Zwischenbilanz einer neuen Frauenbewegung

Der Internationale Feministische Kampftag

Am 8. März protestierten ca. 70.000 Menschen in Deutschland. Der Tag begann mit den Aktionen der kommunalen Beschäftigten des Sozial- und Erziehungsdienstes. Am Nachmittag fanden Demonstrationen feministischer Initiativen, Gewerkschaften und politischer Organisationen statt. In Hamburg waren zum Beispiel 10.000, in Köln 4.000 und in Bremen 5.000 Menschen auf der Straße.

von Ianka Pigors, Hamburg

Damit waren die Demos spürbar größer als in den vergangenen Jahren, die Stimmung war kämpferisch und teilweise deutlich antikapitalistisch, das Publikum jung. Sprechchöre wie „Jin, Jiyan, Azadi!“ – „Frau, Leben, Freiheit!“ betonten die internationale Solidarität mit der Revolte im Iran.

Überall gab es FLINTA1-only Blöcke, in denen cis Männer2 unerwünscht waren, große Teile der Demos waren aber für alle offen. Gerade unter den Jüngeren waren alle Geschlechteridentitäten vertreten. Nach dem erfolgreichen Aktionstag ist es Zeit für eine Zwischenbilanz.

Wo steht die feministische bzw. antisexistische Bewegung?

Klar ist: Wenn wir von der feministischen „Bewegung“ sprechen, reden wir nicht von einer protest- und aktionsorientierten Massenbewegung, die sich zielorientiert für bestimmte Forderungen einsetzt. Wir sprechen eher von einer politisierten, aktivistischen Stimmung. Diese Stimmung erfasst nicht alle Bevölkerungsschichten gleichermaßen.

Einerseits ist das Selbstbewusstsein von Frauen und weiblich gelesenen Personen in den letzten Jahrzehnten offensichtlich gewachsen – allein schon, weil der traditionell weiblich dominierte Dienstleistungssektor im Vergleich zum gewerblichen Sektor kontinuierlich an Bedeutung gewonnen hat. Die Corona-Krise hat die gesellschaftliche Relevanz der chronisch unterbezahlten, weiblich dominierten Berufe – im Pflege- und Gesundheitsbereich, im Einzelhandel und im Sozial- und Bildungsbereich – sichtbar gemacht. Dadurch sind Forderungen nach finanzieller Aufwertung, aber auch nach sozialer Anerkennung – unter anderem auch durch Maßnahmen wie das „Gendern“ – ins gesellschaftliche Bewusstsein gerückt. Die Me-Too-Bewegung hat es leichter gemacht, sexualisierten Machtmissbrauch besonders in der Arbeitswelt offenzulegen.

Gleichzeitig wächst eine Generation heran, deren Kindheit und Jugend durch den sexistischen „Backlash“ nach der zweiten Welle der Frauenbewegung der 1960er geprägt wurde: Überraschungseier in rosa und blau, die schon Kleinkinder mit binären Geschlechterrollen konfrontieren, extreme, genderspezifische Körpernormen in den sozialen Medien und transfeindliche oder homophobe Einstellungen sowie sexistische Propaganda rechter Gruppen.

Eine Schicht der Betroffenen reagiert auf diese Angriffe damit, traditionelle Genderrollen grundsätzlicher als je zuvor in Frage zu stellen. Trans-Personen erfahren in diesen Zusammenhängen mehr Akzeptanz, die Ablehnung binärer Gender-Konstrukte ist dort weit verbreitet.

Andererseits gibt es – gerade auch unter Älteren – eine gesellschaftliche Gegenbewegung, die binäre Genderrollen als „naturgegeben“ definiert und Kritik an ihnen als „Gendergaga“ diffamiert. Auch einige Linke versuchen, sich in Abgrenzung zu kleinbürgerlichen „Gutmenschen“ als ‘’Vertreter*innen’’ der traditionellen (Industrie)-Arbeiter*innenschaft darzustellen. Solche Strömungen stellen sich oft als besonders „proletarisch“ und „materialistisch“ dar, obwohl die Klasse der Lohnabhängigen heute weiblicher, migrantischer und gender-diverser ist als je zuvor.

ROSA – für einen sozialistischen Flügel in der feministischen Bewegung

Die Auseinandersetzung mit diesen beiden Polen wirft viele Fragen auf. Dadurch wächst bei vielen Menschen – unabhängig von Alter, Gender und sexueller Orientierung – das Bedürfnis, sich selbst eine Meinung zu bilden, Macht- und Genderhierarchien zu analysieren, die gesellschaftlichen Ursachen zu benennen und Widerstand zu organisieren. Die Erfahrung, die die Mehrheit von uns mit den sexistischen Verhältnissen in der Klassengesellschaft macht, führt eine wachsende Minderheit von Menschen dazu, queerfeministische, sozialistische Schlussfolgerungen zu ziehen. Hier liegt die Bedeutung der ROSA-Kampagne, die sich das Ziel gesetzt hat, einen sozialistischen Flügel in der „neuen“ feministischen Bewegung aufzubauen.


1: FLINTA steht für Frauen, Lesben, intersex, nicht-binäre, trans und agender Personen

2: cis Männer sind Menschen, denen bei der Geburt das Geschlecht „männlich“ zugewiesen wurde und die sich damit identifizieren.