Massaker und Nazi-Vergleiche

Während die russische Propaganda die Kriegsverbrechen in Butscha, Mariupol und anderen Orten erwartbar als Fake-News bezeichnet, reden die ukrainische Regierung und mit ihr viele Medien und Politiker*innen in NATO-Staaten von einem „Vernichtungskrieg“, von „Genozid“, von dem Beweis, dass Putin „so gefährlich ist wie Hitler“.

Von Sebastian Rave, Bremen

Hitler-Vergleiche sind selten gut, in diesem Fall sind sie eine Relativierung des Nazi-Terrors, der alleine in der Ukraine sieben Millionen Menschenleben kostete, darunter eine Million Jüd*innen. Viel eher können die Verbrechen mit dem Massaker von My Lai im Vietnamkrieg verglichen werden, bei dem US-Soldat*innen 504 Zivilist*innen in einem Dorf ermordeten. Die Belagerung und Zerstörung Mariupols erinnert an die Zerstörung der Stadt Falludscha im Irak-Krieg. Deren Bewohner*innen hatten 2004 einen lokalen Aufstand gegen die amerikanische Besetzung gestartet, den die US-Armee mit Streubomben, giftigem weißen Phosphor und Uranmunition niederschlug, wobei große Teile der Stadt zerstört wurden und Hunderte Zivilist*innen starben. 

Der Nazi-Vergleich hat die Funktion, alle Bedenken zu zerstreuen, dass man solche „Monster“ nur mit Waffengewalt stoppen könne. Das war schon 1999 so, als der damalige Außenminister Joschka Fischer (Grüne) die angebliche Notwendigkeit des ersten Kriegseinsatzes der Bundeswehr seit 1945 mit „Nie wieder Auschwitz“ begründete. Deutsche Tornados bombardierten die damals jugoslawische, heute serbische Hauptstadt Belgrad, von der Lüge begleitet, die jugoslawische Armee würde im Kosovo einen Völkermord begehen. Auch heute sind die Grünen die entschlossensten Befürworter*innen des Krieges. 

Falsche Freund*innen

Wir sind gegen Waffenlieferungen – nicht, weil wir insgeheim Freund*innen des russischen Präsidenten sind, der unsere gegen den Krieg protestierenden Genoss*innen ins Gefängnis steckt, sondern weil dieser Krieg zwei Ebenen hat. Die erste Ebene ist der imperialistische Überfall Russlands auf die Ukraine und der gerechtfertigte Widerstand der Menschen in der Ukraine dagegen. Die zweite Ebene ist der geopolitische Konflikt zwischen der NATO auf der einen und Russland (und im Hintergrund China) auf der anderen Seite.

Die NATO-Verbündeten haben der Ukraine einen finanziellen und militärischen Blanko-Scheck gegeben, um stellvertretend für sie Russland eine blutige Nase zu geben. Jeder Panzer, der von der NATO in die Ukraine geliefert wird, wird nicht dorthin geschickt, um die ukrainischen Zivilist*innen zu schützen, sondern um den imperialistischen Konkurrenten Russland militärisch und damit auch ökonomisch zu schwächen. Dieses riskante Spiel über Bande treibt die Welt an den Rand einer bislang unvorstellbaren Eskalation. 

Viele von denen, die sich jetzt moralisch aufplustern, die Gegner*innen von Waffenlieferungen „Lumpen“ (Lobo auf Spiegel Online) oder „Putins fünfte Kolonne“ (FDP-Graf Lambsdorff) nennen und es so darstellen, als lägen ihnen nur die Menschen in der Ukraine am Herzen, weisen den Ukrainer*innen eine passive Rolle zu. Diese sollen mit Hilfe „unserer“ Waffen das Kanonenfutter sein, um Russland eine Niederlage zuzufügen.

Ära der Unordnung

Ein Blick in den Nordirak reicht, um zu verdeutlichen, dass die NATO kein Friedensbündnis ist. Dort bombardiert die Armee des Autokraten Erdogan kurdische Gebiete. Im Schatten des Ukraine-Krieges verschärfen sich weitere Konflikte: Chinesische Fregatten führen eine Militärübung in der Nähe Taiwans durch, zwischen Pakistan und Afghanistan gibt es neue Spannungen. 

Diese neue „Ära der Unordnung“, wie sie die Deutsche Bank vor einem Jahr bezeichnete, der durch die Krise des Kapitalismus verschärfte Konkurrenzkampf, ist der Hintergrund für die Aufrüstung der Bundeswehr mit einem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro und der Aufstockung des Etats auf 2% des Bruttoinlandproduktes. Das ist sehr viel Geld, das dringend anderswo gebraucht wird: Für die Umstellung von Produktion, um das Klima zu retten, für das Gesundheitswesen, in dem immer noch Personalmangel herrscht, für den Bau von bezahlbarem Wohnraum. Dass im Kapitalismus die Prioritäten anders gesetzt werden, ist nur ein weiteres Argument für die Notwendigkeit der Überwindung dieses Systems.

Foto durch Cory Doctorow