Bild: Allexkoch (CC BY-SA 4.0)
Von einem “Einzeltäter” in Halle kann keine Rede sein
Bis an die Zähne bewaffnet wollte ein Faschist am höchsten jüdischen Feiertag, Jom Kippur, in die Synagoge von Halle eindringen, um ein Massaker an Jüd*innen anzurichten. Als das mißlang, erschoss er eine Passantin und einen Kunden in einem Dönerimbiss. Unsere Solidarität gilt den Opfern und ihren Familien. Der Kampf gegen Nazis und Rassismus ist dringender denn je.
von Sebastian Rave, Bremen
Der Mörder mag die konkrete Tat allein begangen haben, aber er war kein Einzeltäter. In einem “Manifest” für Gleichgesinnte kündigte er die Tat in Nazi-Foren an und streamte seine Taten über eine Helmkamera ins Netz.
Dabei wiederholte er die ideologischen Märchen der neuen und alten Rechten. Es habe den Holocaust nicht gegeben. Der Feminismus sei Schuld am Geburtenrückgang. Deshalb gebe es jetzt den “großen Austausch”, also den Bevölkerungsaustausch der weißen Mehrheitsgesellschaft durch muslimische Migrant*innen. Und hinter all dem stecke das Judentum. Das alles sind nicht die Ideen eines einsamen Psychopathen, es sind Grundpfeiler der aktuellen rechten Ideologie, geteilt nicht nur von militanten offenen Nazis, sondern auch von Abgeordneten mit Krawatte oder “identitären” Jungaktivisten.
Vernichtung – Kern rechter Ideologie
Letztere mögen den antisemitischen Teil ihres kruden Weltbildes zumindest in der Öffentlichkeit herunterspielen, weil die Erinnerungen an den Holocaust und die übrigen Verbrechen des Hitler-Faschismus in großen Teilen der Bevölkerung noch zu lebendig sind, um Judenhass massentauglich zu propagieren. Der Antisemitismus der Rechten ist und bleibt dennoch quicklebendig.
Diese fehlende Anschlussfähigkeit ist es, die zu dem Paradox führt, dass der Mörder in seinem Livestream zunächst den Holocaust leugnet und behauptet, etwas Schlimmes wie den massenhaften Mord an Jüdinnen und Juden habe es nie gegeben, um sich dann daran zu machen, genau das in die Tat umzusetzen, was er vorher geleugnet hat.
Die scheinbar gemäßigteren Stichwortgeber des Täters, die Höckes und Sellners und Elsässers, distanzieren sich natürlich und sprechen von einem “einsamen Wolf” (Elsässer), einem “gestörten und verrückten ”, der dem “politischen Gegner dient” und verhindert, dass es eine “offene, demokratische, friedliche und breite Bewegung gegen den Bevölkerungsaustausch und die Ersetzungsmigration gibt” (so Sellner in einem Youtube-Video).
Ihre Befürchtung ist, dass der “Idiot” ihre Verschleierungsbemühungen mit und ihre Beteuerungen, “friedlich” und “demokratisch” zu sein, zunichte macht, und die rechte Ideologie als das enttarnt, was sie ist: Eine in letzter Konsequenz mörderische Ungleichmachung von Menschen nach Herkunft, Religion und imaginierter “Rasse”. Auch wenn diese modernisierten Ideologen der Rechten nicht mehr von “Ariern” und “Untermenschen” reden, der verschwörungstheoretische Unsinn vom “großen Austausch”, hinter dem finstere Mächte stecken müssen, ist die Vorlage für den faschistischen Mörder von Halle, der sich als “Internet-SS” betrachtete.
Organisierte Naziszene
Der Täter war zweifelsfrei ein durch und durch überzeugter Nazi. Es deutet aber einiges darauf hin, dass er nur online organisiert war. Seine nach Bauplänen aus dem Netz selbstgebastelten Waffen, die zum Glück häufig versagt haben, lassen vermuten, dass er im nicht in militante Nazi-Netzwerke vor Ort eingebunden war. Andernfalls hätte er wahrscheinlich ein noch größeres Blutbad anrichten können.
Wir wissen, dass militante Nazi-Gruppen über erhebliche Waffenarsenale verfügen. Bei Hausdurchsuchungen rund um die Nordkreuz-Gruppe, die Teil eines bundesweiten Nazi-Netzwerks ehemaliger SEK-Beamten ist, wurden mehr als 30.000 Schuss Munition gefunden. Bei einer bundesweiten Razzia gegen die “National Socialist Knights of the Ku Klux Klan” wurden mehr als hundert Waffen beschlagnahmt. Auch in Rheinland-Pfalz wurden im März mehrere hundert Waffen, Waffenteile und Sprengkörper sichergestellt. Jeden Monat gibt es neue Waffenfunde bei Nazis. Und immer wieder gibt es auch Beweise für Nazistrukturen in Bundeswehr und Polizei. Diese deuten die Gefahr an, die von organisierten Nazis ausgeht, die einer mörderischen Ideologie anhängen, schwer bewaffnet sind und damit auch umgehen können.
Im Fall Halle haben wir es mit einer relativ neuen Form von Nazis zu tun. Von der “neuen” alten Rechten ideologisierte, über rechte Internetforen organisierte, und von sozialen Strukturen zutiefst entfremdete Männer, die, wie der Christchurch-Attentäter oder Anders Breivik, das in die Tat umsetzen, was AfD, FPÖ, Identitäre predigen: Die “Verteidigung” des (weißen, männlichen, christlichen) Abendlandes, zur Not mit der Waffe in der Hand.
Gegen jeden Rassismus
Das Attentat von Halle sollte ein Blutbad werden. Es ist Zufall, dass “nur” zwei Menschen das Leben verloren und nicht 70. Es ist ein deutliches Alarmsignal, das nicht mehr überhört werden darf. Die Polarisierung der Gesellschaft nimmt dramatisch zu. Faschistischer Terror tötet. Wir müssen uns dagegen wehren, mit allen notwendigen Mitteln.
Die Rechte muss gesamtgesellschaftlich zurückgeschlagen werden. AfD, Identitäre und Co., aber auch Abschiebepolitiker, bürgerliche Medien und ihre Berichterstattung sowie die viel zu häufig rassistische Praxis der Polizei liefern das Hintergrundrauschen für angebliche “Einzeltäter”. Rassist*innen müssen gesellschaftlich isoliert werden. Dafür muss man ihnen das Leben so schwer wie möglich machen. Kein Aufmarsch, kein Plakat, kein Auftritt kann unbeantwortet bleiben, muss blockiert und verhindert werden.
Die jetzt stattfindenden Demonstrationen sollten sich gegen alle Varianten von Rassismus richten, gegen Antisemitismus, aber auch gegen die Hetze gegen Flüchtlinge, gegen rassistische Staatspraxis wie Abschiebungen, gegen Islamhass, gegen die offenen Nazis und die geistigen Brandstifter in der AfD.
Vom Kapitalismus nicht schweigen
Uns wird täglich eingebläut, der obszöne Reichtum und die Macht einer winzigen Minderheit von Großaktionären und Reichen wären alternativlos. Bei allen Fragen der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums könne es nur darum gehen, wie der klägliche Rest der Ressourcen unter der großen Masse der Menschen unter den Menschen verteilt werden kann, die kein Vermögen besitzen, sondern für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen. Wir werden gespalten – Deutsche gegen Migrant*innen, jung gegen alt, Männer gegen Frauen.
Wir müssen gegen diese Spaltung kämpfen, für unsere gemeinsamen Interessen. Wer vom Faschismus redet, darf vom Kapitalismus nicht schweigen. Linke und Arbeiter*innenbewegung können die Nazis nicht bekämpfen, indem sie den kapitalistischen Status Quo der Ungleichheit akzeptieren oder gar verteidigen. Die Unzufriedenheit breiter Schichten in der Bevölkerung über die sozialen Verhältnisse ist berechtigt – und sie wird zunehmen, wenn dieses Land in die nächste konjunkturelle Krise rutscht. Nur wenn es uns gelingt, zu zeigen, wie ein menschenwürdiges Leben für alle Menschen, unabhängig von ethnischer Herkunft, Religion und Geschlecht erkämpft werden kann, können wir die rechtsextremen Terroristen und ihre ideologischen Hintermänner zuverlässig isolieren.
Wir brauchen Selbstverteidigungsstrukturen, weil die Tat, aber auch die Verstrickung von Nazis und Verfassungsschutz, Bundeswehr und Polizei zeigen, dass wir uns auf den Staat nicht verlassen können. Antifaschistische Komitees müssen mit Gewerkschaften und anderen Teilen der Arbeiter*innenbewegung verbunden sein, um nicht als isolierte Antifa-Grüppchen zu enden. Wir dürfen nicht vergessen, dass jeder Rassismus das Ergebnis von einer Gesellschaft ist, die auf sozialer Ungleichheit basiert.