Geschichtsrevisionismus per Dekret

Verhungernde Menschen in Charkiw 1933. Foto: Alexander Wienerberger.

Der Bundestag hat beschlossen, die Hungersnot in der Sowjetunion 1932-33, in der Ukraine als „Holodomor“ – Tötung durch Hunger – bezeichnet, als Genozid zu bewerten. Der deutsche Staat folgt damit dem Standpunkt des ukrainischen Staates und einiger Historiker*innen. Damit bestimmt das Parlament, was historische „Wahrheit“ zu sein hat, ungeachtet anhaltender wissenschaftlicher Kontroversen. Tatsächlich spielen außenpolitische Interessen die entscheidende Rolle bei dieser Entscheidung.

Von Marcus Hesse, Aachen

Der Beschluss kam durch einen Antrag der Ampel-Parteien und der Union zustande. DIE LINKE enthielt sich, die AfD ebenfalls. Die nutzte ihre Redezeit für antisozialistische Hetze, aber kritisierte die antirussische Motivation des Antrags.

Im Oktober hatte die Regierung den Volksverhetzungsparagrafen §130 Strafgesetzbuch verschärft. Die „öffentliche Billigung, Leugnung beziehungsweise gröbliche Verharmlosung von Völkerstraftaten“ wird – z.B. wenn „sie geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören“ – mit ein bis drei Jahre Haft bestraft. Mit der Kombination der Strafrechtsverschärfung und dem Beschluss zur Hungersnot haben die etablierten Parteien nicht nur die historische Debatte für erledigt erklärt, sondern geben der Justiz die Möglichkeit, abweichende Meinungen mit strafrechtlichen Mitteln zu bekämpfen.

Bis zu 8 Millionen Tote

Die katastrophale Hungersnot 1932-33 traf die bevölkerungsreiche Ukraine besonders hart. Ebenso verheerend gemessen an der Gesamtbevölkerung war die Katastrophe in Kasachstan. Der Hunger traf ebenso Gebiete in Südrussland, Südsibirien und dem Nordkaukasus. Auch in der damaligen ukrainischen Sowjetrepublik war die mehrheitlich russischsprachige Region Charkiw besonders schwer betroffen. Die Todesopfer werden auf 5-8 Millionen geschätzt, wovon 3-4 Millionen in der Ukraine starben.

Die Frage des Grads der Verantwortung der sowjetischen Staatsführung für die Hungersnot ist in der Geschichtsforschung umstritten. Trotz der Öffnung der sowjetischen Archive ab 1991 konnten bislang keine eindeutigen Quellen gefunden werden, die einen gezielten Plan der „Tötung durch Hunger“ – geschweige denn eine gegen eine einzelne Ethnie gerichtete Mordabsicht ähnlich des „Hungerplans“ der späteren Nazi-Besatzer – durch die Stalinsche Führung belegen. Zweifellos trug die Politik des stalinistischen Regimes erheblich dazu bei, dass eine Kette von Missernten in einer Hungerkatastrophe endete. Unmittelbar vorangegangen war die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, die Bildung von Genossenschaften (Kolchosen) mit unzureichender Ausstattung und der staatliche Kampf gegen Bäuer*innen, die sich dem widersetzen. Dabei wurden nicht nur die reichen Bäuer*innen (Kulaken) bekämpft, sondern auch viele kleine und mittlere Bäuer*innen. Es kam in allen Agrarregionen zu hunderten regionalen Unruhen und bewaffneten Aufständen.

Viele Bäuer*innen schlachteten ihr Nutzvieh, um es nicht den Kollektiven zu überführen. Der Staat beschlagnahmte Getreidevorräte. Der von der Revolution 1917 abgeschaffte, aber 1932 wieder eingeführte Inlandspass verhinderte die Freizügigkeit der Bevölkerung: Bäuer*innen konnten damit nicht frei in die Städte abwandern, und wenn sie es doch taten, was millionenfach passierte, wurden ihnen die Lebensmittlelkarten verwehrt. All das waren politische Faktoren, die im Zuge von Missernten den Hunger von 1932-33 in Stadt und Land verschärften. In nicht-russischen Gebieten wie der Ukraine, Kasachstan oder dem Kaukasus wandte sich die Bürokratie außerdem gegen stärkere Autonomiebestrebungen. Auch viele Kommunist*innen wurden wegen angeblichen „Separatismus“ oder „Nationalismus“ verhaftet.

Bürokratische Vertuschung

Als Ende des Jahres 1932 das Ausmaß der Missernten deutlich wurde, handelte der sowjetische Staat unzureichend, ineffektiv und bürokratisch. Nicht wenige Forschungen belegen versuchte Hilfsmaßnahmen durch die Sowjetregierung.

Das wohl größte Verbrechen des Regimes war, dass es die Katastrophe vor der Weltöffentlichkeit vertuschte. Zu der Zeit, als der Hunger ausbrach, war die UdSSR im Fieber des Fünfjahresplans, verzeichnete gewaltige industrielle Wachstumsraten. Die stalinistische Propaganda feierte diese zweifellosen Fortschritte als „Sieg des Sozialismus in einem Land“, sie standen im scharfen Kontrast zu den kapitalistischen Ländern des Westens, die unter der Wirtschaftskrise litten. Zudem war gerade Hitler an die Macht gekommen.

Diese Vertuschung der Katastrophe durch das bürokratische Regime steht im scharfen Kontrast zur Politik Lenins und Trotzkis, die angesichts der ebenfalls verheerenden Hungersnot von 1921-22 das Leiden bekannt machten, um internationale Hilfe für Russland warben und humanitäre Organisationen ins Land ließen. Die Linke Opposition kritisierte in der Illegalität die katastrophale Agrarpolitik Stalins und ihre Folgen, während die stalinistische Presse und linksliberale Freund*innen des Regimes den Hunger selbst leugneten.

In den 1920er Jahren hatte Stalins Fraktion mit dem rechten Flügel der Partei um Bucharin paktiert. Das bedeutete die Förderung der Privatwirtschaft und eine Bevorzugung der wohlhabenden Bäuer*innen, die sogar Lohnarbeiter*innen ausbeuten durften. Dahingegen forderte die Linke Opposition um Trotzki höhere Steuern für die Kulaken und Hilfen für die ärmeren Bäuer*innen. Schritt für Schritt sollte die Industrialisierung gefördert werden. Stalin attackierte die Linke Opposition als „Hyperindustrialisierer“ und „Feinde der Bauernschaft“. Nachdem Stalin die Opposition zerschlagen hatte und Trotzki ins Exil geschickt wurde, änderte Stalin seine Agrarpolitik um 180 Grad. Er reagierte damit auf eine Versorgungskrise und übernahm Forderungen der Linken Opposition, aber ging weiter, als diese das jemals gefordert hatte. Höhepunkt war die Idee der vollständigen Kollektivierung der Landwirtschaft in wenigen Jahren, ohne qualitative Verbesserung der Agrarproduktion und unter Umgehung der Freiwilligkeit.

In der stalinistischen UdSSR war die Erinnerung an die große Hungersnot ein großes Tabu. Für die Bewohner*innen der betroffenen Gebiete blieb die schmerzliche Erinnerung aber lebendig. Doch die These vom Genozid des Staates UdSSR am ukrainischen Volk wurde erst lange nach Ende des Zweiten Weltkrieges durch nationalistische Exilukrainer*innen geprägt. Etwa ab den 1970ern kam die Wortneuschöpfung „Holodomor“ auf.

Zum „Holodomor“-Begriff

Dieser Begriff wurde lange Zeit nur von extrem rechten Kräften verwendet. Seit der Jahrtausendwende ging der Begriff in den allgemeinen Sprachgebrauch über. Nach und nach erließen Staaten Parlaments-Resolutionen, die die wissenschaftlich nicht klar belegbare Genozid-These übernahmen; darunter Australien, das bis heute seinen eigenen Genozid an den Abogines leugnet.

Der israelische Staat lehnt es bis heute ab, den „Holodomor“ als Genozid anzuerkennen, weil das den Holocaust an Europas Jüd*innen relativiert. Deutschland hielt sich bis 2022 auch zurück. Angesichts der Nazi-Verbrechen, des Holocausts und den Verbrechen gegen die Sowjetunion wollte man nicht in den Geruch der Relativierung und des Geschichtsrevisionismus kommen. Doch dieses Tabu ist jetzt gefallen, dem Ukraine-Krieg „sei Dank“. Unter dem Beifall des ukrainischen Ex-Botschafters Melnyk, der die Beteiligung seines Helden Bandera am Holocaust leugnet, wurde vom selben Bundestag, der sich bis 2019 weigerte, den deutschen Genozid an den Herero und Name auf dem Gebiet des heutigen Namibia anzuerkennen und bis heute keine Entschädigungen dafür zahlen will, beschlossen, dass die UdSSR die Ukrainer*innen absichtlich verhungern ließ, eben weil sie Ukrainer*in waren. Die Bundestagsresolution schreckt nicht davor zurück, den „Holodomor“ in einem Atemzug mit dem Massaker von Babyn Jar und der Aushungerung Leningrads zu nennen. Diese Geschichtsklitterung zur Förderung einer militaristische außenpolitischen Agenda stellt politisch eine neue Qualität dar.

Lesehinweise: Barbara Falk: Sowjetische Städte in der Hungersnot 1932/33, Köln 2005; Felix Wemheuer: Der Große Hunger. Hungersnöte unter Stalin und Mao, Berlin 2012.