Ukrainische Rückeroberungspläne: Krieg bis zum Siegfrieden?

Im Mai 2023 war Selenskyj auf Deutschlandreise, wo er erneut die ukrainischen Kriegsziele formuliert hat: Die russischen Invasoren sollen aus dem Land gejagt werden – und alle ukrainischen Gebietsverluste ab 2014 sollen revidiert werden. Deutschland hat neue Waffenhilfe zugesagt. Seit Wochen wird von der ukrainischen “Frühjahrsoffensive” geredet, welche die russischen Truppen zurückwerfen soll.

Von Marcus Hesse, Aachen

Aktuell ist noch ein Fünftel des Gebiets der Ukraine russisch besetzt. Doch diese Gebiete liegen ausschließlich im Osten und Südosten des Landes. Mit der Rückeroberung Charkiws und Chersons sind der ukrainischen Armee im Spätsommer 2022 bedeutende Vorstöße gelungen. Seitdem sind die Fronten eingefroren. Zuletzt vermeldete die russische Wagner-Miliz die Eroberung von Bachmut. Scholz hat Selenskyj für die Gegenoffensive erneut Militärhilfen von 2,7 Milliarden Euro zugesagt, vor allem Panzer und Luftabwehrsysteme. Die Ukraine fordert außerdem Kampfjets. Die ukrainische Regierung lobt Deutschland und betont, dass das Land nach den USA zweitgrößter Waffenlieferant sei. 

Legitime Gegenwehr und imperialistische Konkurrenz

Die Invasion des russischen Imperialismus auf das Nachbarland hat einen verbrecherischen Charakter. Der Abwehrkampf zur Verteidigung der nationalen Selbstbestimmung der Ukraine ist legitim. Der Krieg ist gleichzeitig auch eine blutige Austragung des globalen Konfliktes zwischen dem Block USA/EU/NATO auf der einen und Russland/China auf der anderen Seite.

Ausgangspunkt waren die nationalen Konflikte zwischen moskaunahen Separatist*innen und der Kiewer Regierung ab 2014 im Nachgang des Maidan-Umsturzes, die im Donbass schon lange vor 2022 bewaffnet ausgetragen wurden. Der vom ukrainischen Staat geführte Widerstand gegen die russische Invasion setzte von Anfang an auf ein enges Bündnis mit der NATO und dem Westen. Um die russische Armee zu besiegen, bedarf es immer mehr militärischer Beteiligung des Westens. Damit ist der Krieg zu einem Stellvertreterkrieg rivalisierender Blöcke geworden.

Es ist fraglich, ob die Ukraine Russland überhaupt besiegen kann. Die wahrscheinlichste Option ist ein viele Jahre dauernder verlustreicher Zermürbungskrieg, finanziert durch Waffenlieferungen des Westens. Deutsche Rüstungskonzerne profitieren davon. Am Ende wird eine hoffnungslos verschuldete, verarmte und zerstörte Ukraine stehen. Westliche Konzerne werden in den Startlöchern stehen, um vom Wiederaufbau zu profitieren. Die Bindung der Ukraine an den westlichen Imperialismus wird die Ukraine mehr denn je in eine abhängige Halbkolonie verwandeln. 

Nationale Frage und Chauvinismus

Gräueltaten der russischen Besatzer*innen haben die schon lange bestehenden nationalen Gräben zwischen Ukrainer*innen und Russ*innen vertieft. Auf beiden Seiten nehmen Nationalismus und Feindseligkeit gegen die andere Nationalität, Sprache und Kultur weiter zu. Das erklärte Ziel der ukrainischen Kriegspartei ist nicht nur die Revidierung der Gebietsverluste ab der russischen Invasion ab Februar 2022, sondern die Wiederherstellung der ukrainischen territorialen Integrität auf dem Stand von 2014. Das erfordert die Rückeroberung der abgespaltenen Donbass-”Volksrepubliken” sowie der Krim. Ob der ukrainischen Armee die Rückeroberung der Halbinsel überhaupt militärisch gelingen kann, ist eine ganz andere Frage, aber die Absichtserklärung sagt einiges über die Kriegsziele der Regierung Selenskyj aus. Es handelt sich bei diesen Gebieten um mehrheitlich russischsprachige Gebiete, in denen sich ein großer Teil der Bevölkerung Russland zugehörig fühlt. Selenskyj aber schwört die Ukrainer*innen auf die Rückeroberung der “ukrainischen Krim” ein.

Während die ukrainische Armee sich auf die vorbereitet, bricht laut westlichen Medienberichten im russich besetzten Süden der Ukraine Panik aus. Im Gebiet Saporischschja, in dem unter anderem ein Atomkraftwerk im Frontgebiet liegt, hat die russische Verwaltung Evakuierungsmaßnahmen eingeleitet. Russischsprachige Bewohner*innen sollen unter anderem auf die Krim evakuiert werden. Es herrscht Angst vor kollektiver Rache und ethnischen Säuberungen. Die russische Invasion hat bestehende nationale Gräben vertieft. Die Verwirklichung der ukrainischen Kriegsziele würde diese verstärken.

Bild: Mil.gov.ua, CC BY 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by/4.0, via Wikimedia Commons