Radikalfeminismus – Eine marxistische Kritik

Sozialistischer, queerinklusiver Feminismus statt Transfeindlichkeit – Reihe
Angesichts der Transfeindlichkeit, etwa der bürgerlichen Feminist*innen von der EMMA und anderer, auch mancher Linker, wollen wir uns hier in einer Reihe von Artikeln damit auseinandersetzen, was mit TERFs nicht stimmt, woher ihre falschen Positionen kommen und wie eine marxistische Perspektive zu einem sozialistischen und queerinklusiven Feminismus führt, der für die Befreiung aller Geschlechter kämpft.

Die Anfänge des „Radikalfeminismus“

Der Radikalfeminismus ist eine feministische Strömung, die sich in den 1960er Jahren in den USA entwickelt hat. Frühe Vertreterinnen dieser Strömung, wie die Autorin des Buchs „Der Weiblichkeitswahn“, die US-Amerikanerin Betty Friedan, sprachen sich noch für die aktive Einbeziehung der Männer in den Kampf für die Emanzipation der Frau aus, wurden aber schnell zu Außenseiterinnen in feministischen Kreisen.

Bürgerliche Radikalfeminist*innen forderten bald, den Klassenkampf durch Geschlechterkampf zu ersetzen. Dieser Ansatz war nicht völlig neu. Bereits in der ersten Frauenbewegung waren viele bürgerliche Feminist*innen nur zu gerne bereit, zum Beispiel die Forderung nach dem Wahlrecht Schwarzer Menschen in den USA oder die Abschaffung des Klassenwahlrechts in Deutschland, das nur Menschen mit einem bestimmten Einkommen ein Stimmrecht zusprach, aufzugeben, wenn Männern und Frauen eine rechtliche Gleichstellung in ökonomischer Ungleichheit zugesprochen würde – auch wenn sie damit auch die Mehrheit ihrer rassistisch diskriminierten Schwestern und alle Arbeiter*innen weiter zu politischer Sprachlosigkeit verdammten.

Das liegt daran, dass Radikalfeminist*innen die Unterdrückung der Frau durch den Mann für die Quelle allen sozialen Übels halten.

Privateigentum und Frauenunterdrückung

Sie glauben, dass Frauen in allen bisherigen Gesellschaftsformen von Männern unterdrückt wurden. Daher halten sie die Unterdrückung der Frau für die ursprünglichste und grundlegendste aller Unterdrückungsformen. Marxist*innen sehen das anders. Sie gehen – basierend auf den wenigen, wissenschaftlichen Erkenntnissen, die wir über die Gesellschaft der Altsteinzeit gewinnen können – davon aus, dass der Beginn der systematischen, gesellschaftliche Unterdrückung der Frau unmittelbar mit der Entstehung des Privateigentums verknüpft ist. Das Privateigentum entstand, nachdem die Menschen in der Jungsteinzeit vor frühestens 15.000 Jahren sesshaft wurden und begannen, Ackerbau und Viehzucht zu betreiben. In den über 300 000 Jahren vorher lebten unsere Vorfahren als nomadische Wildbeuter*innen oder „Jäger*innen und Sammler*innen“ in relativ kleinen Gruppen zusammen. Sie sammelten essbare Pflanzen und Tiere, z.B. Nüsse und Muscheln, jagten und fischten. Vorräte anzulegen und Überschüsse anzuhäufen, war weder möglich, noch wäre es sozial vorteilhaft gewesen.

Wildbeuter*innengesellschaften, die bis in Zeiten überlebten, aus denen wir schriftliche Zeugnisse haben, zeigen nicht selten eine gesellschaftliche Arbeitsteilung, die mit dem Geschlecht oder zumindest mit der Mutterschaft zusammenhängt. Im Allgemeinen gilt: Wo allein oder in Kleingruppen größere Tiere gejagt werden oder Hochseefischerei betrieben wird, wird diese Arbeit meist von Männern erledigt, während Frauen (oder jedenfalls Mütter), Kinder und alte Menschen Pflanzen und Tiere sammeln, in Ufernähe fischen und Kleintiere jagen. Fest steht, dass die Formen von Jagd und Fischfang, die überwiegend von Männern übernommen wird, nur unter sehr speziellen Umweltbedingungen einen relevanten Teil zur Versorgung der Gruppe beitragen kann. Eine Abhängigkeit eines Geschlechts von dem Anderen konnte so ebenso wenig entstehen, wie eine Hierarchie zwischen den Geschlechtern.

Dies änderte sich mit der Einführung der Landwirtschaft und dem Übergang zur Sesshaftigkeit. Zum ersten Mal in der Geschichte konnten nun Überschüsse produziert und über längere Zeiten angehäuft werden. Dadurch wurden Menschen zu Arbeitskräften, denn es wurde möglich, andere Personen dauerhaft zum eigenen Vorteil auszubeuten. Mit einer wachsenden, sesshaften Bevölkerung nahmen gewaltsame Konflikte sprunghaft zu. Kinder konnten besonders leicht ausgebeutet, geraubt und kontrolliert werden. Mütter bzw. potentielle Mütter, also Frauen, wurden von gleichberechtigten Mitgliedern der Gemeinschaft zu Produzent*innen von Arbeitskräften, die sich andere aneignen konnten, um den eigenen Wohlstand zu mehren. Bei der Entstehung der ersten Klassengesellschaften, die auf Sklaverei beruhten, waren Frauen und Kinder die ersten Verlierer*innen. Die Geburtsstunde der Klassengesellschaft war daher zugleich die Geburtsstunde des Patriarchats.

Unbezahlte Hausarbeit im Kapitalismus

Auch der moderne Kapitalismus ist eine Klassengesellschaft. Auch sein Fundament ist daher kein Geschlechterwiderspruch, sondern ein Klassenwiderspruch. Wie in allen Klassengesellschaften befinden sich auch im Kapitalismus die Produktionsmittel im privaten Besitz einer Minderheit. Die Mehrheit der Menschen besitzt keine Mittel, um selbst zu produzieren. Sie muss den Besitzer*innen der Produktionsmittel ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen, um im Gegenzug zu erhalten, was sie zum Überleben braucht. Der Wert dessen, was die Mehrheit so täglich produziert, übersteigt  den Wert dessen, was die Kapitalbesitzer*innen für die geleistete Arbeit zahlen. Die Differenz, der sogenannte Mehrwert, landet in den Taschen der Kapitalist*innen und vergrößert so täglich die Schere zwischen Arm und Reich.

Im Kapitalismus ist auch die Arbeitskraft eine Ware, die gehandelt wird. Wie jede andere Ware muss Arbeitskraft eingesetzt werden, um sie zu produzieren: Um arbeitsfähig zu sein, muss ein Mensch geboren, großgezogen, ausgebildet und unter anderem mit Essen versorgt werden. Wenn er krank ist, benötigt er Pflege usw. Das erfordert Arbeit. Ein Großteil dieser Arbeit wird traditionell noch immer unbezahlt erledigt – überwiegend von Frauen.

Würden (vor allem) Frauen diese Dienstleistungen nicht umsonst erledigen, müssten die Kapitalist*innen dafür Geld aufwenden. Das wäre teuer und würde die Profite verringern. Erhielten die Frauen und Mädchen für die mindestens 12 Milliarden Stunden unbezahlte Care-Arbeit, die sie jeden Tag leisten, den Mindestlohn, wären das 11 Billionen US-Dollar (vgl. Oxfam). Kapitalismus bedeutet Ausbeutung der Mehrheit durch eine Minderheit. Das funktioniert nur, solange die Mehrheit sich nicht gemeinsam zur Wehr setzt. Durch die Aufrechterhaltung politischer und sozialer Unterschiede zwischen Männern und Frauen entsteht die Illusion, Arbeiterinnen und Arbeiter hätten ungleiche Interessen. So wird gemeinsamer Widerstand verhindert. Radikalfeminist*innen sind beispielhaft dafür, wie diese Spaltung der Arbeiter*innenklasse gelingt.

(K)ein Feminismus ohne Klassenperspektive 

Radikalfeminist*innen betrachten nicht Klassen in ihren ökonomischen Funktionen, sondern Identitäten. Diesen „Identitäten“ wird ein inhärenter und unveränderlicher politischer Charakter beigemessen.  Auf dieser Grundlage definiert der Radikalfeminismus alle Männer als den politischen Feind. Die daraus resultierende politische Praxis zeigt sich beispielsweise in geschlechtergetrennten Demo-Blocks. Am 8. März 2021 folgten zum Beispiel in Katalonien Millionen Arbeiter dem Aufruf zum Streik für Frauenrechte. Radikalfeminist*innen lehnten dies ab und vertraten die Position, dass die Männer weiter arbeiten sollten, während die Frauen alleine streiken. Ihre identitätspolitische Analyse lässt sie missachten, dass die Interessen einer Arbeiterin denen eines Arbeiters stärker ähneln, als der einer Frau der bürgerlichen Klasse. Auch wird übersehen, dass ein Arbeiter nur Geringfügiges durch die Unterdrückung der Frau gewinnt. Wer tatsächlich profitiert ist die herrschende Klasse.

Gemessen an seiner praktischen und theoretischen Effektivität bezüglich der Frauenbefreiung ist Radikalfeminismus also alles in allem schlicht „schlechter Feminismus“.

Weder das Patriarchat, noch andere Unterdrückungsformen (wie zum Beispiel Rassismus) sind die Folge einer „unterdrückerischen Identität“ der sozial dominanten Gruppe, sie sind vielmehr die Folge der wirtschaftlichen Ausbeutung einer Mehrheit durch eine Minderheit. 

Deshalb kann das Patriarchat nicht zerschlagen werden, während die Klassengesellschaft  Kapitalismus unversehrt bleibt. Wie alle Klassengesellschaften vor ihm, hat sich der Kapitalismus in Abhängigkeit von den wirtschaftlichen Vorteilen begeben, die er aus der Unterdrückung der Frau generiert. Er braucht die Spaltung der ausgebeuteten Klasse, um seine Herrschaft aufrecht zu erhalten. Zudem wäre für die Mehrheit der Frauen wenig gewonnen, wenn alleine das Patriarchat abgeschafft würde. Der Klassenwiderspruch wie auch andere Unterdrückungsformen wie Rassismus und Queerfeindlichkeiten bestünden schließlich fort.  

Radikalfeminismus ist deshalb keine politische Strategie für die Mehrheit der Frauen und genderqueeren Personen der Arbeiter*innenklasse.

Sozialistischer, queerinklusiver Feminismus statt Transfeindlichkeit

Teil 1: Weiblich, männlich oder was
Teil 2: Was ist transgender und warum? – Eine marxistische Definition
Teil 3: Radikalfeminismus – Eine marxistische Kritik
Teil 4: Was ist TERF und warum ist das „schlechter Feminismus“?