Milde für Reiche – Knast für Arme

Ronen Steinke: „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich – Die neue Klassenjustiz“ 

Rezension von Thies Wilkening, Hamburg

Wer in Bus oder Bahn ohne Fahrschein erwischt wird und 60€ „erhöhtes Beförderungsentgelt“ nicht zahlen kann, wird vom Verkehrsverbund wegen „Erschleichen von Leistungen“ angezeigt. Dafür verhängt die Justiz in der Regel eine Geldstrafe, die, wer schon die 60€ nicht hatte, meist auch nicht bezahlen kann. Alternativ kann die Strafe abgearbeitet werden. Menschen, die wegen einer psychischen oder körperlichen Krankheit nicht arbeiten können, bleibt nur die „Ersatzfreiheitsstrafe“ – sie kommen ins Gefängnis, im Durchschnitt für 40 Tage. Mehrere zehntausend Menschen landen so jedes Jahr in Haft.

Ein Tag Knast für 5 Euro 

In Berlin-Plötzensee gibt es ein ganzes Gefängnisgebäude ausschließlich für solche Ersatzfreiheitsstrafen. Neben Schwarzfahrer*innen sitzen dort Menschen ein, die zum Beispiel betrunken mit dem Fahrrad einen Unfall gebaut haben oder unter dem Druck der Sucht regelmäßig eine Flasche Wodka klauen. Ronen Steinke berichtet in seinem Buch über diese Menschen. Mit jedem Tag Haft verringert sich die noch ausstehende Geldstrafe um einen Tagessatz, der einem Drittel des monatlichen Einkommens entspricht – bei Menschen, die Hartz IV bekommen, also je nach Berechnungsweise 5-15€. Solch eine Geldsumme ersetzt also einen Tag Haft, der den Staat mehr als das Zehnfache kostet. Wenn die Ärmsten der Armen bestraft werden, geht es offensichtlich nicht um volkswirtschaftliche Schäden, sondern ums Prinzip.

Begeht ein Manager im Job für seinen Konzern Straftaten, kann ihm die Strafe ganz legal vom Unternehmen ersetzt werden. Das Unternehmen setzt diese Betriebsausgabe dann von der Steuer ab, wie die 4,5 Millionen Euro, die der VW-Chef im Rahmen eines Deals mit der Staatsanwaltschaft wegen des Diesel-Skandals zahlen musste.

Auch bei regulären Haftstrafen sind nicht alle gleich.

Wie lang genau eine Strafe ausfällt und ob eine Haftstrafe unter zwei Jahren abgesessen werden muss oder zur Bewährung ausgesetzt wird, legen Richter*innen individuell fest. Dabei wird weniger hart bestraft, wer in „geordneten Verhältnissen“ lebt und „viel zu verlieren“ hat und härter, wer ein „chaotisches“ Leben führt und arbeits- oder wohnungslos ist. Arbeits- und Wohnungslosigkeit sind auch für Haftrichter*innen ein Anlass, Menschen schon vor dem eigentlichen Strafprozess wegen „Fluchtgefahr“ in Untersuchungshaft zu stecken. Nur 3% aller Beschuldigten kommen in U-Haft, von ihnen sind 61% arbeitslos, die Hälfte wohnungslos. Reiche hingegen können sich, wie einst Uli Hoeneß, die U-Haft durch Hinterlegen einer Kaution ersparen.

Wie Rassismus und Armut zusammenspielen zeigt das Buch am Beispiel von zwei Fällen, in denen es um die noch immer verbotene Massendroge Cannabis geht. Ein Geflüchteter aus Gambia wurde wegen des Verkaufs von 0,7 Gramm zu 100 Tagessätzen verurteilt, konnte nicht zahlen und landete in Ersatzhaft, während ein Weißer, der beim Gras kaufen erwischt wurde, nur als Zeuge vorkommt – sein eigenes Strafverfahren wurde wegen Geringfügigkeit eingestellt.

Klassenjustiz in einer Klassengesellschaft 

Die Sammlung von Statistiken und Beispielen für die Ungleichbehandlung durch die deutsche Justiz liest sich spannend und flüssig, in den umfangreichen Endnoten finden sich Belege und weitere Hintergrundinformationen. Weniger überzeugend sind Steinkes politische Einschätzungen. Obwohl der Begriff im Untertitel vorkommt, möchte der Autor, Redakteur der Süddeutschen Zeitung, eigentlich nicht von „Klassenjustiz“ sprechen, und versucht das Problem in der Einleitung auf individuelle „Mentalitäten“ von Richter*innen und Staatsanwält*innen zu reduzieren.

Natürlich ist im einzelnen Prozess die persönliche Weltsicht der Richter*in und der Staatsanwält*in von großer Bedeutung. Die interessantere Frage ist aber, warum wir in einer Gesellschaft leben, in der überwiegend Menschen Richter*innen und Staatsanwält*innen werden, die eine Mentalität haben, die die Armen benachteiligt und die Reichen schont. Die Antwort ist einfach: Wir leben in einer Klassengesellschaft und eine Klassengesellschaft schafft sich eine Klassenjustiz, die ihre Interessen vertritt – auch wenn der Autor das nicht offen aussprechen möchte. 

Berlin Verlag; 272 Seiten, € 20,00; EAN 978-3-8270-1415-3

Bild: http://uptothepoint.com, Judiciary logo, CC BY-SA 3.0