Gaza: 20.000 Tote in acht Wochen – Tötungsmaschine und Vertreibung

Fast 1% der gesamten Bevölkerung sind in knapp zwei Monaten getötet worden, darunter mehr Kinder, als in allen Kriegen der vergangenen vier Jahre zusammen, inklusive Ukraine. Vor unseren Augen erleben wir möglicherweise die schnellste Todesrate aller Bombenkriege der Geschichte. Die Zahl der Toten liegt inzwischen höher als 1948, als im Krieg um Israels Gründung in der “Nakba” (arabisch für Katastrophe) rund 15.000 Palästinenser*innen getötet und 750.000 vertrieben wurden.

Von Claus Ludwig, Köln

Am 30. November veröffentlichte das israelische Internet-Magazin +972 eine Recherche, nach der die israelische Armee eine künstliche Intelligenz namens Habsora (“Gotteswort”) einsetzt, um die Bombardierung zu optimieren. Die Daten der Luftwaffe sind so detailliert, dass sie vorher weiß, wie viele Menschen bei jedem Angriff sterben werden. +972 berichtet, dass für Tötung eines Hamas-Kommandeurs bewusst Hunderte tote Zivilist*innen in Kauf genommen werden. Ein ehemaliger Geheimdienstoffizier bezeichnet das KI-System als “Massenmordfabrik”.

Massenvertreibung und Annektion?

Es gibt bisher keinen klar erkennbaren Plan der israelischen Regierung, die Bevölkerung komplett zu vertreiben und Gaza zu annektieren. Es ist allerdings schwer vorstellbar, dass Menschen zukünftig im überwiegend zerstörten Norden des Gaza-Streifens leben können. Gaza, wie es einmal war, gibt es nicht mehr. 250.000 Wohnungen waren Ende November beschädigt, 50.000 komplett zerstört.

In der israelischen extremen Rechten gibt es eine Diskussion über die vollständige Zerstörung und Eroberung Gazas. Gila Gamiel von Netanyahus Likud-Partei entwarf schon im Oktober einen Plan für den “Transfer” von Gazas Bevölkerung in die zu Ägypten gehörende angrenzende Sinai-Wüste. Minister Eliyahu von der Partei “Jüdische Macht” schlug vor, eine Atombombe auf Gaza zu werfen und wurde dafür nur kurzfristig suspendiert. 

Auf Platz 1 der israelischen Spotify-Charts stand Anfang Dezember der Song “Charbu Darbu” des Rap-Duos Ness & Stilla, der zur totalen Zerstörung Gazas und zur Ermordung von Prominenten aufruft, die sich gegen den Krieg ausgesprochen haben wie Bella Hadid, Dua Lipa und Mia Khalifa.

Noch gibt es trotz des gewaltigen Aufschwungs von Rassismus keine mehrheitliche Zustimmung in der israelischen Bevölkerung für Vertreibung und Annektion. Dazu kommen die praktischen Probleme: die arabischen Regimes wie Ägypten, Jordanien oder Libanon können eine erneute Massenvertreibung nicht hinnehmen, eine Ausweitung des Krieges wäre in diesem Fall wahrscheinlicher.

Keine Sicherheit

Netanyahu stolpert voran. Er weiß, dass er Hamas schwächen, aber nicht zerschlagen kann. Die durch das Massaker traumatisierte Bevölkerung wird eines Tages umso wütender und entschlossener zurückschlagen. Die israelische herrschende Klasse weiß, dass eine direkte militärische Kontrolle über Gaza zu dauerhaften Kämpfen mit einem hohen Preis für die israelische Truppen führen würde. Die palästinensische Autonomie-Behörde im Westjordanland kann es sich nicht leisten, nach dem Massenmord für Israel die Hilfspolizei in Gaza zu spielen, arabische Staaten und UN lehnen diese Rolle auch ab. 

Die Regierung hat keine Strategie für den “Tag danach”. In diesem Chaos ist es möglich, dass die genozidalen Elemente, die bereits jetzt in Israels Vorgehen vorhanden sind, weiter eskalieren. Die IDF bereitet mit ihrem Bombenterror die Grundlage für ein größeres Inferno in der Zukunft. Es ist eine Lebenslüge des Zionismus, dass Israel ein sicherer Platz für Jüd*innen sei. Sicherheit wird es nur geben, wenn die Besatzung des Westjordanlands und die Belagerung Gazas enden, wenn den Palästinenser*innen das Recht auf Selbstbestimmung in einem eigenen Staat zugestanden wird.

Unter der Kontrolle der korrupten kapitalistischen Regime in der Region und unter den Bedingungen der imperialistischen Geopolitik wird es diese Selbstbestimmung nicht geben. Sie kann nur von den Massen in Palästina und den Nachbarländern erkämpft werden. Eine zentrale Aufgabe ist es, alles zu tun, um die jüdische Arbeiter*innenklasse zu zeigen, dass die Unterdrückung der Palästinenser*innen und der repressive jüdische Staat in seiner jetzigen Form keine Sicherheit bringen.

Die ISA schlägt daher vor, für einen sozialistischen palästinensischen Staat zu kämpfen, mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt, neben einem sozialistischen israelischen Staat. Nicht mit den destruktiven Methoden der Hamas, die keine Befreiung bringen, sondern mit den Methoden der ersten Intifada von 1987-1991, mit demokratischer Selbstorganisation, Streiks, Boykott und militanten Massenaktionen.

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