Turbulenzen an den Börsen  

Finanz- und Währungskrisen können jederzeit eine ökonomische Talfahrt auslösen 
 

Nach Turbulenzen an den Börsen im „Wonnemonat Mai“ sind die Kursgewinne dieses Jahres erstmal ausradiert. Seit dem Sechsjahreshoch vom 9. Mai purzelten die Aktienkurse weltweit im Schnitt um neun Prozent innerhalb von vier Wochen. Wer in „Schwellenländern“ investiert hatte, verlor sogar satte 20 Prozent. Der Dax war seit Jahresbeginn bis Mitte Mai um zwölf Prozent geklettert, einen Monat später lag er in der Halbjahresbilanz leicht im Minus.

von Aron Amm, Berlin

Einbußen gab es an den Aktien- und Rohstoffmärkten, aber auch die Devisenmärkte wurden durcheinandergewirbelt. Auslöser waren die Ängste vor eineransteigenden Inflation in den USA verbunden mit der Sorge, dass die US-Notenbank weiter an der Zinsschraube drehen könnte. Befürchtet wird, dass ein Abwürgen des US-Konjunkturmotors dann die Folge sein könnte. Ein weiterer Auslöser für die jüngsten Unruhen an den Weltfinanzmärkten war die steile Abwärtsbewegung des Dollar seit Mitte April.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb am 3. Juni, dass es „zwei grundverschiedene Szenarien sind, welche die Kapitalmärkte derzeit diskutieren: In der Armageddon-Version stürzen Wachstumsschwächen und hohe Inflationsraten die Börse in ein Tal der Tränen, genannt Stagflation, in der optimistischen Variante handelt es sich bei der derzeitigen Abkühlung um eine gesunde Korrektur innerhalb eines intakten Aufwärtstrends.“

Korrektur im spekulativen Finanzsektor

Gegenüber dem kapitalistischen Nachkriegsaufschwung hat der Finanzsektor enorm an Gewicht gewonnen. In den fünfziger und sechziger Jahren sackten die Finanzhäuser zehn bis 15 Prozent der Unternehmensprofite ein. Heute sind es 30 bis 40 Prozent. Rechnet man die Finanzaktivitäten der Industriekonzerne hinzu, sind es mehr als 50 Prozent. Abgesehen von Kapitalinvestitionen in China und einigen anderen Niedriglohnländern wurde in den vergangenen Jahren wenig in neue Maschinen und Fabriken investiert.

Auf Grund der schwächelnden „Realwirtschaft“ jagen die oberen Zehntausend und die großen Konzerne Umsummen von Kapital um den Erdball, um an den Börsen zu spekulieren, immer eifriger, immer riskanter. „Weltweit kreisen 60 Billionen Euro privates Geldvermögen – das ist das Dreißigfache des deutschen Sozialproduktes – um sich dort niederzulassen, wo der höchste Profit herausspringt“ (Conrad Schuhler vom Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung). Weiter ermutigt wurde dieses Treiben durch Zinssätze auf Tiefständen und extrem billige Kredite. Die jüngsten Kurseinbrüche sind offenkundig eine Reaktion auf diese spekulativen Trends.

Obgleich Luft aus den entstandenen Blasen gelassen wurde, erkennen einzelne Repräsentanten des bürgerlichen Lagers inzwischen, dass damit längst nicht alles im Lot ist. So schrieb Joachim Fels von der Investmentbank Morgan Stanley am 12. Juni – also einen Monat nach den „Korrekturen“ an den Märkten, dass „sich die Anzeichen für eine merkliche Verlangsamung des Wirtschaftswachstums mehren. Den Kursen riskanter Anlagen bekommt das in der Regel nicht gut.“„Die wenigsten Menschen erinnern sich daran, dass nach dem Börsenkrach von 1929 ein Zwischenhoch kam – danach sind die Kurse wieder eingebrochen.“ Shiller weist zu Recht darauf hin, dass es vor allem die Immobilienmärkte sind, wo „derzeit die Musik spielt.“ Auch wenn die Aktien weiterhin überbewertet sind, muss das Augenmerk heute gerade auf die extrem bedrohliche Immobilienblase gerichtet werden. In Spanien und in den USA haben sich die Werte zwischen 2002 und 2005 teilweise mehr als verdoppelt. „Immobilien werden nicht mehr als eine Geldanlage, sondern als spekulatives Investment angesehen – das kann auf Dauer nicht gut gehen.“ Und weiter: „Die Immobilienpreise steigen mittlerweile in allen Regionen Amerikas, als ob die steigenden Preise in der einen Region die anderen Regionen infizieren würden“ (Shiller im Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 29. März).

Der Yale-Ökonom Robert Shiller, dessen Buch „Irrationaler Überschwang“ pünktlich zum Börsenkrach im Jahr 2000 erschienen war, sieht keinen Grund für eine Entwarnung:

Die Unruhen auf dem Börsenparkett in diesem Frühsommer offenbaren die Volatilität des globalen Kapitalismus in der aktuellen Situation. Am Wirtschaftshimmel sind einige dunkle Wolken aufgezogen: Anzeichen für eine Abschwächung des Wirtschaftswachstums, gewaltige Überkapazitäten in den meisten Branchen, fatale Ungleichgewichte im Welthandel und auf den Devisenmärkten, last but not least der rapide Anstieg der Rohölpreise.

Schwächelnde Weltwirtschaft

Seit bald 200 Jahren kommt es zu periodischen Wirtschaftskrisen, zu kapitalistischen Krisenzyklen. In den Worten von Karl Marx: „Die Weltmarktkrisen müssen als die reale Zusammenfassung und gewaltsame Ausgleichung aller Widersprüche der bürgerlichen Ökonomie gefasst werden.“ Die letzte internationale Rezession fand 2001/2002 statt (wobei es in Deutschland und anderen Teilen der EU eine leichte zeitliche Verschiebung gab und die Jahre 2002 und 2003 als Krisenjahre zu datieren sind). Der seitdem eingesetzte Konjunkturaufschwung wird mehr als früher von Spekulationen im Finanzsektor mitgetragen. Während die Investitionen in die „reale“ Wirtschaft jährlich nur im Schnitt um zwei Prozent gesteigert werden, betrugen diese Investitionen in den sechziger Jahren in den kapitalistischen Ländern noch das Doppelte. Diese schwache konjunturelle Aufschwungsphase könnte nunmehr ihren Zenit erreicht haben.

Schon im letzten Jahr erhielt das US-Wachstum einen Dämpfer. Die Eurozone tritt ohnedies fast auf der Stelle.

Überkapazitäten

Der gegenwärtige Aufschwung wird längst durch Überproduktion und Überkapazitäten belastet. Gerade die Zahlen für die Autoindustrie sind besonders bedenklich. 2004 lagen die globalen Produktionskapazitäten bei 62 Millionen. 2006 werden sie auf 68 Millionen geschätzt. Verkauft wurden 2005 dagegen 53,2 Millionen Pkw. In diesem Jahr sollen 54 Millionen Wagen Käufer finden. In Europa könnten aktuell 14,4 Millionen Autos gebaut werden, tatsächlich sind es jedoch weniger als elf Millionen. Parallel dazu entstehen trotzdem neue Werke in Osteuropa. Im Moment werden dort 2,5 Millionen Autos gebaut, 2010 sollen es knapp fünf Millionen sein.

Währungsungleichgewichte

Die Gesamtverschuldung der Vereinigten Staaten von Amerika beträgt inzwischen 2,5 Billionen Dollar. Sechs Milliarden Dollar müssen täglich vom Rest der Welt geborgt werden. 2005 fehlten im Staatshaushalt 319 Milliarden Dollar. Noch alarmierender ist das Handelsbilanzdefizit. Im letzten Jahr überstieg der Wert aller Importe in die USA den Wert der Exporte um 725 Milliarden Dollar.

Das kann nicht auf Dauer gut gehen. Noch werden die Schuldenberge vom Ausland, vor allem von China und anderen asiatischen Ländern finanziert – überwiegend durch den Kauf von US-Staatsanleihen. Auf diesem Weg stützten sie bislang den US-Konsum, der ihnen den Export garantierte. Gleichzeitig stärkten sie den US-Dollar, hielten ihre eigenen Währungen niedrig und halfen so ihrer Exportwirtschaft.

Um das Defizit in der Handelsbilanz zu halbieren, müsste der US-Dollar handelsgewichtet etwa 20 bis 25 Prozent abwerten, schätzt Fred Bergsten vom Institut für Internationale Ökonomie. Selbst wenn der Dollar langsam und stetig in diesem Ausmaß abwerten würde, bleiben in Verbindung mit weiterhin hohen Ölpreisen signifikante Risiken: höhere Inflation, höhere Zinsen, weniger Wachstum. Im Fall einer raschen, deutlichen Abwertung des Dollar könnten die Zinssätze in den USA schnell in den zweistelligen Bereich steigen: Die Gefahr einer weltweiten Finanzkrise wäre hoch“ (SPIEGEL ONLINE vom 17. März).

Schon eine Abkühlung am Immobilienmarkt würde den US-Konsum stark bremsen – und könnte den chinesischen Höhenflug jäh stoppen, wenn mit den USA der wichtigste Absatzmarkt ins Stottern geriete.

Das riesige Ungleichgewicht im US-Außenhandel birgt darüber hinaus weiterhin die Gefahr einer kräftigen Abwertung des Dollar. 2005 drohte sich dieses Risiko bereits zu materialisieren. Umschichtungen vom Dollar in den Euro standen auf der Tagesordnung. In der zweiten Aprilhälfte 2006 schien der Dollar erneut in den freien Fall überzugehen. Abgebremst wurde diese Entwicklung durch die Aussicht auf eine weitere Zinserhöhung – die in der jetzigen Phase natürlich Gift für die Konjunktur ist. Allerdings sind es bislang die kurzfristigen Zinsen in den USA, nicht die langfristigen Zinsen, die nachhaltig steigen. Wenn nicht nur die Zinsen „am kurzen Ende“, sondern auch „am langen Ende“ (wie die Rendite der zehnjährigen Anleihe) in die Höhe schnellen, dann könnten Konjunkturaufschwung, Unternehmensgewinne und Börsenhausse für längere Zeit der Vergangenheit angehören.

Anfälligkeit der deutschen Wirtschaft

Auf Grund des hohen Exportanteils und der schwachen Binnennachfrage (die durch Lohnraub, Mehrwertsteuererhöhung und anderen Maßnahmen der Großen Koalition weiter geschwächt wird) hätte ein Einbruch der US-Konjunktur verheerende Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft. Darauf wurde erst kürzlich auch von der OECD hingewiesen.

Im deutschen Bankensektor droht in der nächsten Zeit ein Hauen und Stechen – auf Kosten der Beschäftigten. „Trotz der Zukäufe des vergangenen Jahres stehen die vier klassischen Großbanken Deutsche Bank, HVB, Commerzbank und Dresdner Bank mit einer Bilanzsumme von 2,4 Billionen Euro gerade einmal für 15 Prozent des Gesamtmarktes. Großbanken anderer europäischer Länder kommen in ihrem Heimatmarkt mitunter auf die Hälfte der Marktanteile.“ Unter anderem droht die Privatisierung der Sparkassen, die 37 Prozent der Bankenlandschaft ausmachen; Berlin soll im Jahr 2007 – möglicherweise unter SPD und Linkspartei.PDS – den Anfang machen.

In diesem Frühjahr musste die Deutsche Börse einen bitteren Rückschlag einstecken. Der New York Stock Exchange (Nyse) gelang es, die bisher von Paris gesteuerte Mehrländerbörse Euronext einzuverleiben. Der Konflikt um Euronext wirft ein Licht auf die Konflikte zwischen den imperialistischen Kräften Deutschland, Frankreich und Großbritannien (wodurch die Nyse zum lachenden Dritten beziehungsweise Vierten wurden). Ein Konflikt, der auch in anderen Fragen verstärkt in Erscheinung treten wird.

So wie die Deutsche Bank durch massiven Arbeitsplatzabbau (wobei die Dresdner Bank mit der angekündigten Streichung von 2.000 Stellen und die Commerzbank mit der Streichung von 900 Arbeitsplätzen nachziehen will) ihre Position im deutschen Bankensektor ausbauen konnte, will DaimlerChrysler unter dem neuen Vorstandsvorsitzenden Dieter Zetsche ihre Stellung auf ähnliche Weise verbessern. Nicht umsonst hat sich Zetsche mit der Reduzierung der Chrysler-Belegschaft um ein Drittel seinerzeit seine „Sporen vedient“.

Ölpreiskrise

Der Rohölpreis schwankt derzeit um die Marke von 70 Dollar pro Barrel. Damit hat sich der Preis seit Beginn dieses Jahrzehnts nahezu verdoppelt. Eine Eindämmung dieser Preisexplosion ist zurzeit unwahrscheinlich. Schließlich ist keine Stabilisierung der politischen Verhältnisse in zentralen Ölförderregionen abzusehen. Ganz im Gegenteil. Zwar ist im Irak die Zahl der Anschläge auf Ölinstallationen zurück gegangen. Allerdings sind die Angriffe auf die Besatzungstruppen von 70 auf 90 pro Tag angestiegen, die offiziell geschätzten Aufständischen haben von 17.000 auf 21.500 zugenommen. Auf Grund der politischen Schwäche der Bewegung haben sich auch die interkonfessionellen Übergriffe verzehnfacht. Vor allem aber wächst die Ablehnung gegen die imperialistischen Kräfte, aber auch gegen die neue irakische Regierung. Nicht nur im Irak, sondern in der gesamten Region bröckelt die Position des US-Imperialismus und seiner Vasallen. Dazu kommen die innerimperialistischen Konflikte um Rohstoffquellen in Afrika, im Kaukasus und in anderen Regionen. Zudem bleibt aus Sicht Washingtons Chavez in Venezuela ein ständiger Unruhefaktor.

Die FAZ.NET konstatierte am 30. Mai ebenfalls „politische Risiken“, wies aber auch auf die Tatsache hin, „dass leicht zugängliche, „konventionelle“ Energieträger erschlossen oder ausgeschöpft sind“ und sich vor diesem Hintergrund „in den vergangenen sechs Jahren die Kosten für die Entwicklung neuer Felder verdreifacht“ haben.

Gefahr eines Börsenkrachs und einer tiefen Wirtschaftskrise

Im bürgerlichen Blätterwald mehren sich die Sorgen um die Bedeutung des Kurseinbruchs im Mai. Für einzelne werden schon Erinnerungen an den Börsenkrach von 1987 wach. Damals verloren die Aktienkurse weltweit 20 Prozent ihrer Werte. Der Konjunkturaufschwung setzte sich zwar zunächst weiter fort, erreichte jedoch bald seinen Zenit. 1990 nahm die internationale Rezession ihren Lauf.

Möglich, dass der aktuelle Kurssturz ein Wetterleuchten darstellt und erstmal nur den fragilen Zustand der Weltwirtschaft erhellt: Der Aufschwung, der 2002 begann, hat seinen Höhepunkt erreicht; die Börsenturbulenzen vor einigen Wochen stellen eine Vorboten der kommenden Krise dar.

Auf Grund der vielen Krisenherde ist jedoch auch eine tiefe Erschütterung auf den Weltfinanzmärkten jederzeit möglich, die unmittelbar eine dramatische Wirtschaftskrise zur Folge haben könnte. Ausgelöst werden könnte ein Börsenkrach durch verschiedene Faktoren: dem Platzen der Immobilienblase, dem Zusammenbruch einer großen Finanzgesellschaft, möglicherweise einem Hedge-Fonds, einer weiteren Ölpreisexplosion, Währungsturbulenzen oder einer starken Abschwächung der Konjunkturaussichten. Möglich ist auch eine Kombination verschiedener Faktoren.

Unter der Überschrift „Verängstigt, aber noch nicht verzweifelt“ skizzierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 12. Juni ein denkbares Szenario: „Das Schlimmste, was in dieser Korrekturphase passieren könnte, wäre denn auch der Kollaps eines größeren Hedge-Fonds, der in den Schwellenländern oder Rohstoffmärkten unterwegs war. Dann käme es schnell zu einer Panik, von der die Märkte bis heute verschont geblieben sind.“ Ausgehend von einem solchen Prozess hält die FAZ eine „Kettenreaktion“ für vorstellbar. 1998 schrammte die kapitalistische Wirtschaft in den Augen des Spekulanten George Soros nur um Haaresbreite am Zusammenbruch des Weltfinanzsystems vorbei. Damals bröckelte der Wert des russischen Rubels. Vor diesem Hintergrund kam es zur Pleite des Hedge Fonds Long Term Capital Management (LTCM). In letzter Sekunde rettete eine konzertierte Aktion von einem Banken-Konsortium, die von der US-Notenbank organisiert worden war, die globalen Finanzmärkte vor gewaltigen Verwerfungen. Heute gibt es eine Vielzahl von riskanten Finanzaktivitäten diverser Hedge-Fonds, die allesamt tickende Zeitbomben bedeuten können. Eine solche Entwicklung, aber auch ständig mögliche Währungskrisen oder andere Szenarien würden schnell dazu führen, dass sich an den Börsen nicht nur „Angst“, sondern auch „Verzweiflung“ breit macht. Die hauptsächlich Leidtragenden wären allerdings die lohnabhängig Beschäftigten und Erwerbslosen – ein Grund mehr, den Kampf für eine sozialistische Welt zu intensivieren