Tunesien: Erster Erfolg der Revolution

Der Diktator wurde verjagt, aber das Regime noch nicht gekippt


 

Nur vier Wochen dauerte es von der tragischen Selbstanzündung des Mohammed Bouazizi bis zur dramatischen Flucht des Diktators Ben Ali. Die Geschwindigkeit der Ereignisse zeigt, wie schnell scheinbar stabile Verhältnisse ins Wanken geraten können.

von Stefan Müller, Bremen

Noch vor wenigen Wochen war es undenkbar, auf der Straße, im Café, ja sogar in der Familie über Politik zu sprechen. Zu groß war die Angst vor dem langen Arm des Präsidenten Ben Ali mit seinen über 200.000 Polizisten, die jegliche Kritik am Regime im Keim erstickten und mit Gefängnis und Folter bestraften. Nach dem Selbstmord des Uniabsolventen Bouazizis am 17. Dezember – dem die Sicherheitskräfte die Waren seines Gemüsestands konfisziert hatten – überwanden die Menschen in Sidi Bouzid, einer kleinen Stadt in Zentraltunesien, ihre Furcht. Tägliche Demonstrationen griffen bald auf umliegende Städte und schließlich auf das ganze Land über.

Das Regime reagiert – das Regime verliert

Die Reaktion der Herrschenden war brutal. Doch mit jedem Toten wuchs der Zorn, jede Beerdigung wurde zu einer Demonstration, und jeder Schuss auf DemonstrantInnen delegitimierte die Elite nur noch mehr. Plötzlich hatte die Angst die Seiten gewechselt, und war von der Bevölkerung auf die Machthaber übergegangen.

Als Ben Ali ankündigte, nach seinen 23 Jahren Präsidentschaft 2014 abzutreten, Presse- und Netzfreiheit zuzulassen sowie 300.000 neue Arbeitsplätze zu schaffen, gab es kein Halten mehr. Die Massen wussten: Wenn sie solche Zugeständnisse erzwingen können, dann ist noch viel mehr drin. Die Proteste ebbten nicht ab, und tatsächlich, nur 24 Stunden später, am 14. Januar, setzte sich der verhasste Diktator nach Saudi-Arabien ab.

Chaos nach dem Sturz der Regierung?

Was folgte, war ein durchsichtiger Versuch, die Revolution zu diskreditieren. Ehemalige politische Polizisten, Geheimdienstkräfte und Leibgardisten Ben Alis plünderten Geschäfte und schossen aus fahrenden Autos wahllos auf Passanten. Die Armee, welche sich während der Wochen zuvor nicht an der Niederschlagung der Proteste beteiligt hatte (es gab sogar Verbrüderungszenen einfacher Soldaten mit DemonstrantInnen), konnte die Banden nicht in Schach halten. Für Sicherheit sorgten schließlich die Menschen der betroffenen Viertel selber. Kurzerhand wurden Tausende von Selbstverteidigungsmilizen gegründet, Leute mit Stangen und Stöcken bewaffnet, provisorische Barrikaden errichtet.

„Regierung der nationalen Einheit“

Während die Bevölkerung ihr Leben verteidigte, versuchten die alten Herrscher, ihre Privilegien zu verteidigen. Die als Machtwechsel inszenierte „Übergangsregierung der nationalen Einheit“ bestand im Wesentlichen aus Vertretern von Ben Alis Partei RCD, geschmückt mit ein paar Feigenblättern aus den Teilen der „Opposition“, die sogar unter Ben Ali angepasst genug waren, um politisch arbeiten zu dürfen. Dazu gesellten sich Kräfte der UGTT, des 500.000 Mitglieder großen Gewerkschaftsdachverbands. Obwohl dieser von Agenten des Staates durchsetzt ist, war der Druck der Basis stark genug, um die Führung zu Aktivitäten gegen das Regime zu bewegen. Die drei UGTT-Minister der Übergangsregierung mussten einen Tag nach ihrer Vereidigung wieder von ihren Ämtern zurücktreten.

Zuvor hatten Zehntausende in ganz Tunesien die Auflösung der RCD gefordert, in mehreren Städten wurden, nach einem nationalen Ausstand, örtliche Generalstreiks ausgerufen. Interimspräsident Fouad Mebazaa trat darauf hin aus der RCD aus. Als würde das Blut nicht an seinen Händen, sondern nur an seinem Parteibuch kleben.

Rolle des Westens

Zuvor hatte die „Sozialistische Internationale“, der auch die SPD angehört, die RCD ausgeschlossen. Die tunesische Staatspartei musste also erst entmachtet werden, um bei den Sozialdemokraten aller Länder die Erkenntnis reifen zu lassen, mit wem sie da zusammen in einem Boot saßen!

Frankreich, das 73 Jahre lang Kolonialmacht Tunesiens war, hatte noch bei der Niederschlagung der Proteste zunächst Hilfe angeboten. Jahrelang schwiegen die Regierungen in Frankreich, Deutschland und den USA zur Unterdrückung in diesem Mittelmeerstaat. Erst jetzt erklärt Kanzlerin Angela Merkel, es sei „unabdingbar, die Menschenrechte zu respektieren“ (15. Januar). Wenige Wochen zuvor nannte die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung das Regime noch einen „ausgezeichneten Partner“. Kein Wunder: Tunesien war unter Milliardär Ben Ali ein wichtiger Handelspartner und ein „Musterschüler“ neoliberaler Politik. Mehr als 250 Unternehmen mit deutscher Kapitalbeteiligung profitierten von Billiglöhnen, Freihandelszonen und Sonderabkommen mit der EU. Nur französisches und italienisches Kapital war noch aktiver in Tunesien. In einem sind sich alle diese Länder einig: In Tunesien muss schnellstmöglich Stabilität herrschen, damit dort wieder ordentlich Geld verdient werden kann.

Aufgaben der Revolution

Noch immer ist das alte Regime – ohne Ben Ali und seinen Clan – weiter an der Macht. Noch immer sind offiziell 14 Prozent (bei den Jugendlichen sogar 30 Prozent) ohne Job. Noch immer ist die Wirtschaft in den Händen einiger weniger Investoren, die Mehrheit davon aus den EU-Staaten. Noch immer haben die unterdrückten Massen im Maghreb (neben Tunesien, Algerien, Marokko, Libyen, Mauretanien und West-Sahara) sowie in der gesamten arabischen Welt mit den gleichen Problemen zu kämpfen.

Der Kampf für Meinungsfreiheit, Freilassung aller politischen Gefangenen, gewerkschaftliche Rechte, gut bezahlte Arbeitsplätze, Umverteilung des Reichtums und Überführung der Konzerne in öffentliches Eigentum kann nur von denen gemeinsam aufgenommen werden, die Opfer von Armut und Unfreiheit sind. Dazu zählen nicht die bürgerlichen Oppositionspolitiker und islamistische Führer, die nur selber ans Ruder kommen wollen.

Die stärkste Kraft der Gesellschaft sind die lohnabhängig Beschäftigten. Durch die Bildung von Streikkomitees auf allen Ebenen könnte eine wirksame Streikbewegung geschaffen und die Herrschaft der kleinen, radikalen Minderheit erfolgreich attackiert werden. Dafür gilt es, auch die Soldaten für die Bewegung zu gewinnen und Soldatenkomitees ins Leben zu rufen. Die Nachbarschaftskomitees sollten weiter aufgebaut werden, um das öffentliche Leben zu organisieren. Demokratisch gewählte VertreterInnen in Betrieben, Stadtteilen und Armee müssten regional und national verbunden werden, um eine Regierung der arbeitenden und verarmten Bevölkerung zu schaffen. Eine revolutionäre verfassungsgebende Versammlung könnte den Ausgangspunkt zu einer sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft bieten. Nötig ist eine starke marxistische, eine revolutionär-sozialistische Kraft, die in Tunesien und international für ein solches Programm eintritt.

Es brodelt – in der ganzen arabischen Welt

„Jugendliche in allen arabischen Ländern sollten auf die Straßen gehen und genauso handeln wie die Tunesier. Es ist Zeit, dass wir unsere Rechte einfordern!“ So Kamal Mohsen, ein 23-jähriger libanesischer Student, laut Nachrichtenagentur Reuters.

Inspiriert von den Ereignissen in Tunesien kam es in einer ganzen Reihe von Ländern zu Revolten gegen die galoppierenden Lebensmittelspreise:

— Algerien: Im Januar tobten Massenproteste. Während der Beerdigung eines von der Polizei erschossenen 18-Jährigen nahmen Tausende an einer Kundgebung teil. Mindestens fünf Menschen wurden in fünf Januartagen getötet. Die Regierung gab erst einmal klein bei und nahm die Preiserhöhungen für Zucker und Öl zurück. Schon im Frühjahr 2010 war das Land von einer Streikwelle erschüttert worden.

— Marokko: Auch hier zwangen Unruhen König Mohammed VI. zu Maßnahmen gegen steigende Preise.

— Jordanien: Mehr als 5.000 DemonstrantInnen erreichten ebenfalls Preissenkungen. Auf Transparenten war zu lesen: „Jordanien darf nicht nur für die Reichen da sein!“

— Ägypten: Mit seinen 80 Millionen Menschen und einer starken Arbeiterklasse ist Ägypten ein Schlüsselland in der Region. Die derzeitigen Arbeitskämpfe im Nil-Delta sind nur das jüngste Beispiel für die wachsende Zahl von Streiks. Nach der Steuergewerkschaft gründeten kürzlich technische Mitarbeiter des Gesundheitswesens die zweite unabhängige Gewerkschaft.

„Das arabische Nordafrika wird von Regimen geprägt, die mehr und mehr sklerotisieren. Ihre Führungen sind seit Jahrzehnten an der Macht. Das gilt, neben Ben Ali, auch für den algerischen Präsidenten Bouteflika und den inzwischen 82 Jahre alten Ägypter Mubarak“ (FAZ vom 13. Januar). Gleichzeitig ist die Mehrheit der Bevölkerung unter 30 Jahren – und großteils arbeits- und perspektivlos, immer öfter sogar trotz Uniabschluss. Im Zuge der internationalen Rezession spitzt sich die soziale Krise dramatisch zu.