Die Entkopplung der Weltwirtschaft: Ende einer globalen Ordnung

Die Ära der neoliberalen Globalisierung endet in der Krise. Der neue Trend: Zollschranken, De-Globalisierung, Re-Shoring. Der Ukraine-Krieg hat diesen Prozess enorm beschleunigt. 

Von Sebastian Rave, Bremen

Der Aufstieg Chinas und der gleichzeitige Niedergang der USA als Supermacht haben zu einem Wirtschaftskrieg geführt, der seit der Krise 2008 mal versteckt, mal offen ausgetragen wird. Ausländische Produktion wird mit Zöllen belegt, „heimische“ Produktion geschützt und subventioniert, oder Produktion gleich ganz in das jeweils eigene Land zurückgeholt (Re-Shoring). Besonders betroffen sind strategische Güter: Agrarprodukte, Stahl, Mikroelektronik.

Der Versuch, die heimische Produktion dieser Güter durch Schutz- und Strafzölle zu fördern, führt zu höheren Preisen, unter denen auch andere Industriezweige leiden können – das ist der Preis für den Schutz der Nation. Ford und General Motors hatten durch die 2018 eingeführten US-Zölle auf den günstigen chinesischen und europäischen Stahl zusätzliche Kosten in Milliardenhöhe. Dazu kommt eine Spirale, die in den Gang gesetzt wird: Die Europäische Stahlindustrie klagte über „erhöhten Importdruck“, weil der chinesische Stahl, der nicht mehr in die USA exportiert wurde, stattdessen in Europa verkauft wurde. Die Lösung: Europäische Schutzzölle gegen chinesischen Stahl, hergestellt in Indonesien und Indien, mittlerweile in Höhe von 40%

Quelle: https://elements.visualcapitalist.com/50-years-of-global-steel-production/

Mikroelektronik und Netzwerktechnologie

Der chinesische Technologieriese Huawei vergrößerte seinen Umsatz von 14,4 Milliarden US-Dollar 2007 auf 139,8 Milliarden US-Dollar im Jahr 2020, als Huaweis Marktanteil beim Verkauf von Smartphones erstmals den von Samsung übertraf. Huawei baut aber nicht nur Mobiltelefone, sondern vor allem Netzwerktechnologien und ist weltweiter Marktführer für den ultraschnellen Netzwerkstandard 5G. Die Antwort der USA auf den unaufhaltsamen Aufstieg des Kommunikationskonzerns: Ein Kooperationsverbot amerikanischer Firmen mit Huawei und dem zweiten chinesischen Tech-Riesen ZTE. Das betrifft nicht nur amerikanische Software – Huawei musste deswegen sein eigenes Betriebssystem entwickeln –, auch Microchips Made in USA dürfen nicht mehr von chinesischen Firmen importiert werden. 

Der chinesische Staat setzt daher mit einer Offensive auf die Erlangung von Autonomie bei der Halbleiterherstellung, um nicht mehr von Importen abhängig zu sein. Chinesische Mikrochip-Entwickler werden mit Milliarden Dollar subventioniert, denn auch die Versorgung mit Halbleitern ist eine Frage der ökonomischen und nationalen Sicherheit. Aus diesem Grund wird auch die neu entstehende „Intel Giga-Fabrik“, laut Intel die größte Chipfabrik der Welt, in Magdeburg mit kräftigen staatlichen Subventionen von mindestens fünf Milliarden Euro subventioniert. Es geht nicht nur um 10.000 Arbeitsplätze, sondern darum, die Versorgungssicherheit der deutschen und europäischen Industrie mit für eine Ökonomie mittlerweile überlebenswichtigen Mikrochips herzustellen. Und auch die US-Regierung fördert ihre Mikrochip-Industrie mit 52 Milliarden Dollar Subventionen für Produktion und Forschung. 

Zwei konkurrierende Welten

Der Aufbau paralleler Industrieproduktion, inkompatible technologische Standard und konkurrierende Zahlungs- und Währungssysteme markierenden Beginn einer wirtschaftlichen und technologischen Entkopplung, vor der auch der um seine zukünftige Bedeutung bangende Internationale Währungsfond (IWF) warnt. Das Ergebnis wären zwei Wirtschaftskreisläufe, die nicht mehr, oder nur noch wenig, miteinander verbunden sind. Langfristig stehen alle Nationen vor der Entscheidung, zu welcher Sphäre sie gehören werden. 

Das schmeckt Mittelmächten wie Deutschland nicht, für die sowohl die USA als auch China wichtige Handelspartner sind. Bis zum Ukraine-Krieg hielt Deutschland zusammen mit der  EU an einer eigenständigen Politik gegenüber den USA fest. Das in anderen Ländern erzwungene Verbot von Huawei für den 5G-Ausbau wurde in Deutschland nicht umgesetzt. Der Krieg beendete das Schwanken. Unter dem Druck der USA  lässt Deutschland seine Handelsbeziehungen zu Chinas Verbündeten Russland auslaufen. Russland wiederum wird durch die westlichen Sanktionen gezwungen, den Handel mit China zu intensivieren. Die massive Inflation bei Energie und Lebensmitteln als Folge der Sanktionen gegen Russland auch und gerade für die Länder, welche diese verhängt haben, sind ein Vorgeschmack auf das, was bei einer fortschreitenden Entkopplung der NATO-Verbündeten auf der einen Seite und China auf der anderen Seite bevorstehen würde. 

(Gar nicht mehr so) Kalter Krieg

Es wäre nicht das erste Mal, dass eng miteinander verzahnte Nationalökonomien sich plötzlich voneinander entkoppeln. Vor dem Ersten Weltkrieg waren die deutsche und die englische Wirtschaft voneinander abhängig – aber ebenfalls unversöhnliche Konkurrenten. Auch die heutige wirtschaftliche Entflechtung ist ein Ausdruck des Widerstreits zwischen den sich formierenden Blöcken, der die kommenden Jahre bestimmen wird. Der Ukraine-Krieg ist ein erster gewaltsamer Ausbruch dieser Konfrontation und wirkt wiederum als Katalysator dieses Prozesses. 

Die NATO, in der es vor dem Krieg noch kriselte, wird wieder zusammengeschweißt und nochmals erweitert. Neue Bündnisse ringen um die Hegemonie im Indo-Pazifik, einer Weltregion, in der zwei Drittel der Weltbevölkerung leben. Zu dem Sicherheitspakt AUKUS (aus Australien, UK, USA) und der „Quad“, bestehend aus Indien, Japan, Australien und den USA, gesellt sich das neue US-geführte Wirtschaftsabkommen IPEC (Indo-Pacific Economic Framework). Diese bilden das Gegengewicht zu Chinas Belt-and-Road-Initiative und neuen Sicherheitsabkommen wie mit dem pazifischen Inselstaat der Salomonen, 2000 Kilometer von der Küste Australiens. Die Reaktion Australiens auf den zunehmenden chinesischen Einfluss zeigt an, wo die Reise hingeht: „Der einzige Weg, den Frieden zu bewahren, ist, sich auf den Krieg vorzubereiten und als Land stark zu sein“, so der vorige australische Verteidigungsminister

Von der Globalisierung zum Wirtschaftskrieg

Von Seattle bis Genua protestierten zur Jahrtausendwende Hunderttausende gegen die „Globalisierung“, die grenzenlose Unterwerfung der Welt unter die Gesetze des Marktes. Das Kapital war in den 1990ern in die Offensive gegangen. Die Welt veränderte sich: Finanzmärkte wurden dereguliert, der Sozialstaat abgebaut, große Teile staatlicher Sektoren privatisiert, Industrieproduktion in Billiglohnländer unter ausbeuterischen Bedingungen verlagert. Der Handel sollte frei sein, regeln sollte nur der Markt, frei, unbeschränkt, global. Alles unter dem Motto: „Es gibt keine Alternative“. 

Das Versprechen, dass ein freier Welthandel zu mehr Demokratie, Freiheit und Frieden führen wurde – „Wandel durch Handel“ – hat sich als unwahr erwiesen. Schon im Kommunistischen Manifest schrieben Marx und Engels über die Bourgeoisie und ihren Welthandel: „Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt“. Das martialische Bild, dass Handel und Krieg in ein Verhältnis setzt, ist wie für heute gemalt. Der Welthandel ist das Schlachtfeld, auf dem sich die konkurrierenden Kapitale mithilfe ihrer Staaten bekriegen: Dazu gehören auf der einen Seite die „wohlfeilen Preise“ als die schwere Artillerie, auf der anderen Seite aber auch die aufgemotzten „chinesischen Mauern“ als Abwehrwaffen, die das jeweils heimische Kapital schützen sollen: Einfuhrbeschränkungen, Subventionen, Zölle.

Das ist die nationalistische „Alternative“ zur Globalisierung: Zwar bleiben die Finanzmärkte dereguliert, und noch nie hat sich mehr Geld in den globalen Finanzcasinos befunden wie heute – auch wenn aus einigen der größten Spekulationsblasen, wie die der Cryptowährungen, schon hörbar viel Luft entweicht. Es gibt keine Rücknahme der Privatisierungen, denn der Markt gibt ungerne her, was er sich einmal erobert hat: Transport (Lufthansa, Deutsche Bahn), Infrastruktur (Telekom, Post), Gesundheit. Aber: Das „globale“ im Markt bekommt Risse. Und das nicht erst seit der Pandemie.