Rückwärtsgang bei der Verkehrswende

Vielleicht hat das Virus ja auch sein Gutes – das war die Hoffnung. Zumindest für die Natur, für die Tiere, die nun an Stränden frei von Party-Tourist*innen und Müll herumtollen, die Pflanzen, die in besserer Luft wachsen, dem gesamten Klima, dass sich nun erholen kann, wo viel weniger Autos fahren, kaum Flugzeuge fliegen und Industriebetriebe still stehen. Ist die Pandemie der Startschuss für ökologische Produktion und Fortbewegung?

von Conny Dahmen, Köln

Ebenso wie die Delfine in venezianischen Kanälen entpuppt sich das leider als Wunschtraum. Wie in jedem anderen Bereich des Lebens unter Corona zeigt sich, wie sich die vorhandenen Missstände im Kapitalismus weiter zuspitzen und am Ende nicht wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern Profitinteressen entscheiden.

Die Kohlendioxid-Emissionen aus fossiler Verbrennung werden laut einer Prognose der Internationalen Energieagentur (IEA) 2020 um 8 Prozent niedriger liegen als im Vorjahr; in China brach der CO2-Ausstoß während des Lockdown sogar um ein Viertel ein. Dennoch erreichte die CO2-Konzentration in der Atmosphäre Anfang Mai mit 418 ppm (CO2-Moleküle pro Million „Luftteilchen“) einen neuen Rekord. Im Mai 2019 waren es 415 ppm. Also hat sich dieses Jahr nur der Anstieg der CO2-Konzentration verlangsamt.

Im Schatten der Pandemie spielen sich rund um den Globus Umweltverbrechen ab: Während in Brasilien jeden Tag Hunderte Menschen an Covid19 sterben, wird der Amazonas-Regenwald in Brasilien mit rasant zunehmender Geschwindigkeit abgeholzt und gerodet, nachdem große Teile bereits letzten Sommer verbrannt sind. Von Januar bis April 2020 sind nach Satellitenfoto-Auswertungen des brasilianischen Weltraumforschungsinstituts Inpe rund 1.200 Quadratkilometer Urwald vernichtet worden.

Doch nicht nur rechte Regierungen wie Bolsonaro sind das Problem. Auch hierzulande werden Maßnahmen zur Klimaverbesserung mit der Begründung Corona verschoben oder aufgehoben. „Nach der Corona-Krise müssen wir prinzipiell alle Sonderbelastungen der deutschen Wirtschaft auf den Prüfstand stellen, die einer Erholung und einer Anknüpfung an unsere bisherige Stärke im Wege stehen“, so Wolfgang Steiger, der Generalsekretär des CDU-Wirtschaftsrates. Europäische Autokonzerne fordern, die ab 2020 geltenden EU-CO2-Grenzwerte für Autos zu lockern. Die deutschen Konzerne wollen, wie bereits 2009, eine „Abwrackprämie“ auf den Kauf eines Neuwagens. Die europäischen Airlines, von denen die meisten über die letzten Jahre mit immer neuen Passagierrekorden satte Gewinne eingefahren haben, verhandeln über Rettungspakete von mindestens 13 Milliarden Euro. Die Lufthansa soll rund 9 Milliarden Euro Zuschuss erhalten.

Zwar soll auch die Deutsche Bahn angesichts eines zu erwartenden Defizits von 13,5 Milliarden Euro bis 2024 staatliche Zuschüsse von 7 Milliarden erhalten – aber nur, wenn sie selbst 5 Milliarden einspart, davon die Hälfte beim Personal. Das läuft nach Berechnungen der Eisenbahngewerkschaft EVG auf den Abbau von 10.000 Jobs hinaus.

Bevorzugung von Auto und Flugzeug

Die steuerliche Subventionierung des Flugzeugtreibstoffs Kerosin beläuft sich in Deutschland auf rund 8 Milliarden Euro im Jahr. Demgegenüber wurden vor allem in den 1990ern weltweit öffentliche Verkehrsmittel wie die Bahn (teil-)privatisiert und an die Börse gebracht, zerschlagen und demontiert. Im Güterverkehr hat der Verkehrsanteil der Bahn seit dem Jahr 1990 immer weiter abgenommen. Seither sind fast 6500 Kilometer Bahnstrecken stillgelegt worden, knapp 40 Prozent davon in Ostdeutschland, was dem kompletten Schienennetz der Niederlande entspricht. 2016 wurde der Nachtzugverkehr eingestellt. Ähnlich läuft es in anderen Ländern. In Südamerika gibt es fast nur noch touristische Bahnlinien, ansonsten gurken Busse unterschiedlichster Privatunternehmen über den Subkontinent, auch hier gewinnen Inlandsflüge an Bedeutung.  Auch viele Fährverbindungen wurden zugunsten von Flugverbindungen gestrichen, zum Beispiel von Griechenland und Italien oder zu den griechischen Inseln der Ägäis und nach Zypern.

Vor diesem Hintergrund und angesichts der hohen Bahnpreise reisen Menschen in Deutschland zu 45 % mit dem privaten PKW oder Wohnmobil und zu 41 % mit dem Flugzeug (Statistik von 2018). Fernbusse (6%) und Bahn (5%) haben einen geringen Anteil. Laut IPCC macht der Luftverkehr 3-5 % der Klimaerwärmung aus, in der EU waren es im Jahr 2016 0,66 % der gesamten CO2-Emissionen, und in Deutschland lag der Anteil innerdeutscher Flüge an den Gesamtemissionen bei 0,3%. Das ist nicht viel, liegt aber vor allem daran, dass nur 5-10 % der Weltbevölkerung im Jahr überhaupt fliegen. Mit einem Anteil von 21,3 % bleibt der Straßenverkehr in Deutschland aber das dreckigste Verkehrsmittel. Das wird sich durch die Corona-Krise noch verschärfen, da wegen des massiv gesunkenen Ölpreises Autofahren billiger wird und das Infektionsrisiko geringer ist als im ÖPNV. Durch Lohneinbußen und Entlassungen infolge der Wirtschaftskrise werden Menschen weniger Geld und Zeit für Urlaub haben und zwangsläufig billiger und umweltschädlicher reisen – mit Billigflieger oder Auto statt mit dem ICE.

Geschäftsreisen

Die meisten Menschen reisen für die Arbeit: 15 % der Flugzeugpassagiere sind Geschäftsreisende, bei innerdeutschen Flügen 65%. Täglich verstopfen Pendler*innen auf dem Weg vom Wohnort zum Arbeitsplatz und zurück die Straßen. 19,3 Millionen pendeln zur Arbeit in eine andere Kommune (Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung, 2018), mit einem durchschnittlichen Arbeitsweg von 16,9 km. In ländlichen Regionen, wie großen Teilen Mecklenburg-Vorpommerns, Brandenburgs und Sachsen-Anhalts, sind es über 30 km. 68 % nutzen dafür das Auto (Statistisches Bundesamt 2016).

Wohnortnahe Arbeitsplätze könnten das Pendeln massiv einschränken. Das bedeutet unter anderem mehr Infrastruktur in ländlichen Regionen, mit mehr Jobs und mehr Lebensqualität, sowie niedrigere Mieten in den Großstädten. Unnötige berufliche Reisen sind durch Videokonferenzen zu ersetzen. Öffentlicher Nah- und Regionalverkehr muss ausgebaut und zum Nulltarif angeboten werden, in Zeiten der Pandemie auch mit verstärktem Reinigungsaufwand und Abstandsmöglichkeiten.

Produktionsumstellung

Wer das ganze Jahr schuftet, will auch mal entspannen und was von der Welt sehen, am Strand liegen, Bergwandern, Kulturdenkmäler oder seltene Echsen bestaunen. Mit reduzierter Wochenarbeitszeit und mehr Urlaubstagen bei vollem Personal- und Lohnausgleich könnte die Anreise in den Urlaub auch länger dauern und Teil dessen werden. Mit gut ausgebauten und preiswerten öffentlichen Verkehrsmitteln und Verbindungen wäre langsames Reisen in Europa gar nicht viel langsamer als mit dem Flugzeug, dafür bequemer und billiger. Innerdeutsche Flüge müssen also durch schnelle Bahnverbindungen ersetzt und der Nachtzugverkehr im In- und ins Ausland ausgeweitet werden. Für den Ausbau des Schienennetzes sowie mehr und zuverlässige Zugverbindungen würden die Arbeitskräfte benötigt, die bei den Airlines wegfielen. Die oftmals unterbezahlten und stressigen Jobs bei Billigfluglinien könnten durch abgesicherte, gut bezahlte Jobs im Fernverkehr ersetzt werden. Dasselbe gilt auch für andere umweltschädliche Bereiche. Die Corona-Krise hat gezeigt, dass die Umstellung der Produktion eines Werkes möglich ist – weshalb also die Autoproduktion ankurbeln, wenn die Beschäftigten bei VW, Ford usw. auch sinnvolle Produkte wie medizinische Geräte oder Busse und Bahnen herstellen könnten?

Mit dem Preisverfall bei Öl, Gas und Kohle ist das Scheitern der Versuche, Klimaschutz mit kapitalistischen Mitteln zu erreichen, offensichtlich. Aufgrund des derzeitigen Überangebotes sinkt der Preis für CO2-Zertifikate (Verschmutzungsrechte) rapide, der Preisaufschlag durch die für 2021 geplante CO2-Steuer auf Benzin und Heizöl würde um ein Vielfaches vom Preisverfall übertroffen. Kohle- und Atomkraftwerke müssen sofort abgeschaltet und die Versorgung mit erneuerbaren Energien ausgebaut werden.

Ob vor, während oder nach „Corona“: Solange Energieversorgung, Verkehrswesen und alle Schlüsselindustrien in privater Hand sind, wird es (nicht nur) mit der Umwelt und dem Klima bergab gehen. Egal ob die Chefs der Großkonzerne wissenschaftliche Erkenntnisse anerkennen oder nicht – ihr Wirtschaftssystem, das auf Profitmaximierung und Konkurrenz ausgerichtet ist, verbietet es einfach, nachhaltig zu denken und das Überleben der Menschheit im Blick zu haben. Das funktioniert nur, wenn diese Betriebe in öffentliche Hand überführt und Produktion und Verteilung demokratisch und wirklich nach den Bedürfnissen von Mensch und Natur organisiert werden.