Asylrechtsverschärfung: Die tödliche Abschottung der EU

Weil es für sie kaum Möglichkeiten gibt, legal in die EU einzureisen, reisen jedes Jahr tausende Geflüchtete in völlig überfüllte, kaum seetüchtige Boote über das Mittelmeer. Hunderte von ihnen sind Mitte Juni vor der griechischen Küste bei Pylos ertrunken, Überlebende berichten von einem Pushback-Versuch – wenige Tage, nachdem die Regierungen der EU-Staaten sich auf Gesetzesänderungen geeinigt haben, um Europa weiter abzuschotten und einem großen Teil der Geflüchteten das Recht auf ein reguläres Asylverfahren zu entziehen.

von Thies Wilkening, Reinbek

An Bord des vor Pylos gesunkenen Geflüchtetenschiffes waren wohl ca. 750 Menschen, nur 104 von ihnen haben überlebt. Damit ist der Schiffsuntergang das größte Seefahrts-Unglück in Europa seit dem Untergang der Fähre Estonia 1994. Die Rolle der Küstenwache ist noch unklar, es gibt aber berechtigte Zweifel an der Erzählung, das Schiff sei spontan einfach so gesunken, nachdem die Küstenwache eingetroffen sei. Das Schiff wurde über Stunden überwacht. Möglicherweise sollte es abgeschleppt werden und sank dabei. Zehntausende demonstrierten in Griechenland und warfen den für die unmenschliche Fluchtpolitik verantwortlichen Politiker*innen Mord vor. Die unmenschliche Asylpolitik ist kein griechisches, sondern ein europäisches Problem – und die Ampel-Regierung trägt den sogenannten “Kompromiss” voll mit. 

GEAS: Lagerhaft an Außengrenzen und Abschiebungen im Eilverfahren

Die genauen Verordnungs- und Vertragstexte des neuen Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) sind noch nicht bekannt und viele Details unklar. Klar ist aber, dass der Rechtsstatus und die Lebensbedingungen von Geflüchteten aus einem Großteil aller Staaten massiv verschlechtert werden.

Die beiden zentralen Punkte der Reform sind die EU-weite Einführung von Grenzverfahren für Geflüchtete aus den meisten Herkunftsländern und ein europaweiter Verteilungsschlüssel, der das bisherige Dublin-III-System ablösen soll. Dublin bedeutet, dass Geflüchtete nur in dem Land einen Asylantrag stellen dürfen, in dem sie in die EU eingereist sind. Andere Mitgliedsstaaten dürfen sie dorthin abschieben. Schon das Dublin-System diente dazu, Ländern ohne EU-Außengrenze wie Deutschland theoretisch die Abschiebung fast aller Geflüchteten zu ermöglichen. Es war aber immer juristisch umstritten, zum Beispiel gab es jahrelange Abschiebestopps nach Italien und Griechenland, weil deutsche Gerichte zugeben mussten, dass durch schlechte Unterbringung und Versorgung die Lebensbedingungen für Geflüchtete dort nicht mit den Menschenrechten vereinbar waren.

Um zu verhindern, dass sich Menschen diesen Bedingungen entziehen, wird das Grenzverfahren eingeführt. In Griechenland wird es schon lange praktiziert, Lager wie das berüchtigte Moria (jetzt Kara Tepe) auf Lesbos sollen der Normalfall werden. Alle Menschen, die auf dem Land- oder Seeweg aus Ländern mit unter 20% Schutzquote kommen, sollen für die Dauer ihres Asylverfahrens in dem Land interniert werden, in dem sie die EU-Außengrenze erreicht haben – wer über die Türkei kommt also in Griechenland, wer es über das Mittelmeer geschafft hat in Italien. Die Schutzquote ergibt sich aus der Anzahl der vergebenen Aufenthaltstitel (Asyl, Flüchtlingsstatus und Abschiebeverbot) geteilt durch die Zahl der erledigten Asylanträge. Wie die Quoten genau bestimmt werden sollen, ist unklar, vor allem in Zukunft, weil mit Inkrafttreten der Änderungen die Schutzquoten der davon betroffenen Länder auf nahezu 0% sinken werden.

Nach drei Monaten sollen die Schnellverfahren beendet sein und im Regelfall mit der Abschiebung enden. Wenn jemand keinen Pass hat, staatenlos ist oder das Herkunftsland die Abschiebung verweigert, soll die Person in einen beliebigen „sicheren Drittstaat“, den sie auf der Flucht durchquert hat, abgeschoben werden. Die sicheren Drittstaaten sind noch nicht genau definiert, die Türkei wird aber sicher dazu gehören, die afrikanischen Länder an der Mittelmeerküste wohl auch. Rechtsbeistand im Verfahren ist nicht vorgesehen. Wenn ein Antrag positiv beschieden wird, folgt darauf ein reguläres Asylverfahren in einem Mitgliedsstaat, dem die Person per Los nach einem festgelegten Verteilungsschlüssel zugewiesen wird.

Die Lebensbedingungen in den bereits bestehenden griechischen Lagern sind bekannt und sollen zur Abschreckung dienen, in Moria gab es zum Beispiel pro 70 Inhaftierte eine Toilette, pro 80 eine Dusche. Viele Menschen waren mehrere Jahre lang dort, und auch jetzt bleibt fraglich, ob die Behörden die geplanten Schnellverfahren binnen drei Monaten wirklich durchführen können. Besonders wenn es in einem Land mit bisher niedriger Schutzquote eine Naturkatastrophe oder einen Krieg gibt, der zu Massenflucht führt – das war zum Beispiel 2011 in Syrien der Fall.

Davon ausgenommen werden Menschen aus der Ukraine, Afghanistan, Syrien und einigen weiteren Ländern, bei denen EU-weit mehr als 20% aller Asylanträge angenommen werden. Europaweite Zahlen dazu sind sehr schwer zu finden, für Deutschland wären es insgesamt ca. 30 Staaten, darunter Eritrea, Äthiopien und Somalia. Deserteur*innen und Oppositionelle aus Russland und Kurd*innen aus der Türkei kämen hingegen in die Lager. Generell gibt es keine Ausnahmen für verfolgte Minderheiten: wenn es also einen Genozid an einer kleinen Bevölkerungsgruppe gibt oder queere Menschen gezielt umgebracht werden, aber auch viele andere Menschen aus dem gleichen Land in die EU einreisen wollen, werden sie alle gemeinsam interniert.

Diskursverschiebung: Nationalismus statt Liberalismus

„Sozialismus oder Barbarei“, beschrieb schon Rosa Luxemburg die Alternativen für die zukünftige Entwicklung der Gesellschaft – die europäische Migrationspolitik ist ein Symptom des barbarischer werdenden Kapitalismus. Die Herrschenden reagieren auf die Klimakrise, die Krise des globalisierten Kapitalismus und soziale Krisen mit Aufrüstung – militärisch, an den Grenzen und ein Stück weit auch nach innen, wie z.B. das Vorgehen gegen die Letzte Generation zeigt. Im aktuellen Zeitalter der Unordnung verändert sich die herrschende Ideologie. Bisher war das in Deutschland und Westeuropa der Liberalismus, die Ideologie der Globalisierung, mit der Idee, dass auf Grundlage freier Märkte, freien Warenverkehrs und auch für Menschen teilweise durchlässiger Grenzen eine kooperative, friedliche weltweite Entwicklung und unbegrenztes kapitalistisches Wachstum möglich wären, das irgendwann dazu führen würde, dass durch Trickle-Down-Effekte und vielleicht ein bisschen Sozialpolitik Armut und Mangel überwunden würden.

Jetzt gehen die Herrschenden zunehmend zu einer nationalistischen Ideologie der Konkurrenz zwischen Blöcken, Staaten und Nationen über. Sie erklären, „wir“ in Deutschland, Europa und NATO müssten uns verteidigen – „unsere Werte“ gegen Russland und China und unseren Lebensstandard gegen Migrant*innen aus neokolonialen Ländern. Anders als der Liberalismus, der auf Wohnraummangel, fehlende Kitaplätze, ein überlastetes Gesundheitssystem und andere soziale Krisen keine Antworten hatte, liefert diese Ideologie einen Sündenbock für solche Probleme: „unkontrollierte Einwanderung“. Sie spaltet die Arbeiter*innenklasse und sagt den hier lebenden Menschen: „Eure Kitas, Schulen und Wohnungen werden an den EU-Grenzen verteidigt.“ Und das mit großem Erfolg – eine breite Mehrheit der Bevölkerung findet die Asylrechtsverschärfungen richtig, Proteste bleiben bisher klein. Die Diskursverschiebung ist deutlich – noch 2016 wurde Donald Trumps Idee einer Mauer an der Grenze zu Mexiko von Politiker*innen aller regierenden Parteien verurteilt, heute sind sie sich fast alle einig, dass Mauern und Abschottung legitim sind und Tote an Grenzen vielleicht nicht direkt wünschenswert, aber notwendige Kollateralschäden und außerdem nicht unser Problem.

Solidarität statt Konkurrenz

Das heißt nicht, dass die Mehrheit der Bevölkerung zu überzeugten Rassist*innen geworden wäre, die hier lebende Migrant*innen pauschal hassen. Auch diese Haltung verbreitet sich, wie die Umfrageergebnisse der AfD zeigen, aber sie ist auf der Straße wenig sichtbar, es gibt gerade keine rassistische Massenbewegung. Die Zustimmung zur Abschottung Deutschlands und Europas ist eher passiv. Sie entsteht zu großen Teilen eben aus der Konkurrenz um Kitaplätze oder der Vorstellung, an hohen Mieten sei die Migration schuld. Wenn eine gesellschaftlich relevante Bewegung oder Partei dem ein Programm entgegensetzt, das Solidarität mit Geflüchteten mit sozialen Forderungen verbindet, kann diese Stimmung zurückgedrängt werden. Wenn das nicht passiert, wird die Ablehnung gegen Geflüchtete nicht auf ethnische Deutsche beschränkt bleiben. Auch unter Nachkommen von Migrant*innen führt der Konkurrenzgedanke zu Unterstützung für rassistische Politik, auch wenn sie von deren Folgen selbst betroffen sein könnten.

Die Ampel will die Migration nicht auf Null reduzieren – ausgebildete Pflegekräfte und andere „nützliche“ Migrant*innen, die zu geringen Löhnen hart arbeiten, sind weiterhin willkommen. Aber eben nur, solange sie nützlich sind und direkt oder indirekt Profit erwirtschaften. Verstärkte rechtliche Diskriminierung gegen Geflüchtete kann auch für weitergehende diskriminierende Gesetze den Weg bereiten, die dann auch Menschen treffen die schon hier leben. Von der liberalen Idee der allgemein gültigen Menschenrechte haben sich die bürgerlichen Parteien jedenfalls alle verabschiedet.

Rassismus bekämpfen – Kapitalismus überwinden

Das hat auch Konsequenzen für zukünftige Protestbewegungen, wenn der Diskursverschiebung nach rechts eine gewisse Polarisierung nach links folgen sollte. Der liberale Antirassismus ist tot. Die Selbstdarstellung der SPD und vor allem der Grünen als antirassistische Parteien ist erledigt, die Zeit der Grünen- und EU-Fahnen auf Demos gegen Rassismus wohl endlich vorbei. Die LINKE hat den Bruch mit Wagenknecht zumindest verbal vollzogen und könnte kurzfristig profitieren. Wenn sie sich aber weiter anpasst und versucht, die von den Grünen verlassene linksliberale Nische zu besetzen, wird auch sie bald scheitern. Der Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Rassismus wird immer offensichtlicher. Menschen, die sich an Fragen von Rassismus und Diskriminierung oder auch von Klimagerechtigkeit politisieren, werden vermehrt zu antikapitalistischen Schlussfolgerungen kommen – denn der Kapitalismus hat nur noch Nationalismus, Rassismus und Konkurrenz zu bieten.