Der Euro: 20 turbulente Jahre

Die Neujahrsfeiern zum Jahreswechsel auf 2002 wurden in vielen Medien so dargestellt, als würden die Menschen die neue Währung mehr feiern als das neue Jahr. Der Euro würde ein neues Kapitel des innereuropäischen Zusammenhalts, ja sogar der Freiheit bedeuten, weil man ja jetzt ohne Geldumtauschen reisen könne. Der erste Ärger kam bald, als viele Händler*innen die Preise von DM in Euro 1:1 (statt 2:1) umrechneten – der „Teuro“ war geboren. Es sollten aber noch viel größere Krisen für die gemeinsame Währung kommen. Der Euro krankt nämlich an einem grundsätzlichen Widerspruch.

Von Sebastian Rave, Bremen

Der Euro ist der wohl handfesteste Ausdruck der „europäischen Einigung“, die angefangen hatte mit der „Montanunion“ (der Zollfreiheit für Kohle- und Stahlproduzenten), weiterging mit der EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, 1957) und schließlich in der EU endete. Das Ziel war von Anfang an die Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes und einer eigenständigen Außen- und Sicherheitspolitik, um den großen Konkurrenten USA und Japan etwas entgegensetzen zu können.

Der Motor der Europäischen Integration war die kapitalistische Entwicklung selbst, von der schon Marx und Engels im kommunistischen Manifest schrieben:

Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumption aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. (…) An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander.“

Zwischen Weltmarkt und Nationalstaat

Die Produktivkräfte sind über den nationalen Rahmen hinausgewachsen. Große Konzerne beliefern nicht mehr nur ein Land, sondern die ganze Welt, die Produktion ist abhängig von internationalen Lieferketten sowie Ausbeutung von Rohstoffen und Arbeitskräften weltweit. Gleichzeitig bleibt aber der alte Nationalstaat in seinen Grenzen der, der über Gesetze, Gerichte, Polizei und Militär die bürgerliche Ordnung schützt. Ohne die ordnende Hand des Nationalstaates würde ein System, das auf Konkurrenz und Ungleichheit basiert, in völliges Chaos stürzen. Und auch wenn das Kapital längst global agiert, behält es im konkreten immer einen nationalen Charakter, mit einer Konzernzentrale, aus der Lobbyisten für das heimische nationale Parlament entsendet werden, mit engen, freundschaftlichen Verbindungen zur nationalen Regierung, die für günstige Handelsbedingungen sorgt und so weiter.

Schon 1911 phantasierte der Sozialdemokrat Kautsky von den Vereinigten Staaten von Europa auf bürgerlicher Grundlage. Rosa Luxemburg und Lenin hielten dagegen fest, dass die Losung der Vereinigten Staaten von Europa entweder nur auf sozialistischer Grundlage funktionieren würde, oder grundlegend reaktionär wäre.

Der Widerspruch zwischen internationaler Produktion und nationalstaatlicher Organisierung bei gleichzeitiger Konkurrenz brach immer wieder wieder blutig auf. Im ersten Weltkrieg war es vor allem das deutsche Kapital, das die Grenzen seines ihm zu klein gewordenen Reiches sprengen wollte, nur der zweite Weltkrieg sollte noch blutiger und brutaler werden: Ganz Europa sollte von Nazi-Deutschland versklavt werden. Ein Nazi-Thinktank empfahl, nur noch von Europa zu sprechen, „denn die deutsche Führung ergibt sich ganz von selbst.“

Die deutsche Führung ergibt sich immer noch von selbst

Welch ein Kontrast zur heutigen Europäischen Union, die friedlich, über Verträge und Handel zusammengekommen ist! Doch auch in der heutigen EU ergibt sich deutsche Führung immer noch ganz von selbst – durch das wirtschaftliche Gewicht der größten Industrienation Europas. Der Euro ist ein zentrales Mittel der deutschen Großkonzerne, den europäischen Markt weiter zu dominieren. Die EU-Osterweiterung brachte Niedriglohnländer in die EU, in die deutsche Konzerne Teile ihrer Produktion verlagerten. 40 Prozent der deutschen Exporte gehen in EU-Länder, ohne eine Zollgrenze oder einen ungünstigen Wechselkurs passieren zu müssen. Konnten in der Vergangenheit südeuropäische Staaten wie Italien oder Griechenland sich mit Währungsabwertungen gegen die deutsche Exportmaschine wehren, waren sie mit der Einführung des Euro gänzlich ungeschützt. Deutsche Waren überfluten längst die Supermärkte Südeuropas.

Die Euro-Krise klopft an

Die Euro-Krise 2010 war die bisher existenziellste Krise der gemeinsamen Währung. Der griechische Staat, zur Rettung der heimischen Banken gezwungen, stand kurz vor der Pleite. Die Troika aus Europäischer Zentralbank, dem Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Komission verordnete eine radikale Sparkur, die katastrophale Folgen für die Menschen in Griechenland hatte. Portugal, Irland, Italien und Spanien wurden ebenfalls von einer heftigen Rezession ergriffen. Aber nirgends wurde die Schlacht um die Frage, wer für die Krise bezahlt, heftiger ausgefochten als in Griechenland. Nach dutzenden Generalstreiks und der Wahl einer (in Worten) linksradikalen Regierung stellte Premierminister Tsipras schließlich per Referendum die Frage, ob die Sparmaßnahmen weitergehen sollen. „Oxi“ – Nein, war die laute Antwort des Volkes. Das deutsche Kapital, repräsentiert von Finanzminister Schäuble, ließ sich davon nicht beeindrucken. Statt sich mit den europäischen Institutionen anzulegen, und zu riskieren, aus der EU geworfen zu werden, knickte Tsipras ein und stimmte allen Kürzungen zu.

Der Euro brach (noch) nicht auseinander. Der „Grexit“ wurde aber zum geflügelten Wort und zur Vorlage für den „Brexit“, für den 2016 eine Mehrheit der Briten stimmten. Nur eine von vielen Niederlagen der Europäischen Union bei Volksabstimmungen: 2005 sagten die Französ*innen „non“ und die Niederländer*innen „nee“ zur neoliberalen Europäischen Verfassung, daraufhin wurden die geplanten Volksabstimmungen in Tschechien, Dänemark, Irland, Polen, Portugal und UK kurzerhand abgesagt. In Irland wurde die Volksabstimmung über den Vertrag von Lissabon einfach wiederholt, bis eine Zustimmung erreicht wurde. Die Mehrheiten gegen die EU stehen dabei nicht einfach für eine Mehrheit gegen Internationalismus oder „Europa“, sondern mindestens ebenso gegen eine undemokratische, bürokratische und neoliberale Europäische Union. Beim Brexit waren es vor allem ärmere und arbeitende Menschen, die mit „Nein“ stimmten, auch, um dem Establishment eins auszuwischen. Dass diese Stimmung nicht von der Linken um Corbyn aufgegriffen wurde, war ein schwerer Fehler, und überließ die Anti-EU-Position den Rechten von UKIP, die nach dem erfolgten Brexit übrigens völlig in sich zusammen brach.

Euro-Kritik von Rechts

Die Euro-Krise führte zum Aufstieg der AfD in Deutschland, die als eurokritische und wirtschaftsliberale Partei begann, in der sich zunächst der national borniertere Teil des Bürgertums sammelte, der nicht von der EU profitierte. Die ständigen inneren Widersprüche der Staatengemeinschaft führen zu einer ständigen Suche nach einem Ausweg – die ihren Ausdruck auch in reaktionären Kräften findet, die zurück zum „guten alten Nationalstaat“ und zur D-Mark wollen. Die AfD ist mittlerweile zum Sammelbecken gegen eine multiethnische und vielgeschlechtliche Arbeiter*innenklasse, gegen die Moderne, Migration und das Impfen geworden.

Der Euro hat bisher alle Krisen überlebt, weil eine Räuberbande gemeinsam stärker ist als allein – auch wenn der Bandenboss den Rest seiner Gang systematisch übers Ohr haut. Die Konflikte nehmen aber mit jeder Krise zu, weil die gemeinsame Beute kleiner wird. Mit der durch die Pandemie ausgelösten Weltwirtschaftskrise verliert der Euro noch weiter an Stabilität. Das Gespenst der Inflation ist längst im Euro-Raum angekommen. Dadurch besteht die Gefahr, dass die Arbeiter*innen doppelt für die Krise zahlen sollen: Durch Freizeitlockdowns bei anhaltender Produktion, und durch ein Absenken des Lebensstandards.

Für die sozialistischen Vereinigten Staaten von Europa

Der Euro hat seinen Glanz schon längst verloren. Der Ausweg aus der ständigen Krise der EU und des Euro liegt aber nicht im Zurückdrehen der Zeit. Ein zurück zum Nationalstaat und zur eigenen Währung ist keine Lösung. Die Reformierung der EU ist aber unmöglich. Sie ist eine durch und durch kapitalistische, undemokratische und imperialistische Institution. Dem Europa der Banken und Konzerne, der Ausbeutung und des Profits für wenige, halten wir die Solidarität der Arbeiter*innen, Jugendlichen und Unterdrückten entgegen. Nur diese können eine wirkliche europäische – und weltweite! – Einheit von unten herstellen. Um das zu erreichen braucht es eine internationale Koordinierung marxistischer Kräfte. Mit der ISA (International Socialist Alternative) wollen wir dazu einen Beitrag leisten.

Wir kämpfen für:

  • Internationale Solidarität statt Konkurrenz für Profit – gemeinsame Gegenwehr gegen Lohn- und Sozialabbau! Gewerkschaften vernetzen, Kämpfe zusammenführen!
  • Massive europäische Investitionen in Klima, Soziales und bezahlbares Wohnen, finanziert durch die Gewinne der europäischen Banken und Konzerne
  • Vergesellschaftung der Banken und Konzerne und demokratische Planung der Produktion
  • Die sozialistischen Vereinigten Staaten von Europa: Eine freiwillige, sozialistische Föderation mit allen demokratischen Rechten, einschließlich Loslösung, für nationale Minderheiten