Die Balkankriege 1912 und 1913 – Blutiges Vorspiel des Weltkriegs

Schon in den Jahren vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges war die Balkanhalbinsel ein Pulverfass, auf dem sich die Rivalität zwischen den europäischen Großmächten und die Nationalitätenkonflikte vor Ort blutig zuspitzte 1912 und 1913 gab es zwei Kriege um die Aufteilung der Region, bei denen sich auf allen Seiten rund 1,5 Millionen Soldaten gegenüber standen und die etwa eine halbe Million Todesopfer forderten. Hunderttausende wurden Opfer ethnischer Säuberungen. Am Ende wurde die Landkarte der Region radikal verändert. 

Von Marcus Hesse, Aachen

Die vielen Nationalitäten der Balkanregion standen zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch unter der Fremdherrschaft des Osmanischen Reiches, während im Norden die österreichische Monarchie nationale Bestrebungen unterdrückte. Im Laufe des 19. Jahrhunderts erlangten nacheinander Griechenland, Serbien, Bulgarien und Montenegro ihre Unabhängigkeit. Die Nationalbewegungen begannen als revolutionär-demokratische Aufstandsbewegungen, aber sowohl das Bürgertum als auch die Arbeiter*innenklasse waren schwach. Die rivalisierenden Großmächte, allen voran Russland, aber auch Österreich-Ungarn, Deutschland, Großbritannien und Frankreich, versuchten die Nationalbewegungen in ihrem Sinne zu manipulieren.

Besonders die russischen Zaren, die selbst nationale Minderheiten unterdrückten, verkaufte sich als Anwälte der unterdrückten slawischen Völker auf dem Balkan. Das Osmanische Reich galt als „kranker Mann am Bosporus“, der von von einer Krise zur nächsten schlitterte. Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts von nationalistischen Militärs geführte Reformbewegung der „Jungtürken“ (zwischen 1908 und 1912 an der Macht) versuchte vergeblich, die Türkei zu modernisieren.

Die Krise des Osmanischen Reiches nutzte Österreich-Ungarn 1908 aus, indem es 1908 Bosnien-Herzegowina annektierte. Während Griechenland, Montenegro, Serbien und Bulgarien sich als unabhängige Nationalstaaten etablieren konnten, standen Albaner- und Mazedonier*innen immer noch unter der Herrschaft der Osmanen. Aufstände für Unabhängigkeit wurden mehrfach unterdrückt. 1911 hatten die Osmanen in einem Krieg gegen Italien Gebietsverluste erleiden müssen und waren geschwächt. Die Jungtürkische Bewegung entwickelte sich zunehmend in eine chauvinistische Richtung und legte die liberaldemokratischen Ideen ihrer Anfangsjahre ab. 

Erster Balkankrieg: Balkanbund gegen Hohe Pforte

Die Monarchien Bulgarien, Griechenland, Serbien und Montenegro schlossen sich 1912 zu einem Pakt, dem „Balkanbund“ zusammen. Ihr gemeinsames Ziel war, sich die noch türkisch beherrschten Gebiete Europas (Mazedonien, Albanien und Thrakien) anzueignen und untereinander aufzuteilen. Auf die Interessen der dort lebenden anderen Nationalitäten wie Albaner*innen und Mazedonier*innen wurde dabei nicht geachtet. Die Staaten des Balkanbundes ordneten in ihren Staaten die Mobilmachung gegen das Osmanische Reich an. Diese bevölkerungsarmen Staaten  hoben 200.000 bzw. 150.000 und 400.000 Soldaten aus, Griechenland setzte seine hochmoderne Flotte in Bewegung.

Der Erste Balkankrieg, der im Oktober 1912 begann, endete für die türkische Armee in einer katastrophalen Niederlage: Sie verlor praktisch alle Gebiete auf dem europäischen Kontinent, bis auf den kleinen Teil, der heute noch den europäischen Teil der modernen Türkei bildet. Besonders symbolträchtig war die Eroberung der Stadt Adrianopel durch bulgarische Truppen. Die Truppen Bulgariens sahen sich kurzzeitig schon Konstantinopel nahe. Griechische Truppen eroberten die heute griechischen Gebiete Epirus und Mazedonien. Die bis dahin multikulturelle osmanische Großstadt Thessaloniki wurde griechisch.

Zur selben Zeit erhoben sich unabhängig davon die Albaner*innen. 1912 markiert den Beginn der Existenz eines albanischen Staates, der etwas mehr als die Hälfte der albanischen Nation einschloss. Das mehrheitlich albanische Gebiet Kosova wurde Teil Serbiens, was bis in die Gegenwart hinein für ethnische Konflikte sorgt. Ebenfalls unberücksichtigt blieb die Souveränität der slawischen Mazedonier*innen und Kosovar*innen, die zwischen Griechenland, Bulgarien, Montenegro und Serbien aufgeteilt wurden.

In den ersten Monaten hatte der Krieg eine große Dynamik, ab Anfang 1913 ging er in einen zähen Stellungskrieg mit verlustreichen Schlachten über, der erst im Mai 1913 durch den Frieden von London endete. Auf allen Seiten kam es zu Massakern an Kriegsgefangenen und an der Zivilbevölkerung. Unter der Vermittlung der imperialistischen Großmächte Europas wurden die Ergebnisse der Gebietsabtretungen unter den Siegermächten auf Kosten der besiegten Türken festgelegt. Die neuen Gebietsaufteilungen gingen mit massenhaften Vertreibungen und ethnischen Säuberungen einher.

Zweiter Balkankrieg: Bulgarien gegen alle anderen 

Die Siegermacht Bulgarien war mit dem Ergebnis der Aufteilung nicht zufrieden. Der Zar in Sofia und bulgarische Nationalist*innen hatten sich mehr erhofft. Zwar hatte Bulgarien jetzt einen Zugang zum Mittelmeer, aber die Hafenmetropole Thessaloniki war griechisch. Zudem beanspruchte Bulgarien einen größeren Teil vom mazedonischen „Kuchen“, der an Serbien gegangen war. Am 29. Juni 1913 griff die bulgarische Armee ohne Kriegserklärung Serbien und Griechenland an. Jetzt wechselten die Fronten bzw. mischten sich neu. Das Osmanische Reich erklärte Bulgarien den Krieg, das jetzt alleine gegen alle anderen stand. Seit Juli mischte auch Rumänien sich ein, was zur militärischen Einkreisung Bulgariens führte. Die Osmanen eroberten Adrianopel zurück, Rumänien einen Teil Bulgariens. Der zweite Balkankrieg endete schon im August 1913 durch den Friedensvertrag von Bukarest. Im Oktober schloss Bulgarien Frieden mit den Osmanen. Es behielt einen kleinen Mittelmeerzugang, aber musste empfindliche Gebietsverluste erdulden. Am Ende des Gemetzels waren ca. 600.000 Menschen tot. Hunderttausende wurden Opfer ethnischer Säuberungen und systematischer Vertreibungen, die viele Gräueltaten der Balkankriege der 1990er vorwegnahmen.

Ethnische Konflikte bis heute

Die bulgarische Bevölkerung wurde aus den türkisch gebliebenen Gebieten westlich von Konstantinopel vertrieben, türkische und muslimische Balkanbewohner*innen aus Bulgarien, Griechenland und Serbien. Den Kosovar*innen und Mazedonier*innen blieb die Selbstbestimmung versagt. Das lieferte Zündstoff für den Ersten Weltkrieg, der ein Jahr darauf begann.

1915 schloß sich Bulgarien den Mittelmächten Deutschland, Österreich-Ungarn und Türkei an, um gegenüber Serbien, Rumänien und Griechenland Revanche zu üben. Auch im Zweiten Weltkrieg stand Bulgarien an der Seite Nazi-Deutschlands. Die verlorenen Kriege brachten Bulgarien um seinen Mittelmeerzugang. Das Osmanische Reich brach nach dem verlorenen Weltkrieg zusammen, die moderne Türkei Kemal Atatürks entstand. Aus dem Königreich Serbien ging nach 1918 das serbisch beherrschte Königreich Jugoslawien hervor. Mazedonien und Kosova wurden erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts unabhängig.

1944-45 wurde Jugoslawien durch die Partisan*innen von der Nazi-Besatzung befreit. Unter Josip Broz Tito errichte der Bund der Kommunisten Jugoslawiens eine bürokratische Planwirtschaft nach dem Modell der Sowjetunion, lavierte aber schon nach wenigen Jahren politisch und wirtschaftlich zwischen den Blöcken. Tito experimentierte unter einer bürokratischen Ein-Partei-Herrschaft mit  begrenzter „Arbeiterselbstverwaltung“ und Marktelementen. Im bis in die 1980er Jahre anhaltenden Aufschwung des Landes wurden die ethnischen Konflikte entschärft, teilweise aber nur verdeckt. 1991 brachen sie wieder in aller Schärfe aus. Die regionalen Bürokratien wurden zu kapitalistischen Besitzer*innen und nutzten die Spannungen zwischen den Völkern, um ihre Pfründe zu sichern. Das zerfallende Jugoslawien versank in blutige Bürgerkriege mit neuen ethnischen  Säuberungen.

Der 1912 im Wiener Exil lebende russische Revolutionär Leo Trotzki, der über enge Kontakte zu revolutionären Sozialist*innen in Rumänien und Bulgarien um Christian Rakowski verfügte, schrieb damals als Journalist und Korrespondent einer sozialistischen Zeitung aus Kiew. 1996 wurden seine Schriften zu den Balkankriegen in Deutschland neu herausgegeben. Am 8. Juli 1913 schrieb er über den Bukarester Frieden, der den Zweiten Balkankrieg beenden sollte, diese fast prophetisch klingenden Worte: 

„Was die neuen Grenzlinien auf der Balkanhalbinsel betrifft – unabhängig davon, wie lange sie Bestand haben werden –, so muß man konstatieren, daß sie alle durch den lebendigen Körper der ausgepumpten, ausgebluteten und zerfleischten Nation gehen. Jeder Balkanstaat […], hat nun in seinen Grenzen eine kompakte Minderheit, die ihm feindlich gegenübersteht. […] Von den grundlegenden Entwicklungsproblemen des Balkans wurde kein einziges gelöst. Die ökonomische Entwicklung verlangt eine Zollunion als ersten Schritt zu einer Föderation aller Balkanländer, Anstelle dessen stoßen wir aber auf Feindschaft jedes einzelnen Landes gegen alle anderen. […] Der Bukarester Frieden […] ist die würdige Krönung eines Krieges der Gier und des Leichtsinns. Er ist die Krönung des Krieges, aber nicht dessen Ende. Dieser Krieg, der eingestellt wurde, weil die Kräfte völlig aufgebraucht waren, wird wieder aufflammen, sobald frisches Blut in den Arterien fließt.“

Lesetipp

Leo Trotzki: Die Balkankriege 1912–1913. Arbeiterpresse-Verlag, Essen 1996.

ISBN 978-3-88634-058-3 (585 S., russisch: Балканы и Балканская война. Sowjetunion 1926. Übersetzt von Hannelore Georgi und Harald Schubärth).

Foto: Sp. Markezinis, Public domain, via Wikimedia Commons