NATO-Mitglied bombardiert kurdische Gebiete im Irak

Seit dem 18.4. greift das NATO-Mitglied Türkei mit Drohnen, Bomben und Bodentruppen Stellungen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) und Flüchtlingslager im irakischen Teil Kurdistans an. Da die irakische Regierung die Invasion ablehnt, verstößt Erdoğans Regime gegen das bürgerliche Völkerrecht. Die NATO-Staaten schweigen, in deutschsprachigen Medien wird wenig berichtet.

Von Thies Wilkening, Hamburg

Erdoğan nutzt den Ukraine-Krieg, um seinen Krieg gegen die Kurd*innen weitgehend unbemerkt von der internationalen Öffentlichkeit fortzusetzen, der neben massiver Repression im türkischen Teil Kurdistans auch die militärische Besatzung von Teilen von Syrisch-Kurdistan (Rojava) umfasst. Unterstützt wird er dabei vom in der autonomen Region (Irakisch-)Kurdistan herrschenden Barzani-Clan, der sich vom Kampf gegen die PKK eine Stabilisierung der eigenen Herrschaft erhofft.

Zweierlei Maß

Während über den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine in bürgerlichen Medien breit berichtet wird, die EU im Gegensatz zu ihrer sonst üblichen Politik Millionen Geflüchtete aufnimmt und die NATO-Staaten Russland sanktionieren und Waffen an die Ukraine liefern, gibt es auf Erdoğans Feldzug kaum Reaktionen. Weder Annalena Baerbock noch US-Außenminister Blinken haben sich geäußert. Anfang März twitterte Baerbock nach einem Treffen mit dem türkischen Außenminister Cavusoğlu „Danke für unsere starke deutsch-türkische Partnerschaft. In der Russland-Krise stehen wir zusammen!“. Könnte auch interpretiert werden als: „Macht mit den Kurd*innen, was ihr wollt.“

Im Kampf gegen den sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) hatten die USA noch mit den kurdischen Milizen YPG, YPJ und YBŞ zusammengearbeitet, die von der Türkei als Teil der PKK betrachtet werden. Nach der erfolgreichen Verteidigung Rojavas agierten die Milizen bei der Zerschlagung des IS in Nord- und Ostsyrien als Bodentruppen der US-geführten Offensive. Sobald der IS besiegt war, ließen die USA ihre einstigen Verbündeten umgehend fallen und erlaubten Erdoğan, in zwei Angriffskriegen 2018 und 2019 große Teile Rojavas zu besetzen. Formal werden die besetzten Gebiete von syrischen islamistischen Milizen kontrolliert, deren Verhältnis zur Türkei dem der „Volksrepubliken“ im Donbass zu Russland ähnelt. Seit der Besetzung werden dort zuvor in die Türkei geflohene Syrer*innen angesiedelt, Kurd*innen wurden vertrieben.

Imperialismus statt „Werte“

Wahrscheinlich steht ein weiterer türkischer Angriff auf Rojava bevor, Erdoğan hat angekündigt, er wolle in Syrien „die Köpfe der Terrorganisation zermalmen“, was ein Vorwand für die Eroberung weiterer Gebiete sein wird. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die USA oder andere NATO-Staaten versuchen würden, die Türkei daran zu hindern. Es werden keine Sanktionen verhängt, Erdoğan wird nicht zur Ausgeburt des Bösen oder zum Faschisten ernannt. Die Türkei erhält weiterhin Waffen.

Die Türkei ist als Industrieland mit großer und gut ausgerüsteter Armee für die NATO als Handelspartner und Verbündeter nützlicher als die deutlich kleineren und armen kurdischen selbstverwalteten Gebiete und hindert zudem Millionen von Geflüchteten an der Ausreise nach Europa. Dagegen fallen das Recht auf Selbstbestimmung der Kurd*innen, die Menschenrechte der kurdischen Bevölkerung oder die völkerrechtliche Oberhoheit der machtlosen irakischen Regierung über Irakisch-Kurdistan nicht ins Gewicht. Die Funktion der NATO ist eben nicht die Verteidigung „westlicher Werte“, sondern die Wahrung imperialistischer Interessen der USA und der anderen Mitgliedstaaten.