VW: Kampfloser Lohnverzicht mit Folgen

Die IG Metall stellt den Tarifabschluss bei VW als Erfolg dar. Die vom Vorstand verkündeten Maximalziele – Schließung von drei Werken, betriebsbedingte Kündigungen, Senkung des Monatsentgelts um 10-20% – sind laut der Vereinbarung vom 20. Dezember abgewendet. Doch das ist nur die taktische Oberfläche – strategisch haben die Verantwortlichen von IGM und Betriebsrat den VW-Kolleg*innen und der gesamten arbeitenden Klasse  eine Niederlage organisiert, die Nachwirkungen haben wird.

Von Claus Ludwig, Köln

Inhaltlich haben sich Vorstand und Aktionär*innen durchgesetzt: 35.000 Arbeitsplätze werden bis 2030 “sozialverträglich” abgebaut – mit Fluktuation, Abfindungen und Altersteilzeit. Beschäftigte bezahlen für die Vernichtung ihrer eigenen Jobs mit Lohnverlusten von faktisch 10-15%.

Die Kampfkraft der Beschäftigten wurde nicht eingesetzt, sondern nur zart angedeutet, es gab nicht einmal einen ganztägigen Warnstreik, ganz zu schweigen von dem angedrohten “Arbeitskampf, den die Bundesrepublik so seit Jahrzehnten nicht erlebt hat” (Torsten Gröger, IGM-Bezirksleiter Hannover). Das Ergebnis ist demnach nicht geprägt durch die Macht der Arbeitenden, sondern von den Profitinteressen der Anteilseigner*innen; lediglich gedämpft durch die Maßgabe, die Ruhe in den Betrieben zu bewahren und die Produktion nicht zu unterbrechen – ein Ziel, was von der IGM- und BR-Führung offensichtlich geteilt wird.

VW ist nicht irgendein Betrieb, sondern ein Symbol für “Sozialpartnerschaft”, sichere Arbeitsplätze und gute Löhne. Das wurde von der Konzernleitung aufgekündigt. Der Einstieg in Lohnverzicht und Arbeitsplatzvernichtung wurde erreicht, abgesichert durch die Unterschrift der IGM, die damit die Beschäftigten zur Ruhe verpflichtet. Dass das kampflos geschehen ist, ermutigt die Bosse im ganzen Land – wenn das bei VW geht, funktioniert die Erpressung bei weniger gut organisierten Betrieben erst recht. Diese Lehre werden die Konzernchefs und ihre politischen Vertreter*innen überall verbreiten.

10-15% Lohnverlust

Der VW-Betriebsrat nennt es “solidarisch erwirkter Erhalt aller Standorte samt Zukunftsperspektiven”. Man könnte auch sagen: Die Kolleg*innen bezahlen selbst dafür, dass sie nicht entlassen, sondern dass bis 2030 35.000 Arbeitsplätze “sozialverträglich” vernichtet werden. Sie bezahlen dafür, dass VW weniger ausbildet – 650 statt 1150 jährlich – und die kommenden Generationen dort keine sicheren Arbeitsplätze mehr finden. Sie verzichten auf Tausende Euros im Jahr, um VW für die Aktionär*innen profitabel zu machen.

Der Grundlohn wird nicht pauschal gesenkt, dafür werden Urlaubsgeld und Mai-Bonus zunächst gestrichen und ab 2026 schrittweise wieder ausbezahlt. Die in der allgemeinen Tarifrunde Metall und Elektro ausgehandelten 5% plus werden übernommen, aber sechs Jahre lang nicht ausgezahlt, sondern gehen in einen Topf zur “Beschäftigungssicherung” – für den “(Teil-) Entgeltausgleich für Arbeitszeitreduzierung bei Personalüberhängen und erweiterte Altersregelungen.”

Kolleg*innen in den Entgeltstufen 8, 13 und 17 (diese Beispiele nennt der BR) verlieren somit auf das Jahr 2025 gerechnet jeweils rund 3800 Euro. Auch im Jahr 2029 liegt der Lohn noch über 2000 Euro unter dem eigentlich für 2025 berechneten Einkommen. Die Arbeitszeit wird von 34 auf 35 Stunden verlängert (!), dafür gibt es einen teilweisen Lohnausgleich in Höhe von ca. 13 bis 18 Euro brutto pro Stunde, unabhängig von der Eingruppierung. Die Kolleg*innen bezahlen ihre erzwungene Arbeitszeitverlängerung ebenso selbst wie das kürzere Arbeiten, das von den Betriebsleitungen verfügt werden kann.

In ihrem Papier „Weihnachtswunder oder blaues Wunder bei VW: Eine erste Einschätzung und Schlussfolgerung zum VW Tarifergebnis” schreiben die VW-Kollegen Lars Hiersekorn (Braunschweig) und Thorsten Donnermeier (Kassel) sowie der Aktivist Tobi Roswog von einem Lohnverzicht “durch die Hintertür” von 10 bis 15%.

Die IGM bezeichnete die Pläne des VW-Vorstandes als “Horrorszenario”, das verhindert werden konnte. Dass mit diesem Szenario möglicherweise “Entsetzen” (= Horror) erzeugt werden sollte, um alle weniger schlimmen Szenarien als erträglich und eher akzeptabel erscheinen zu lassen, verschweigt die IGM.

VW ist kein mittelständisches Unternehmen kurz vor der Pleite. 2023 hat VW 18 Milliarden Euro Nettogewinn gemacht, 4,5 Milliarden wurden an die Anteilseigner*innen ausgeschüttet, allein 2 Milliarden an die Porsche-Piëch-Familie. Der Konzern verfügt über 147 Milliarden Euro Gewinnrücklagen. Auch 2024 war profitabel, in den ersten drei Quartalen wurde ein Gewinn nach Steuern von 9 Milliarden Euro erreicht. Der “Horror” wurde erzeugt, um eine höhere Rendite durchzusetzen.

Vorübergehendes Problem?

Die Erzählung der IGM ist, dass die Krise von VW und der deutschen Autokonzerne überwunden werden kann, wenn die Rahmenbedingungen für die Elektro-Mobilität stimmen, wenn der Staat Ladeinfrastruktur und Kaufanreize zur Verfügung stellt. Lohnverzicht und Arbeitsplatzvernichtung wären dann nur vorübergehende Probleme. Das ist keine realistische Perspektive. Selbst wenn die deutschen Konzerne in der Lage sind, den technischen Vorsprung z.B. der chinesischen Autohersteller aufzuholen und konkurrenzfähige Produkte anbieten, bedeutet die volle Umsetzung der E-Mobilität massiven Arbeitsplatzabbau. Für ein E-Auto werden schlicht weniger Arbeiter*innen gebraucht als für einen Verbrenner. Zudem ist die auf den Export orientierte deutsche Industrie härter als die Industrie anderer Länder von der Blockbildung, Handelshemmnissen und Decoupling mit Folgen für Energiekosten und Rohstoff-Beschaffung betroffen. 

Die Zeit und ein bisschen staatliche E-Mobilitäts-Förderung schaffen diese Probleme nicht aus der Welt. Daher sind auch nicht alle Werke gesichert, wie es VW-Betriebsrat in seiner Publikation “Mitbestimmen” behauptet. “Wolfsburg … wird umgebaut und  ist ab 2029 bereit für mehrere SSP-Flaggschiffe rund um den ID.Golf.” Doch zunächst geht die Golf-Produktion nach Mexiko. Ob 2029 die “Flaggschiffe” segeln oder mehr Arbeitsplätze abgebaut werden, steht in den Sternen.

Osnabrück läuft bis Spätsommer 2027. “Darüber hinaus ist es Ziel, eine wirtschaftliche Zukunftsperspektive für den Standort zu entwickeln.” Im Klartext: 2027 ist Schluss mit Autoproduktion in Osnabrück, vielleicht übernimmt jemand anders das Werk. Hört es sich so an, wenn eine Werksschließung ausgeschlossen ist? Ähnlich klang es bei Ford bezüglich des Werkes in Saarlouis, das bis Ende 2025 seinen Tod auf Raten erlebt. Die Produktion in der “Gläsernen Manufaktur” in Dresden – bisher 6000 Autos jährlich – wird Ende 2025 definitiv eingestellt. Das angekündigte “alternative Gesamtkonzept” klingt vor allem nach heißer Luft.

Die Garantie für die Werke und der Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen gilt nur bis Ende 2030. Bis dahin wird VW eine ausgedünnte Belegschaft haben. Viele Kolleg*innen werden vom Lohnverzicht frustriert sein. Die IGM wird weniger Mitglieder haben. Ein erneutes “Horrorszenario” träfe wahrscheinlich auf eine Belegschaft mit geringerer Kampfstärke als heute.

Produktion gesellschaftlich organisieren

Die IG-Metall-Führung und die meisten Betriebsräte der großen Konzerne können sich kein anderes Modell vorstellen als die Produktion für den Profit der Aktionär*innen und in Konkurrenz zueinander zu organisieren. In guten Zeiten fallen dabei ordentliche Löhne und erträgliche Arbeitsbedingungen für die (Stamm)-Belegschaften ab und die IGM präsentiert sich stolz als Vermittler. Wenn es härter wird und die Bosse Druck machen, dann bestimmt man als Gewerkschaft und BR den Abbau mit und vermittelt dies den Kolleg*innen, mit ernster Miene und dem erleichterten Seufzer, Schlimmeres verhindert zu haben.

In Zeiten verschärfter Konkurrenz und einem dabei strukturell schwierig aufgestellten deutschen Kapitalismus führt dieses Vorgehen zur permanenten Verschlechterung von Löhnen, Arbeitsbedingungen und zur Aushöhlung der gewerkschaftlichen Kampfkraft.

Gewerkschafter*innen sollten das Ruder herumreißen: Wie wäre es, wenn nicht das Profitinteresse bestimmt, was wo produziert wird, sondern der gesellschaftliche Bedarf? Die große Zeit des deutschen Autos ist vorbei. Doch die Qualifikation der Beschäftigten wird benötigt – zum Beispiel, um einen funktionierenden öffentlichen Verkehr aufzubauen, mit Bussen, Bahnen, Car Sharing. Können in VW-Fabriken Bahnen gebaut werden? Vielleicht, das wissen die Kolleg*innen dort am Besten. Busse können gewiss produziert werden, natürlich auch die benötigten kleineren E-Autos.

Die Entscheidung darüber darf nicht den Bossen überlassen werden. Nötig ist eine Diskussion in den Betrieben, in den Gewerkschaften und in der Klimabewegung darüber, welche Produkte wir brauchen. Konzerne wie VW und Ford sollten in öffentliches Eigentum überführt werden, unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten und der gesamten Gesellschaft.

Schauen wir in die Geschichtsbücher und erinnern uns an die IG Metall von 1984: die Antwort auf den Arbeitsplatzabbau durch Krise und Automatisierung war damals die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung für alle bei vollem Lohnausgleich, konkret die 35-Stunden-Woche. Diese Antwort ist auch heute noch richtig: wenn es Überkapazitäten gibt, muss die Arbeit auf alle verteilt werden, ohne Lohnverlust, finanziert durch die Profite der vergangenen Jahre, welche die Kolleg*innen durch ihre Arbeit ermöglicht haben.

Die Führung der IG Metall lebt in einer Phantasiewelt (oder verbreitet bewusst Unsinn), wenn sie uns erzählt, die technische Aufholjagd der Autokonzerne und eine umfassende staatliche Förderung der E-Mobilität würden die Lage grundlegend ändern. Natürlich wollen die Konzerne im internationalen Konkurrenzkampf erfolgreich sein. Doch sie werden das auf Kosten der Beschäftigten durchsetzen. Wer die Arbeitsplätze und die Einkommen der Kolleg*innen und damit auch die gewerkschaftliche Kampfkraft der Arbeiter*innenklasse wirklich verteidigen will, muss diese Illusionen abschütteln und sich der Realität stellen.

Wäre mehr drin gewesen?

IG Metall und Betriebsräte bei VW haben nicht versucht zu kämpfen. Daher bleibt die Frage offen, was durch einen Streik möglich gewesen wäre. Häufig weisen Gewerkschaftsfunktionär*innen darauf hin, dass “die Basis” schwerer als früher zu mobilisieren sei. Tatsächlich führt ein Vorgehen wie bei VW zur Schwächung der Kampfkraft. Die Beschäftigten trauen der IGM weniger zu, den Kampf zu führen. Sie ahnen, dass Aufrufe zu Warnstreiks oft nur dazu dienen, “Dampf abzulassen” und eine Einigung vorzubereiten. Sie verlieren das Vertrauen in die eigene Kraft. Es gibt weniger aktive Vertrauensleute. Das ermöglicht – z.B. in den Daimler-Werken rund um Stuttgart – rechtsextremen Kräften, in den Betrieben zu agieren. Sie nähren sich von Enttäuschung und Kampfverzicht der IGM wie Läuse vom Blut, verstärken Frustration und Inaktivität.

Es ist dringend nötig, in der IGM und anderen DGB-Gewerkschaften für einen klassenkämpferischen Kurs zu streiten. Die Ergebnisse der Tarifrunden in der Metall- und Elektroindustrie und bei VW müssen ausgewertet, die dramatische Lage bei Ford Köln und vielen Zulieferern muss jetzt diskutiert werden.

Das Papier von Hiersekorn, Donnermeier und Roswog bietet einen Ansatz dafür. Die Kollegen schreiben: “Unser Kampf geht weiter und darüber hinaus. Wir nehmen den Angriff vom Kapital auf uns alle nicht hin. Wir nehmen jetzt die Dinge selbst in die Hand.”

In der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) versammeln sich Kolleg*innen, die für einen anderen Kurs der Gewerkschaften eintreten. Diese und weitere Ansätze müssen entwickelt werden, die IGM muss repolitisiert, die Debatte in Mitgliederversammlungen, VL-Strukturen und in Bündnissen intensiviert werden.