Brasilien: „Die Kriminalisierung hat Alter, Geschlecht und Hautfarbe“

Auf der lateinamerikanischen Sommerschulung des Komitees für eine Arbeiterinternationale (CWI) im Februar 2008 sprach Sozialismus.info mit Jane Barros, Mitglied von Socialismo Revolucionario (SR – brasilianische Schwesterorganisation der SAV) in Rio de Janeiro und Aktivistin in der P-Sol (Partei für Sozialismus und Freiheit), über die extrem gewalttätige Situation in der Stadt.


 

Die 2002 und 2007 erschienenen Filme „City of God“ und „Tropa de Elite“ haben diese Zustände ins Bewusstsein eines breiten Publikums gerückt, ohne wirklich auf die tiefer liegenden Ursachen der Probleme einzugehen.

Was sind die Gründe für die ständig wachsende Zahl von Gewalttoten in Rio de Janeiros Armenvierteln, den so genannten Favelas?

Weniger als ein Prozent der Favelabewohner haben etwas mit dem Drogenhandel zu tun. Die große Mehrheit sind arme und extrem arme ArbeiterInnen. Wenn man bedenkt, dass 60Prozent der Bevölkerung Rios in den Armenvierteln leben, wird schnell klar, dass die Politik der Kriminalisierung der Armut – nach dem Motto „jeder Favelista ist ein Drogenkurier“ – völlig falsch ist. Übrigens ist auch der Film „Cidade de Deus“ (City of God, 2002) zwiespältig, denn die Armut wird ästhetisiert und romantisch verklärt, während die einzelnen Charaktere schematisch bleiben. Beispiele sind der von Kind auf Schwerkriminelle oder der nie korrumpierte Junge, der später als Fotograf den Aufstieg aus der Favela heraus schafft.

Die übergroße Mehrzahl der Toten geht auf das Konto von Polizei und Militär, die extrem brutal vorgehen [der kürzlich in die Kinos gekommene Film „Tropa de Elite“ ist zumindest auf dieser Ebene ziemlich realistisch, AdÜ]. Sie fahren mit panzerähnlichen Fahrzeugen, den „Caverões“, in die Favelas, mit Musik aus den Lautsprechern wie „wir reißen euch die Seele aus dem Leib“ etc. Da ist es klar, dass vor allem Kinder die Leidtragenden sind, denn die wirklichen Drogendealer sind längst im sicheren Versteck. Aber der wirkliche Grund, warum der Staatsapparat so skrupellos mordet, sind die Ängste der Mittel- und Oberschichten. Anders als in São Paulo gibt es in Rio traditionell keine wirkliche Trennung von Favelas und bürgerlichen Wohnvierteln, daher sind die wenigen besser Gestellten ständig mit der Armut konfrontiert. Der Gouverneur von Rio, Cesar Cabral (der übrigens auch die Rückendeckung von Lulas PT hat), vertritt offensiv die Politik der Willkür und der extremen Repression. Ich wurde auch schon im Bus, der plötzlich von der Polizei angehalten wurde, kontrolliert – im Gegensatz zum „weißen“ Sitznachbarn.

Was tut ihr gegen die Repressionspolitik?

Es ist schwierig, von den Favelistas ernst genommen und akzeptiert zu werden. Aber mit der P-Sol und ihrem Abgeordneten Marcelo Freixo, einem langjährigen Menschenrechtsaktivisten, gibt es eine politische Kraft, welche die Aufdeckung der alltäglichen mörderischen Repression und den Widerstand dagegen organisiert. Wir sind die einzigen, die konsequent den Klassencharakter dieser Politik anprangern und uns so eine große Autorität in den Armenvierteln erarbeitet haben. Wir organisieren Demos, öffentliche Denunziationen und andere Proteste. Unsere Forderung ist eigentlich ganz einfach: Infrastruktur aufbauen anstatt zerstören! Der Staat soll sich endlich wirklich um die Favelas kümmern und Schulen, Krankenhäuser etc. bauen – anstatt immer weiter soziale Einschnitte zu machen, die letztendlich Gelder in die Taschen der Reichen umleiten.

Gibt es weitere Schwerpunkte Eurer Arbeit in Rio?

Wir sind inzwischen über 20 GenossInnen und sind an den wichtigsten drei öffentlichen und zwei privaten Unis vertreten, wo wir gegen eine weitere Privatisierung des Bildungswesens kämpfen. Enorm wichtig ist auch die Kampagne für das Recht auf Abtreibung, denn 2007 begann eine regelrechte Konterattacke der katholischen Kirche und anderer konservativer Kräfte gegen eine sich allmählich zu Gunsten der Frauen verbessernde Gesetzeslage. Und schließlich sind wir mit GymnasiastInnen dabei, gegen die horrend hohen Gebühren zu kämpfen, die die Vorbereitungskurse für die Uni-Aufnahmeprüfungen (sogenanntes Vestibular) kosten.

Das Interview führte Johannes Ullrich