Bereitschaft zur Massenvernichtung – eine politische Geschichte der Atombombe

Putins Ankündigung, Russlands atomare „Abschreckungswaffen“ in Alarmbereitschaft zu setzen, hat in der Welt die Angst vor einem nuklear geführten Weltkrieg wieder verstärkt. Auch die NATO rüstet atomar auf. Das Bewusstsein für diese Gefahr war im Kalten Krieg allgegenwärtig, nun kehrt es zurück, in einer Epoche der Zuspitzung imperialistischer Konflikte. 

von Marcus Hesse, Aachen

In den bürgerlichen Medien und der Propaganda westlicher Regierungen dominiert das Narrativ, die Welt müsse nur dann zittern, wenn Massenvernichtungswaffen in die Hände einzelner „irrer“ Diktator*innen geraten. Doch gerade Atomwaffen begannen ihre Geschichte als Monopol des demokratischen US-Imperialismus, der als bisher einziger Staat in der Weltgeschichte zwei Atombomben abgeworfen hat, im Zweiten Weltkrieg auf zwei bewohnte Städte in Japan.

Zu Beginn des Kalten Krieges gegen die Sowjetunion setzten die USA und ihre Verbündeten darauf, mittels Atomwaffen gegen die überlegene,  konventionelle militärische Kraft der Sowjetunion vorzugehen. Diese Doktrin, die ausdrücklich die Option des nuklearen Erstschlags bei Unterlegenheit im konventionellen Krieg beinhaltet, wurde ab den 1950ern auch vom Verteidigungsbündnis NATO übernommen. Dabei gelang es der UdSSR ab 1949 ebenfalls, Atomwaffen zu produzieren, womit die USA die Möglichkeit verloren hatten, Atomwaffen einzusetzen, ohne selbst einen vernichtenden Gegenschlag erwarten zu müssen.

Teil der Militärdoktrin

Trotz der Bewaffnung beider Blöcke ist erschreckend, wie selbstverständlich der Einsatz strategischer und taktischer Nuklearwaffen für NATO und Warschauer Pakt bald wurden. Die Überlegungen gingen von einem begrenzten und kontrollierbaren Einsatz aus, wie ihn beispielsweise im Korea-Krieg der US-Militärbefehlshaber General MacArthur und andere hohe Militärs unverhohlen forderten. Präsident Eisenhower lehnte das jedoch ab.

Später  ergänzte man die von Flugzeugen abzuwerfenden Atombomben durch interkontinentale Fernraketen, die von jedem beliebigen Punkt der Erde aus abgefeuert werden können. Die NATO-Staaten Europas wurden so zu Raketenabschussstationen. Bei den Verhandlungen über die Reduzierung von Atomraketen in den 1970er und 80er Jahren weigerten sich die USA, einen von der Sowjetunion beidseitig geforderten Erstschlagsverzicht in ihre Militärdoktrin einzubauen. Anfang der 1960er zündete die Sowjetunion bei einem Atomtest auf der Nordmeerinsel Nowaja Semlja die bisher größte Wasserstoffatombombe aller Zeiten. Die USA entwickelten im Gegenzug die Neutronenbombe, die nur organisches Leben vernichtet, aber Häuser, Maschinen und Infrastruktur intakt lässt – eine alptraumhafte Waffe, aber sehr im Sinne kapitalistischer Interessen. Militärs erwogen zeitweise, sie in Vietnam einzusetzen, was Präsident Johnson aus Angst vor Protesten weltweit ablehnte.

Im Laufe der Jahrzehnte weitete sich der Kreis der Atommächte aus: Im Rahmen der NATO legten sich Großbritannien und Frankreich Atomwaffen zu, dann Maos China, welches ab Mitte der 1960er Jahre in Konkurrenz zum Westen und der Sowjetunion trat. Ende  des Jahrzehntes sollte der Atomwaffensperrvertrag die Zahl der Atommächte begrenzen. Doch von kleineren Akteuren wurde er umgangen.

Mitte der 1980er wurde bekannt, dass auch Israel über Atomwaffen verfügt. Das Land hatte die Technologie dazu in enger wissenschaftlich-technischer Zusammenarbeit mit dem damaligen Apartheidsregime in Südafrika entwickelt. Die gemeinsame Frontstellung gegen antikoloniale Befreiungsbewegungen im arabischen und afrikanischen Raum brachte beide Staaten in der Rüstungskooperation zusammen. Mit den späteren Atommächten Indien und Pakistan stehen sich zwei Feinde direkt gegenüber, die sich schon öfter Grenzkonflikte lieferten. Zuletzt kam Nordkorea dazu. 

Die Irren mit der Bombe

In Zeiten internationaler Spannungen gehört es zur Methode der Atommächte, ihre Nuklearstreitkräfte in Alarmbereitschaft zu versetzen. Das verkürzt die Entscheidungswege, um schneller Atomraketen abzufeuern. Besonders problematisch wird das bei Fehldeutungen und Fehlalarmen, wie 1983: Bei einem sowjetischen Fehlalarm (gemeldeter Erstschlag) wurde offenbar nur deshalb nicht zurückgeschossen, weil der verantwortliche Befehlshaber den Befehl verweigerte (wofür er disziplinarisch belangt wurde!).

Dreißig Jahre vor Trump scherzte US-Präsident Reagan, zum Zeitpunkt der höchsten Spannungen und als der Warschauer Pakt seine Raketen ohnehin in höchster Alarmbereitschaft hatte, vor laufenden Kameras vor einer Ansprache: „The bombing of Russia begins…now!“

Erstschlagsdoktrinen sind bis heute nicht aus den Militärdoktrinen des Westens verbannt. Russland hatte 1997 den noch von der Sowjetunion erklärten Verzicht auf Nuklearwaffenersteinsatz aufgekündigt (Feiveson, Hagendoorn in: Nonproliferation Review, 10(2),2003). Ob solche Erklärungen im Ernstfall das Papier wert sind, auf dem sie stehen, ist eine andere Frage. Aber dass Großmächte nicht einmal theoretisch bereit sind, auf den Ersteinsatz von Atomwaffen zu verzichten, sagt genug aus. 

Die NATO hat ihre Nuklearstrategie 2010 zuletzt erneuert und bekräftigt und sich selbst als „Nuklear-Allianz“ definiert. 

Deutschlands Herrschende – gerne dabei

Nach seiner Niederlage im Zweiten Weltkrieg darf Deutschland keine Atomwaffen besitzen. Bis heute aber ist Deutschland Standort für amerikanische Nuklearwaffen, aktuell noch am Fliegerhorst Büchel in der Eifel.  Sie wurden zuletzt noch 2020 modernisiert. Die NATO definiert diese Präsenz von Atomwaffen in Europa bis heute als „nuklearen Schutzschild“. Tatsächlich macht er die Gebiete zu Angriffszielen. Bundesdeutsche Politiker*innen, wie der CSU-Mann Strauß, forderten in den 1950ern vehement eine eigene Atombewaffnung für die BRD. Das lehnten die USA jedoch ab. Aber die Atomteilhabe führte auch schon damals  zu einer breiten Massenbewegung von Arbeiter*innen und Jugendlichen auf den Straßen, die sich unter der Losung „Kampf dem Atomtod“ nicht in einen Dritten Weltkrieg reißen lassen wollten. Im Oktober 1962 führte die sowjetische Stationierung von Atomraketen auf Kuba und das Ultimatum der USA, die eine Seeblockade verhängt hatten, beinahe zu einem nuklearen Weltkrieg. Abgewendet wurde dieser durch einen Deal zwischen Kennedy und Chruschtschow, der einem Abzug der sowjetischen Raketen von Kuba im Austausch gegen einen Abzug von US-Raketen aus der Türkei zustimmte. Der damals 86-jährige CDU-Bundeskanzler Konrad Adenauer, der als Ikone der bundesdeutschen bürgerlichen Demokratie gilt, hielt laut „Der SPIEGEL“ vom 1.11.1987 die Krise für „eine Chance, dem Bolschewismus eine Niederlage beizubringen“. Er kritisierte Kennedy als „nicht energisch genug“ und forderte eine Invasion und Bombardierung Kubas, denn ein Krieg könne „Deutschland nichts anhaben“ (SPIEGEL 45/1987).

Trotz der propagierten Entspannungspolitik in den 1970ern erwies sich auch die SPD-geführte sozialliberale Regierung als NATO-treu und militaristisch. So setzte Bundeskanzler Helmut Schmidt den NATO-Doppelbeschluss zur Stationierung amerikanischer Pershing2-Raketen gegen massive Widerstände durch. Das führte 1982-83 in Westdeutschland zur größten Friedensbewegung der Nachkriegszeit, 1983 gingen bis zu  einer Million Menschen dagegen auf die Straße.

Die jüngste Entscheidung der Bundesregierung sieht vor, die Luftwaffe mit atomwaffenfähigen Kampfflugzeugen auszustatten, die im Rahmen der „nuklearen Teilhabe“ unter US-Kommando Atombomben abwerfen können.

Der Horror der Atomtests

Nicht vergessen dürfen wir, dass von 1945 bis heute bereits 2058 Atombomben gezündet wurden. Frühe US-amerikanische Atombombentests wurden so nahe an der Großstadt Las Vegas in der Wüste Nevadas durchgeführt, dass man von dort aus den Atompilz sehen konnte. Auch wenn spätere Tests dem Anspruch nach in (vermeintlich) menschenleeren Gebieten erfolgten, so verseuchen sie doch bis heute nachhaltig die Umwelt. Leidtragende sind nicht selten Indigene, wie die Einwohner*innen von Reservaten in New Mexico und Nevada. Oder Hirtennomad*innen in den Steppen Kasachstans, die die sowjetische Bürokratie atomar verseuchte. Später haben sowohl die USA als auch Frankreich und Großbritannien Tests in Südseeatollen durchgeführt. Die polynesischen Bewohner*innen des Bikini-Atolls wurden zwangsumgesiedelt und können nicht mehr dorthin zurück. Polynesiens Fischbestände sind strahlenbelastet. Frankreich zündete auch Atombomben in seiner Kolonie Algerien, sogar noch nach dessen Unabhängigkeit – zum Leidwesen der dort lebenden Tuareg. Großbritannien unternahm Atomtests in der Wüste Australiens, was Aborigines traf. Die Atomtests, die mit radioaktivem Fallout, der Verseuchung ganzer Landstriche und Meere einhergehen und Krebsraten in die Höhe treiben, treffen also vor allem Menschen in ehemaligen Kolonien und ethnische Minderheiten. Dies gibt ihnen auch eine rassistische und neokoloniale Note. Bis heute zögern Regierungen, Opfer zu entschädigen. 

Seit 1991 haben die UdSSR und die USA keine Atomtests mehr vorgenommen; als Frankreichs Präsident Chirac 1995 im Mururoa-Atoll bombte, löste das weltweite Empörung aus. 1996 wurde ein UN-Atomwaffenteststoppvertrag ratifiziert, den Indien, Pakistan und Nordkorea allerdings nicht unterzeichnet haben. 

Seitdem hat es nur noch wenige Atomtests gegeben. 

Sozialismus oder Barbarei?!

Mit Atomwaffen besteht die Möglichkeit, den Konkurrenzkampf zwischen Staaten bis zur Vernichtung der Menschheit zu treiben. Inwieweit die Herrschenden zum Äußersten gehen, ist unklar, denn es bedeutet auch ihr Ende. Dennoch spielen sie mit dem Feuer. Es liegt im Interesse der Arbeiter*innenklasse weltweit, den „Irren mit den Bomben“ die Werkzeuge zur Vernichtung aus der Hand zu nehmen. Der politische Schlüssel dazu ist eine internationale unabhängige Bewegung, die Schluss macht mit Ausbeutung, globalem Konkurrenzkampf und Kriegen.