Schulen sind keine Experimentierfelder!

Nachdem sich bereits die „systemrelevanten“ Beschäftigten in Gesundheitswesen, Pflege und Einzelhandel als unfreiwillige Märtyrer*innen wiederfinden, sollen nun auch Lehrende, Schüler*innen und vor allem deren Angehörige wirtschaftlichen Interessen geopfert werden.

Von Sozialist*innen in der GEW

Kaum sinkt die Rate der Neuinfektionen ein wenig, hieß es schon, die Bundesregierung würde einige Maßnahmen „lockern“. Endlich wieder mit vier Menschen gleichzeitig im Park treffen, oder überhaupt mit jemandem? Endlich wieder offene Spiel- und Sportplätze? Nein, „Lockerung“ heißt offene Autohäuser und Abschlussprüfungen, die Kontaktsperre bzw. Ausgangssperre sowie Versammlungsverbote bleiben wie gehabt erhalten.

„Lockerer“ wird nur der Infektionsschutz. Das ist keine Erleichterung des Alltags für arbeitende Menschen, sonder bedeutet einfach mehr arbeiten zugehen – Corona hin oder her. So sollen die Fließbänder bei Ford und anderen Autowerken ab 4. Mai (abhängig von den Lieferketten) wieder anlaufen, kleinere Geschäfte und Friseursalons werden wieder geöffnet. Und die Abschlussprüfungen an weiterführenden Schulen finden statt, ebenso die Feststellung der geeigneten Sortierung und somit weitgehende Beeinflussung des schulischen Werdegangs von Grundschüler*innen der 4. Klassen.

Auch andere EU-Länder mit zum Teil drastischeren Ausgangsbeschränkungen scheinen nun die Prioritäten eindeutig gesetzt zu haben, so will zum Beispiel Frankreich, wo in einigen Regionen nicht einmal mehr auf der Straße gesprochen werden darf, ab dem 11. Mai wieder Schüler*innen in die Schule zu schicken.

Weiter keine Hilfe für Eltern

In den einzelnen Bundesländern sind die Regelungen unterschiedlich. Unter anderem in Berlin haben bereits am Montag, 20. April Abschlussprüfungen begonnen. In NRW sollen die Schulen sollen ab dem 23.April wieder öffnen, zunächst freiwillig für die Abiturient*innen und verpflichtend für Schüler*inne der 10. Klasse, am 4. Mai sollen irgendwie – wie genau, weiß keine*r – dann die 4. Klassen der Grundschulen und weitere Jahrgänge – welche, weiß man auch nicht – an weiterführenden Schulen hinzukommen.

Die Notbetreuung läuft weiter. Hier ist der Personenkreis mit Anspruch auf die Familien erweitert worden, die durch das Jugendamt betreut werden. Wer aber schlicht und ergreifend zu Hause unzureichende Bedingungen für Homeschooling hat, oder dort anderweitig nicht klar kommt, hat nach wie vor keine Hilfe in der Schule zu erwarten.

Es geht also nicht um ein Angebot zur Kinderbetreuung, um überlastete Eltern und vereinsamende Kinder zu entlasten, auch nicht um ein Bildungsangebot, sondern primär um das Ableisten von Prüfungen, um das Funktionieren. Und das unter unverantwortlichen Umständen, wie mangelhafte Sanitäranlagen in vielen Schulen und Räumlichkeiten, die es unmöglich machen, die notwendigen Abstände einhalten zu können. Die ersten kleinen Erfolge bei der Eindämmung von Covid19 stehen damit auf dem Spiel. Denn die Pandemie ist nicht einmal ansatzweise im Griff. Müssen am Ende Eltern und Großeltern fürs Abi der Kinder mit dem Leben bezahlen?

Lernende und Lehrende wehren sich

Landes- und Bezirkschülervertretungen, so auch in NRW, fordern die Absage der Prüfungen und das Bilden der Abschlussnoten mittels der Durchschnittsnote des Prüfungsjahrganges bzw. Q1 und Q2. Die GEW Köln hat mit einer Online-Petition vorgelegt und innerhalb weniger Tage fast 30.000 Unterstützer*innen gesammelt. Die Schulleitervereinigung SLV sprach sich wegen hygienischer Mängel in Schulen und vorauszusehendem Personalmangel (50-80% der Lehrerkollegien gehörten Risikogruppen an) gegen die Schulöffnung aus. Die Hashtags #SchulboykottNRW und #SchulboykottDE trenden massiv bei Twitter. Auch viele Eltern zeigen sich entsetzt über den Beschluss – schließlich gibt es auch viele Schüler*innen mit Vorerkrankungen. Zwar muss keine*r von ihnen am Unterricht teilnehmen, sondern soll dann ein entsprechendes Fernlern-Angebot bekommen, die Ungleichheiten vergrößern sich aber dadurch nur noch mehr.

Diese sind schon in den letzten Wochen enorm spürbar geworden durch den – komplett unorganisierten – Fern„unterricht“ an den Schulen, bei dem Schüler*innen, die ohnehin Schwierigkeiten haben, den Anforderungen zu genügen, noch mehr abgehängt werden. Das betrifft vor allem diejenigen, die medial in den Haushalten schlechter ausgerüstet sind, beengter wohnen, sich Zimmer und Geräte mit anderen Familienmitglieder teilen müssen, deren Eltern weniger Zeit und Möglichkeiten zur Unterstützung bieten (können), oder die gar unter häuslicher Gewalt leiden.

Laut VBE (Verband Bildung und Erziehung) sind von ca. 8,3 Millionen Schüler*innen in Deutschland etwa 2,4 Millionen von Armut und sozialer Abgrenzung bedroht.

Nix mit Digitalisierung

Hinzu kommt, dass die unterrichtenden Kolleg*innen mit der Ausgestaltung des Fern-Unterrichts meist vollkommen allein gelassen wurden – da kommt es wieder auf das „Engagement“ der einzelnen Kolleg*innen an, ob sie sich z.B. mit Video-Tools inklusive Datenschutzrichtlinien vertraut machen, wie sie alle Schüler*innen trotz fehlender Daten erreichen, während vorher in den Schulen immer wieder gepredigt wurden, dass alles über E-Mails hinaus datenschutzrechtlich viel zu heikel sei.

Wer geglaubt hatte, spätestens nach den Osterferien würden den Lehrer*innen E-Learning-Tools an die Hand gegeben, wie es sie bereits seit Jahren und an einigen Schulen und in anderen Ländern gibt, hat sich getäuscht. Dass die Landesregierung (Stichwort Digitalisierung) jedem Lernenden ein mobiles Endgerät kauft, war schon nicht zu erwarten, obwohl genau das notwendig wäre. Das ist auch kein Wunder, da es auch in Schulgebäuden selbst am Notwendigsten mangelt: Einer aktuellen Umfrage unter Schulleiter*innen zufolge es nur bei rund einem Drittel der Schulen WLAN und eine Breitbandverbindung in allen Klassenzimmern. Schuleigene Tablets und Smartphones sind auch nur in einem Drittel der Schulen vorhanden. Der „Digitalpakt Schule“ hat daran bislang eher wenig geändert.

Nun sehen sich Kolleg*innen damit konfrontiert, gleichzeitig Prüfungsvorbereitungen live in den Schulen, aber auch auf Distanz, Notbetreuung auch am Wochenende, und das übliche Verteilen und vor allem Einsammeln, Kontrollieren, Korrigieren und Rückmelden der Aufgaben an Massen von Schüler*innen gleichzeitig bewältigen zu müssen. Eltern sind nach wie vor nicht entlastet, Schüler*innen sowieso nicht. Die Anschlussjahrgänge lernen nun, dass es gefährlich ist, Freund*innen zu treffen, aber nicht, in der Schule sitzen und sich prüfen zu lassen, nicht.

Dass es trotzdem Schüler*innen gibt, die alles gerne hinter sich hätten, die ein entwertetes „Corona-Abi“ fürchten, mit schlechteren Chancen auf dem Arbeitsmarkt, und einen nicht erreichten Numerus Clausus (NC), zeigt den zunehmenden Druck, unter dem Lernende seit Jahren stehen.

Für dieses Jahr darf es keine NC geben, Schüler*innen dürfen keine Nachteile durch die Abschlüsse mit Durchschnittsnoten erhalten. Die Prüfungen gehören ersatzlos gestrichen, kein*e Lernende*r darf unnötigen Infektionsrisiken ausgesetzt werden.

Der Fern-Unterricht ist nicht optimal und führt zu noch mehr Ungleichheit bei den Schüler*innen, (was in einer ungleichen Gesellschaft auch folgerichtig ist). Live-Unterricht ist aber zu diesem Zeitpunkt verantwortungslos, da zur Zeit die Bedingungen dafür nicht gegeben sind.

Daher muss Lehrenden und Lernenden ein funktionsfähiges, sicheres und betriebssystemunabhängiges Video- und E-Leaning-Tool zur Verfügung gestellt werden. Lehrende müssen Einführungen und Schulungen erhalten, wie es sonst bei wesentlich weniger existentiellen Unterrichtsverfahren auch üblich ist. Jede*r Lernende muss kostenlos ein mobiles Endgerät zur Verfügung gestellt bekommen, mit allen notwendigen Apps. Ebenso brauchen alle Lehrenden funktionsfähige Laptops oder Tablets mit allen notwendigen Programm (kein veralteten und unpraktischen Stand-PCs neben den Pulten, die faktisch niemand verwendet). In jedem Schulgebäude muss flächendeckendes, starkes WLAN vorhanden sein (ob mit oder ohne Corona-Krise). Lernende mit instabilem Internetanschluss zuhause müssen entsprechende Hilfen bekommen.

Aber: Viele Schüler*innen würden gerne wieder in die Schule gehen, weil es zuhause unerträglich wird, um ihre Freund*innen zu treffen oder weil selbst Schulunterricht mittlerweile interessanter ist als Netflix. Viele Eltern würden ihre Kinder gerne wieder in der Schule sehen. Aber es gibt kaum Zeit, die Schulen hygienemäßig dafür auszurüsten. Das würde u.a. den Einbau größerer Waschbecken bedeuten, oder Personal, das die Toilettennutzung regelt, von größeren und ausreichenden Räumen ganz zu schweigen. Bereits vor der Krise gab es weder ausreichend räume, Personal noch finanzielle Mittel – nun wird das noch offensichtlicher.

Das Problem fehlender schulischer Betreuung und mangelnder Bildung in der Corona-Krise ist da. Und es ließe sich lösen – nicht durch Verordnungen via E-Mail von oben nach dem Motto „schaut mal, wie ihr das hinbekommt“, sondern durch demokratisch organisierte Gremien von Schüler*innen, Lehrer*innen und Eltern, die darüber diskutieren und beschließen, unter welchen Bedingungen Schulen geöffnet werden, welche Maßnahmen notwendig sind und wie dies umgesetzt werden kann.

Voraussetzung dafür sind auch finanzielle Mittel. Unabhängig von der jetzigen Krise sind übrigens saubere Toiletten, mit Seife und warmen Wasser Standard in jeder Firma, auf jeder Tankstelle, in allen Restaurants. Und für Schulen sind sie eine absolute Notwendigkeit.

Dafür braucht es einen Reinigungsdienst, der den ganzen Tag präsent ist, mit ausreichend Seife, Desinfektionsmittel und Schutzausrüstung. Dazu müssen die Reinigungsdienste wieder in die öffentliche Hand überführt werden. Die dort arbeitenden Kolleg*innen müssen weit besser entlohnt und mit entsprechender Schutzkleidung ausgestattet werden.

Klassen und Kurse sind aufgrund des Lehrpersonalmangels auch ohne Corona viel zu groß.

Jetzt müssen Lerngruppen massiv verkleinert werden, um mit Sicherheitsabstand lernen zu können. Um das gewährleisten zu können, dürfen nicht die Lehrenden oder gar noch die Eltern überlastet werden, sondern braucht es entsprechendes Personal.

Lernen darf sich hier nicht auf Prüfungsvorbereitung beschränken, sondern muss wirkliche Bildung sein.

Um Kindern und Jugendlichen Bewegung, auch zusammen mit anderen Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen, müssen Sport- und Spielplätze wieder geöffnet werden. Hier können Betreuer*innen dafür sorgen, dass Sicherheitsabstände eingehalten werden. Die Unis sind zu, viele Student*innen, die vorher in der Gastro oder als Taxifahrer*innen beschäftigt waren, könnten hier gegen eine vernünftige Bezahlung aushelfen.

Die derzeitige, vollkommen unklare Regelung, die alle Beteiligten nur noch mehr unter Druck setzt und unverhältnismäßigen Gesundheitsrisiken aussetzt, hilft niemandem, sondern chaotisiert alles und alle. Kolleg*innen an den Schulen müssen sich dagegen wehren.

Dazu ist die GEW gefragt, diese Kolleg*innen konkret dabei zu unterstützen und Handlungsweisen zu entwickeln.

Es sind zurzeit wegen Infektionsrisiken ausdrücklich keine Lehrerkonferenzen und Dienstbesprechungen in den Schulen vorgesehen. Lehrer*innenräte sollten aber entsprechende Video-Konferenzen einfordern, um zu besprechen, was nun passieren soll und Beschlüsse zu fassen, die an die Landesregierung übermittelt werden. Eltern- und Schüler*innenvertretungen müssen ihrerseits aktiv werden und Protest organisieren.

Die Netzkampagnen #SchulstreiksDE und #SchulboykottDE sind ein guter Anfang, um einen wirklichen Schulstreik zu organisieren.

Wir setzen uns ein für:

  • Keine chaotische, von oben auf die Schnelle verfügte Schulöffnung.
  • Stattdessen demokratische Beteiligung der Lehrenden, Schüler*innen und Eltern, um zu planen, wie die Schule wieder in Gang gesetzt werden kann.
  • Die GEW sollte den Widerstand gegen die Chaos-Schulöffnung koordinieren und die Kolleg*innen unterstützen, die dagegen aktiv werden.
  • Keine Abschlussprüfungen sondern Bildung einer Durchschnittsnote. Keine Studienzugangsbeschränkung durch den Numerus Clausus.
  • Ausstattung und Fortbildung der Lehrenden und der Schüler*innen, um die Möglichkeiten des Fernunterrichts für alle zu verbessern.
  • Für kleinere Klassen und Lerngruppen, für eine verbesserte personelle und materielle Ausstattung von Schule und offenem Ganztag/Horten
  • Reinigungspersonal fest im öffentlichen Dienst einstellen. Die permanente Reinigung der Sanitärbereiche ist Voraussetzung für einen regulären Unterricht.
  • Öffnung von Spielplätzen und Sportstätten, mit hygienischer Betreuung und Beratung für die Kinder und Jugendlichen.