, auf die Unterschiede zwischen der Sozialdemokratie von heute und damals aufmerksam machen und daraus Schlussfolgerungen für die Bündnisangebote der LINKEN an SPD und Grüne ableiten.

von Heino Berg, Göttingen

Die Einheitsfrontpolitik wurde 1919 bis 1922 vom dritten und vierten Weltkongress der Kommunistischen Internationale entwickelt und richtete sich unter anderem gegen sektiererische Tendenzen in den jungen kommunistischen Parteien. Vor allem Lenin und Trotzki hatten sie als eine Methode entwickelt, um den Kampf für soziale Verbesserungen mit dem Kampf für den Sturz der bürgerlichen Ordnung und ihres Staates zu verbinden, anstatt beides in der Propaganda entgegen zu setzen. KommunistInnen sollten ihrer Ansicht nach bereit sein, innerhalb der gewerkschaftlichen Massenorganisationen den Einfluss der sozialdemokratischen Führung zu bekämpfen, anstatt ihn mit rein propagandistischen Mitteln nur von außen zu entlarven. Sie dürften den Bruch mit der SPD nicht zur Vorbedingungen für gemeinsame Aktionen gegen das Kapital und seinen Staat machen, könnten gemeinsam mit den sozialdemokratischen ArbeiterInnen am Generalstreik gegen den reaktionären Kapp-Putsch teilnehmen und unter bestimmten Bedingungen auch an gemeinsamen „Arbeiterregierungen“ mit der SPD (bzw. der USPD) teilnehmen.

Nach der „Säuberung“ der KPD durch die stalinistische Komintern-Führung wurde die in den frühen 1920er Jahren sehr erfolgreiche Einheitsfronttaktik, welche unter anderem die Gewinnung der Mehrheit von Hunderttausenden USPD-Mitgliedern für die KPD erlaubt hatte, ausgerechnet in dem Augenblick aufgegeben, als sie gegen die Machteroberung der Nazis entscheidend wurde: Die stalinistische Thälmann-Führung der KPD bezeichnete nun SPD und ADGB (Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund) als „sozialfaschistisch“ und lehnte jede Aktionseinheit mit diesen reformistischen Arbeiterorganisationen gegen die Zertrümmerung sämtlicher Arbeiterorganisationen rigoros ab. Die sogenannte „Einheitsfront von unten“, die den sozialdemokratischen ArbeiterInnen angeboten wurde, machte den Bruch mit ihrer Partei zur Vorbedingung für gemeinsames Handeln und beschränkte sie dadurch auf hilflose Appelle. Diese sektiererische Politik, die auch zur Gründung von eigenen „RGO-Gewerkschaften“ führte und von der SPD-Führung mit der Verleumdung der Kommunisten als „rotlackierte Nazis“ spiegelverkehrt ergänzt wurde, verhinderte den gemeinsamen Widerstand gegen den Faschismus und erleichterte so den Zweiten Weltkrieg. Sie wurde innerhalb der KPD vor allem von zwei Gruppierungen kritisiert: Von der KPO (Kommunistische Partei – Opposition) um Heinrich Brandler und August Thalheimer (auf die sich Bernd Riexinger bezieht) und von der Internationalen Linken Opposition um Leo Trotzki, aus der später die IV. Internationale hervorging.

Bernd Riexinger sagt im Interview mit Recht, dass die KommunistInnen mit einer auch an SPD und ADGB gerichteten Einheitsfrontpolitik „gute Chancen gehabt hätten, den Faschismus zu stoppen“. Diese beschränke sich jedoch nicht nur auf die Abwehrfront gegen die Nazis, sondern sei im Kern eine Methode, durch die gemeinsame „Alltagsforderungen“ mit Hilfe von „Übergangsforderungen“ (z.B. die nach „Produktionskontrolle“) mit dem Ziel einer sozialistischen Gesellschaft verknüpft werden könnten.

Die stalinistische KPD-Führung, so führt Bernd Riexinger vollkommen richtig aus, habe die sozialdemokratischen Mitglieder, die sich ja durchaus noch mit ihrer Partei identifizierten, durch die „Beschimpfung als Sozialfaschisten“ in die Arme der SPD-Führung getrieben, anstatt sie von ihr zu lösen und für die KPD gewinnen zu können. Die Abkehr von der ursprünglichen Einheitsfrontpolitik habe einen Generalstreik gegen Hitlers Machtergreifung verhindert und zur Entfesselung des Zweiten Weltkriegs beigetragen.

Aus diesen historischen Erfahrungen leitet der LINKEN-Vorsitzende zusammen mit seinem Gesprächspartner Luigi Wolf von marx21 Konsequenzen für den Umgang mit der aktuellen Sozialdemokratie und der Führung der DGB-Gewerkschaften ab, die in vielen Punkten sehr lesenswert sind, in anderen aber auch gefährliche Kurzschlüsse nahe legen.

Gewerkschaften und Parteien

Spannend wird das Gespräch mit dem LINKE-Vorsitzenden vor allem dort, wo er über konkrete Erfahrungen aus seiner Stuttgarter Gewerkschaftsarbeit berichtet und sie für den Aufbau einer auf außerparlamentarische Bewegungen orientierten sozialistischen Partei verarbeitet. Bernd Riexinger hat als ver.di-Sekretär nicht nur in Baden-Württemberg, sondern in der Vorbereitung der Massendemonstration gegen die Hartz-Gesetze und in der WASG (Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit) eine auch überregional sehr wichtige Rolle gespielt. Auch als Vorsitzender der LINKEN steht er für eine verstärkte Orientierung der Partei auf außerparlamentarische und betriebliche Auseinandersetzungen sowie und richtet sich gegen die Parlamentsfixierung, die der PDS-Apparat nach dem Zusammenschluss mit der WASG gestützt auf die ostdeutschen Mandate in der neuen Partei voran getrieben hat.

Was für Auseinandersetzungen in den Gewerkschaften hilfreich ist, kann aber nicht automatisch auf die Parteienlandschaft übertragen werden. Die deutschen Gewerkschaften bleiben trotz ihres sozialdemokratischen, auf Standortkonkurrenz und damit auf die Interessen des heimischen Kapitals orientierten Führungsapparates schon durch den Kampf um den Lohnanteil klassische Arbeiterorganisationen mit all ihren aus der Geschichte bekannten Schwächen und Stärken. Zu den Aufgaben einer linken Partei gehört auch die Kritik an der Unterordnung der Gewerkschaften unter die Politik der SPD, was Bernd Riexinger leider recht pauschal als „Beschimpfung der Gewerkschaftsführung“ abqualifiziert. Dasselbe gilt für sozialistische Aufklärungsarbeit in den Gewerkschaften und Betrieben, die er – ebenso undifferenziert – mit der plumpen „Agitation der MLPD“ gleichsetzt.

Die Unterordnung der Gewerkschaften unter die prokapitalistische SPD gefährdet ihre Aufgabe, als elementare Einheitsfrontorgane die gemeinsamen Klasseninteressen der Lohnabhängigen gegen die Angriffe des Kapitals und seiner Regierung zu verteidigen. Die engen Verbindungen zwischen der Gewerkschaftsbürokratie auf nationaler und betrieblicher Ebene und den Unternehmern, ihren Verbänden und „Lobbyisten“ sind durch das System der „Sozialpartnerschaft“ in Deutschland besonders ausgeprägt. Im Namen der parteipolitischen Unabhängigkeit hat sich faktisch eine sozialdemokratische Richtungsgewerkschaft entwickelt, deren führende Funktionäre in großer Zahl das SPD-Parteibuch haben und öffentlich zur Unterstützung einer Partei aufrufen, die seit langem keine sozialen Verbesserungen mehr durchsetzt, sondern die Zerstörung von Errungenschaften der Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung vorantreibt.

Für Alternativen in den Gewerkschaften

Der Bruch von vielen konsequenten GewerkschaftsvertreterInnen mit der SPD und der Agenda-Politik von Schröder war nicht zufällig ein wichtiges Signal für die Entstehung und den Aufstieg der WASG, ohne deren Gründung die Bildung der LINKEN unmöglich gewesen wäre. Sie waren auch eine Antwort auf die Verflechtung zwischen Gewerkschafts- und SPD-Funktionären, der eine konsequente Vertretung von Arbeiterinteressen nicht nur in den Parlamenten, sondern auch in vielen Betrieben zum Opfer gefallen ist. Deshalb wird der politische Gebrauchswert der Linkspartei von den KollegInnen auch daran gemessen, ob sie in den Betrieben und Gewerkschaften die sozialdemokratischen „Co-Manager“ herausfordern, konkrete Alternativen zur gemeinsamen Mängelverwaltung des Kapitalismus entwickeln und so die Gewerkschaften als Einheitsfrontorgane gegen das Kapital verteidigen. Das bedeutet unter den heutigen Bedingungen einerseits die Gewerkschaften auf allen Ebenen mit aufzubauen und die Einheitsfrontpolitik in der Art anzuwenden, dass Forderungen für eine kämpferische und antikapitalistische Gewerkschaftspolitik an die bestehenden Führungen gerichtet und, wenn möglich, mit diesen gemeinsam Kämpfe organisiert werden (ohne jedoch auf Kritik an diesen bzw. auf eigene Vorschläge zu verzichten). Gleichzeitig ist es nötig, erstens Kämpfe von unten anzustoßen, wenn die offiziellen Strukturen der Gewerkschaften solche bremsen und verhindern und zweitens die innergewerkschaftliche Vernetzung kämpferischer und oppositioneller BasisaktivistInnen und FunktionärInnen mit dem Ziel eine programmatische und personelle Alternative zu den heutigen sozialdemokratischen Gewerkschaftsführungen zu entwickeln. In diesem Sinne setzt konsequente Gewerkschafts- und Einheitsfrontpolitik in einer Zeit, wo die traditionellen Arbeiterparteien von der geschichtlichen Bühne abgetreten sind, für SozialistInnen auch die Bereitschaft voraus, in den Gewerkschaften den politischen Bruch mit der Sozialdemokratie einzufordern. Dabei geht es überhaupt nicht um das Parteibuch von GewerkschaftskollegInnen, sondern um die arbeitnehmer- und gewerkschaftsfeindliche Politik der SPD-Führung, die nicht nur in der Regierungsverantwortung für Gewerkschafter kein Bündnispartner, sondern Gegner geworden ist – und von der LINKEN auch so behandelt werden sollte.

Die richtige Kritik an abstrakter Sektenpropaganda und praktische Vorschläge zum Richtungskampf in den Gewerkschaften wirken jedoch schief und anachronistisch, wenn sie wie eine Blaupause aus den 1920er Jahren auf das Verhältnis der Linkspartei zur SPD von heute übertragen werden. So gehe es – laut Riexinger – auch bezüglich der SPD nicht nur darum, sie zu „entlarven“, sondern darum, deren Mitglieder „in den Kampf“ einzubeziehen und „die SPD nach links zu treiben“. Während in den offiziellen Strategiepapieren der LINKEN nur die – angesichts der Großen Koalition etwas surreal wirkende – Behauptung zu finden ist, dass man die SPD „nach links treiben“ könne, schiebt Bernd Riexinger immerhin nach: Wenn den KollegInnen letzteres nicht gelinge, würden sie in einen „Widerspruch zur SPD geraten – aber in einen positiven Widerspruch“.

Auch daran mag – allgemein gesprochen – ein Fingerhut Richtiges sein. Aber die Wahrheit ist immer konkret. Problematisch ist der Versuch von Riexinger und Wolf, eine von KommunistInnen in Bezug auf konkurrierende, sich sozialistisch nennende Arbeiterparteien entwickelte Politik auf eine Partei zu übertragen, die sich erstens ausdrücklich nicht mehr als Arbeiterpartei, sondern als Volkspartei versteht

zweitens im Unterschied zur SPD der Zwischenkriegszeit nicht einmal mehr den Anspruch erhebt, für die Überwindung des Kapitalismus zu kämpfen und sich seit Jahren durch die Durchsetzung von neoliberalen Konterreformen statt Verbesserungen für die Arbeiterklasse hervortut drittens eine aktive Basis unter Lohnabhängigen weitgehend verloren hat und von diesen auch nicht mehr als Instrument zur Durchsetzung von Verbesserungen wahrgenommen, sondern – wenn überhaupt – in erster Linie als „kleineres Übel“ unter den anderen neoliberalen bzw. pro-kapitalistischen Parteien gewählt wird.

Riexinger räumt zwar selbst ein, dass „man unserer Verhältnis zur SPD nicht einfach mit dem der KPD zur damaligen SPD vergleichen“ (oder gar gleichsetzen) könne, erläutert aber mit keinem Wort, worin aus seiner Sicht der historische Unterschied besteht und ob dieser das strategische Verhältnis einer sozialistischen Partei zur heutigen Sozialdemokratie qualitativ verändern muss.

Dabei ist es offensichtlich, dass eine sozialdemokratische Massenpartei, die von den meisten ArbeiterInnen bis in die 1980er Jahren als politische Vertretung ihrer (Klassen)interessen gegen die bürgerlichen Parteien betrachtet wurde, unter starkem Druck ihrer Mitgliederbasis stand und daher für Einheitsfrontangebote noch in Frage kam, während sie heute für die Mehrheit der Lohnabhängigen als bürgerliche Partei (fast) wie alle anderen gilt. Die SPD von heute ist eher mit der Demokratischen Partei in den USA vergleichbar, die zwar auch privilegierte Beziehungen zur Gewerkschaftsbürokratie unterhält, aber von Zusammensetzung, sozialer Basis und gesellschaftlicher Funktion nur eine bürgerlich-kapitalistische Partei ist.

Einheitsfront und Volksfrontregierungen

Von der Taktik der Arbeitereinheitsfront grundsätzlich zu unterscheiden ist in jedem Fall die sogenannte „Volksfrontpolitik“, welche die Kommunistische Internationale nach dem historischen Scheitern ihrer „Sozialfaschismustheorie“ gegen den Widerstand der innerparteilichen Opposition mit brachialen Mitteln durchsetzen konnte. Diese sah ein Regierungsbündnis von kommunistischen Parteien nicht nur mit reformistischen Arbeiterparteien, sondern auch mit Parteien des „liberalen“ bzw. nationalen Bürgertums gegen faschistische oder kolonialistische Blöcke vor, denen die unabhängigen Klasseninteressen der Lohnabhängigen im Zweifel untergeordnet werden sollten. Diese Politik Stalins führte zum Beispiel während des spanischen Bürgerkriegs in die Niederlage, weil die Arbeiterorganisationen aus Rücksicht auf diese bürgerlich-liberalen Bündnispartner die Interessen der proletarischen und bäuerlichen Mehrheit der Bevölkerung aufgeben mussten und diesen Verzicht auch in den eigenen Reihen mit militärischen Mitteln durchsetzten. Solche Volksfrontregierungen ließen auch nach dem Zweiten Weltkrieg in vielen Ländern revolutionäre Bewegungen scheitern. Die Einheitsfrontpolitik der jungen KPD und der ersten vier Kominternkongresse, auf die sich Bernd Riexinger im Interview positiv bezieht, wurde durch das Bündnis mit bürgerlichen Parteien in ihr exaktes Gegenteil verkehrt.

Ursprünglich gehörte zu den „Übergangsforderungen“ einer Einheitsfrontpolitik, die am Bewusstseinsstand der Mehrheit der Arbeiter anknüpfte, ohne sich auf diesen zu beschränken und mit denen Lenin und Trotzki auf die politische Spaltung der Arbeiterbewegung in sozialdemokratische und kommunistische Parteien reagieren wollten, auch die „algebraische“ Forderung nach einer Arbeiterregierung. Also einer gemeinsamen Regierung derjenigen Parteien, die nur von den ArbeiterInnen aufgebaut und gewählt wurden.

1923 wurden dann in Sachsen und Thüringen „Arbeiterregierungen“ bestehend aus KPD und SPD gebildet. Aus Sicht der KPD waren diese eine Stufe auf dem Weg zur sozialistischen Revolution und hatten eine dafür mobilisierende Wirkung. Sie wurden schnell von der sozialdemokratischen Reichsregierung mit Hilfe der Reichswehr gestürzt.

Wann KommunistInnen von den reformistischen Arbeiterparteien die Bildung einer Regierung forderten, ohne selbst in diese einzutreten (wie 1917 durch die Bolschewiki gegenüber den Menschewiki und Sozialrevolutionären gefordert) und wann eine Regierungskoalition zwischen einer kommunistischen und sozialdemokratischen Partei gebildet werden konnte, die ein Mittel zur Mobilisierung der Massen für die Revolution war, hing von den konkreten Bedingungen ab. In der Kommunistischen Internationale der frühen 1920er Jahre war aber klar, dass eine Regierungsbeteiligung nur möglich war erstens im Bündnis mit einer anderen Arbeiterpartei, die sich auf den Sozialismus berief, und nicht mit bürgerlichen Parteien und zweitens nicht zur Verwaltung der kapitalistischen Verhältnisse, sondern als Mittel, diese zu überwinden.

Das taktische Ziel von revolutionären SozialistInnen bestand in diesem Zusammenhang darin, sozialdemokratische oder zentristische Parteien an ihren eigenen sozialistischen Ansprüchen zu messen und ihnen die Gelegenheit zu verschaffen, von der Basis dieser Parteien in der gemeinsamen praktischen Aktion – und nicht nur anhand der kommunistischen Propaganda – überprüft werden zu können.

Griechenland, Syriza und die Regierungsfrage

Die Perspektive der Arbeiterregierung ist auch aktuell dort von großer Bedeutung, wo – wie zum Beispiel in Griechenland – unterschiedliche linke Massenparteien, also etwa Syriza und KKE, miteinander konkurrieren, sich jeweils auf sozialistische Ziele bzw. den Kampf gegen das Spardiktat der Troika berufen und zumindest gemeinsam die reale Chance haben, die Koalition der sozialdemokratischen und christdemokratischen Handlanger dieser Troika in die Wüste zu schicken. In einer solchen Situation müssen SozialistInnen den Wunsch großer Teiler der Bevölkerung nach einen Sturz der bürgerlichen Regierung Samaras aufgreifen und den Kampf für eine gemeinsame Regierung von Syriza, KKE (und Antarsya) unterstützen, auch wenn sie nicht mit allen Forderungen dieser Parteien übereinstimmen können. Entscheidend ist die im Kampf für eine solche Arbeiterregierung freigesetzte Dynamik der Klassenkämpfe, die den Betroffenen eigene, praktische Erfahrungen mit den beteiligten Parteien erlaubt und dadurch immer wieder in der Geschichte der Arbeiterbewegung sehr schnelle Veränderungen im gesellschaftlichen Kräfteverhältnis herbeigeführt hat. Gleichzeitig reicht es nicht, die Bildung einer solchen Regierung zu unterstützen. Dazu gehört auch der Kampf für ein sozialistisches Regierungsprogramm , das – gestützt auf die Massenbewegung – zur Abschaffung des Kapitalismus führen würde. Genau dies tut die griechische Schwesterorganisation der SAV, Xekinima, die mit der „Initiative der Eintausend“ ein Bündnis geschaffen hat, in dem Kräfte aus den verschiedenen linken Parteien und Organisation mit dieser Zielsetzung zusammen arbeiten.

Der Hinweis auf die aktuellen Probleme der Einheitsfrontpolitik in Ländern wie Griechenland macht zugleich aber auch deutlich, wo die fundamentalen Unterschiede zu ihrer Entwicklung im letzten Jahrhundert liegen: Die griechische Sozialdemokratie, also die PASOK von Venizelos, hat ähnlich wie die SPD von Gabriel, die Labour Party von Blair und Milliband oder die Parti Socialiste von Hollande einen völlig anderen Charakter als die Sozialdemokratie nach dem Ersten Weltkrieg (ganz zu schweigen von der revolutionären SPD des 19. Jahrhunderts). Der fundamentale Unterschied besteht nicht in der bürgerlichen Politik ihrer Führung (die Zustimmung zu Kriegseinsätzen ist bekanntlich kein Privileg der heutigen Sozialdemokraten), sondern in einem qualitativ anderen Verhältnis der Arbeiterklasse zu diesen Parteien.

Während diese Kriegspolitik im ersten Weltkrieg die Sozialdemokratie noch zerrissen und zur Entstehung der USPD als Massenpartei geführt hatte, ist ein vergleichbarer Widerstand in der Sozialdemokratie des 21. Jahrhunderts nur noch unter dem Mikroskop erkennbar. Das Spardiktat der Herrschenden in Europa wird durch eine von 45 auf 11 Prozent geschmolzene PASOK in Griechenland umgesetzt, von Hollande in Frankreich mit ähnlichen Verlusten bei den Kommunalwahlen im März diesen Jahres – und von Gabriel in der Großen Koalition. Die Zustimmung zur Großen Koalition wurde mit überwältigender Mehrheit der SPD-Mitglieder in einer Urabstimmung beschlossen. Dieses Urabstimmungsergebnis markiert das endgültige Aus für alle von Gregor Gysi und anderen „Realos“ in der Linkspartei geschürten Hoffnungen darauf, dass die SPD zu ihren sozialistischen Anfängen oder auch nur zu den Reformversprechungen der Ära Brandt zurückkehren könnte.

Damit gehört der Widerspruch zwischen der Politik der SPD-Führung und ihrer Mitgliederbasis, der nach dem 2. Weltkrieg häufig noch deutlich spürbar war und bis in die 1980er Jahre noch in Deutschland und Großbritannien zu Zerreißproben insbesondere mit den Jugend- und Studentenorganisationen führte, unwiderruflich der Geschichte an. Seitdem sind die sozialdemokratischen Parteien Europas kein Bezugsrahmen mehr für klassenkämpferische Bestrebungen in der Bevölkerung und in der Jugend, sondern nur noch ein Karrieresprungbrett für diejenigen, welche die Errungenschaften der Arbeiterbewegung im Namen der Marktgesetze für ihre Zerstörung benutzen wollen. Sie sind die Totengräber dieser Errungenschaften und der Parteien, mit denen sie in der Geschichte der Arbeiterbewegung durchgesetzt werden konnten – und keine Bündnispartner für linke Parteien GEGEN ihre Zerstörung. Alexis Tsipras und der enorme Aufstieg von Syriza sind der praktische und positive Beweis dafür, dass die sozialdemokratischen Parteien ihre ursprüngliche Rolle in der Geschichte ausgespielt und die Aufgabe der politischen Interessenvertretung für die Arbeiterklasse an neue Organisationen objektiv bereits abgetreten haben.

Die Entstehung der WASG und die Tatsache, dass sie die überkommene Parteienlandschaft in Deutschland aufgebrochen hat, ist nicht nur dem Handeln ihrer Initiatoren zu verdanken, sondern auch das Ergebnis eines historischen Vakuums in der politischen Interessenvertretung der Arbeiterschaft, das die Sozialdemokratie international nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hinterlassen hat. In allen Ländern, wo das durch die Selbstzerstörung der traditionellen sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterorganisationen entstandene Vakuum in der Opposition gegen die bestehende Gesellschaftsordnung nicht durch neue linke, sozialistische Parteien wenigstens ansatzweise gefüllt werden konnte, besetzen reaktionäre oder islamistische Organisationen das verwaiste Oppositionsfeld. Wenn sich DIE LINKE auf den Druck der Herrschenden und ihrer Medien einlassen sollte, in Landes- oder Bundesregierungen Mitverantwortung für die bestehenden Verhältnisse zu übernehmen, macht sie sich als Systemopposition überflüssig und leitet einen Niedergang wie in Italien ein, wo die ehemals starke Linke nach ihrer Regierungsbeteiligung aus dem Parlament und von der politischen Bildfläche verschwunden ist.

Konsequenzen für rot-rot-grüne Regierungsbündnisse

Dieser entscheidenden Frage weichen Bernd Riexinger und Luigi Wolf aus, wenn sie über Einheitsfrontpolitik gegenüber der SPD diskutieren, ohne die vom Fraktionsvorsitzenden Gregor Gysi oder der Ko-Parteivorsitzenden Katja Kipping aufgeworfene Schlüsselfrage von rot-rot-grünen Regierungsbündnissen eindeutig zu beantworten.

Wenn der LINKE-Vorsitzende meint, dass „die Rot-Rot-Grün-Debatte aus dem gewerkschaftlichen Lager“ kommen müsse, und „nicht nur als Regierungsoption und medial stattfinden“ dürfe, dann beugt er sich dem Druck des Regierungslagers in der Partei, das aus der katastrophalen Bilanz der bisherigen Landeskoalitionen nichts gelernt hat und sich nun zu beinahe jedem Preis um Neuauflagen (z.B. in Thüringen) bemüht.

Das Ziel einer rot-rot-grünen Regierung konnte auf dem Hintergrund der Erfahrungen mit der unsozialen Kriegspolitik der Schröder/Fischer-Kabinette bei den Zielgruppen der LINKEN – im Unterschied zur WASG, die auch als Reaktion auf die rot-roten Landesregierungen entstanden ist – nie Begeisterung auslösen. Eine Regierungskoalition, die eine von den Interessen der Lohnabhängigen und Erwerbslosen geprägte Partei auch noch mit den Grünen kombinieren will, welche den erfolgreichen Teil der Mittelschichten repräsentiert und die aus dem Bundestag verschwundene FDP politisch beerben will, ignoriert die unvereinbaren Klassenfronten der Gesellschaft und kann – wie alle Volksfrontvarianten beziehungsweise -karikaturen – nur als parlamentarisches Konstrukt ohne gemeinsame Interessen und Ziele in einer Sackgasse enden.

Mit der Politik der Arbeitereinheitsfront, auf die sich Riexinger und Wolf in ihrem Gespräch berufen, hat die von ihnen angestrebte außerparlamentarische bzw. gewerkschaftliche Begleitmusik für eine rot-rot-grüne Regierung, die laut K. Voigt die Nato-, EU- und Fiskal(also Austeritäts)verträge nur umsetzen darf („pacta sunt servanda“), nicht das Geringste zu tun. Sie ist das exakte Gegenteil dessen, was die Kommunistische Internationale und die KPD vor ihrer stalinistischen Degeneration darunter verstanden hatten.

Obwohl Bernd Riexinger und marx21 den Sozial- und Stellenabbau der rot-roten Regierungen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern kritisierten, stellen sie die Perspektive von Regierungsbündnissen mit SPD und Grünen nicht grundsätzlich in Frage. Riexinger hat im Bundestagswahlkampf immer wieder vom „linken Lager“ aus LINKE, SPD und Grünen gesprochen und die marx21-Unterstützerin Janine Wissler hat in Hessen die Verhandlungen zu einer Regierungsbildung geführt und ihre grundsätzliche Bereitschaft dazu betont.

Der bisherige Höhepunkt der Suche nach „innerparteilicher Geschlossenheit“, die jede demokratische Richtungsentscheidung der Basisdelegierten zu vermeiden trachtet, ist nach dem Hamburger Parteitag das gemeinsame „Strategiepapier“ von Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch, das rot-rot-grüne Bündnisse in Ländern und Kommunen ausdrücklich befürwortet, ohne sie an die im Erfurter Programm aufgestellten Bedingungen zu knüpfen. Eine kritische Nachfrage des marx 21-Redakteurs sucht man in diesem 13-seitigen Interview vergeblich.

Zumindest Bernd Riexinger warnt im letzten Satz seines Interviews davor, dass DIE LINKE „politische Handlungsfähigkeit entwickeln“ müsse, um nicht „aus geschwächter Position in eine Regierungsbeteiligung (zu) gehen und dann dafür abgestraft (zu) werden, weil sie eben nicht mal Teile ihres politischen Programms durchsetzen konnten.“

Was auch immer „politische Handlungsfähigkeit“ bedeuten mag: DIE LINKE und ihr Vorsitzender können sie nur in klarer Opposition zum kapitalistischen System und seinen Parteien entwickeln. Seine Hinweise darauf, wie eine sozialistische Partei die historischen Erfahrungen der Arbeiterbewegung mit der Einheitsfrontpolitik und der Methode der Übergangsforderungen nutzen kann, um am Bewusstsein der Betroffenen anzusetzen und ihnen eine gesellschaftliche Emanzipation anhand eigener, praktischer Aktionserfahrungen zu ermöglichen, sind besonders für die gewerkschaftliche Verankerung der Partei hochaktuell und von unschätzbarer Bedeutung. Mit sozialistischer Propaganda allein ist das Kapital und sein Staatsapparat der Tat nicht zu überwinden.

Die SPD bleibt trotz ihres Niedergangs eine Partei, die vor allem durch ihre Verbindung zum Gewerkschaftsapparat für die Erhaltung des Kapitalismus eine wichtige Rolle spielt. Sie ist aber für SozialistInnen im Unterschied zu früheren Perioden der Arbeiterbewegung kein Bündnis- oder gar Regierungspartner mehr, sondern Gegner, der durch den Wiederaufbau von neuen Arbeiterparteien in Deutschland und anderswo auf den Müllhaufen der Geschichte befördert werden muss.

Heino Berg ist Mitglied der Partei DIE LINKE in Göttingen und des Landessprecherrats der Antikapitalistischen Linken (AKL) in Niedersachsen.