Äthiopien: Ausnahmezustand und Widerstand

Von TUBS - Eigenes WerkDiese Vektorgrafik wurde mit dem Adobe Illustrator erstellt.Diese Datei wurde mit Commonist hochgeladen.Diese Vektorgrafik enthält Elemente, die von folgender Datei entnommen oder adaptiert wurden:  Southern Nations, Nationalities, and People's Region in Ethiopia.svg (von TUBS)., CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=22405947
Von TUBS – Eigenes WerkDiese Vektorgrafik wurde mit dem Adobe Illustrator erstellt.Diese Datei wurde mit Commonist hochgeladen.Diese Vektorgrafik enthält Elemente, die von folgender Datei entnommen oder adaptiert wurden:  Southern Nations, Nationalities, and People’s Region in Ethiopia.svg (von TUBS)., CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=22405947

Seit über einem Jahr wächst der Protest. Das Regime antwortet mit Repression

von Per-Åke Westerlund, „Rattvisepartiet Socialisterna“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Schweden)

Mehr als 500 Menschen sind von den Sicherheitskräften Äthiopiens umgebracht worden, tausende wurden verhaftet. Diese massive Repressionswelle hat dennoch nicht verhindert, dass der Aufstand der Massen im Land weiteren Zulauf hat. Anfang Oktober hat das Regime den Ausnahmezustand erklärt und das Internet stillgelegt.

Bei den Protesten und Revolten handelt es sich um die stärksten, die das Land seit langem erlebt hat; vielleicht sind es sogar die heftigsten Aufstände überhaupt. Mitte Oktober sind die Haupteinfallsstraßen in die Hauptstadt blockiert worden. Es hat Übergriffe auf Gebäude gegeben, die von Unternehmen genutzt werden, welche sich im Besitz von multinationalen Konzernen oder lokalen Kapitalisten befinden, die enge Verbindungen zum Regime pflegen. Aber auch Büroräume der regierenden Partei und staatliche Einrichtungen sind zum Ziel von Angriffen aus der Bevölkerung geworden und wurden in Brand gesteckt. An diesen Protesten haben sich Hunderttausende beteiligt.

Dabei hat Premierminister Hailemariam Desalegn Anfang dieses Jahres noch stolz verkündet, sein Land sei „eine Insel der Stabilität in der aufgewühlten Region am Horn von Afrika“. Möglicherweise fühlte er sich deshalb so sicher, weil er starke Unterstützung von Seiten des US-Imperialismus erhält aber auch aus China. Kurz nach seiner Aussage ist allerdings die immer noch aktuelle Welle des Widerstands losgebrochen.

Wachstum und Land-Raub

Die Proteste sind auf eine ganze Reihe von Problemen zurückzuführen, die allesamt miteinander in einem Zusammenhang stehen. 2015 wuchs Äthiopiens Wirtschaft schneller als in irgendeinem anderen Land: um 8,7 Prozent. Von 2000 bis 2008 lag das Wachstum bei über zehn Prozent. Im Schnitt lag es in diesem Zeitraum bei 9,1 Prozent.

Dieses Wachstum kam einer kleinen Schicht in der Bevölkerung zu Gute, die eng mit dem Regime verbunden ist. Auch die im Land vertretenen multinationalen Konzerne haben profitiert. Tausende von Bäuerinnen und Bauern, die als SelbstversorgerInnen leben, sind von dem Land vertrieben worden, das an global agierende landwirtschaftliche Konzerne und ausländische Regime verpachtet worden ist. Es geht hierbei um ein Gebiet, das der Größe Belgiens entspricht. Das diktatorische Regime hat für niedrige Löhne und ein „konzernfreundliches Klima“ gesorgt, das zu Investitionen einladen soll. Sogar aus China sind Unternehmen nach Äthiopien gekommen, in erster Linie solche, die zur Schuh- und Textilbranche zu zählen sind.

Das Wirtschaftswachstum ist einhergegangen mit zunehmender staatlicher Repression. Nach den Wahlen von 2005 sind hunderte Menschen, die sich an Protesten gegen die Manipulationen beteiligt haben, von den bewaffneten Kräften des Regimes umgebracht worden. Bei den letzten „freien Wahlen“ vom Mai 2015 hat die herrschende Partei alle 547 Sitze gewonnen, die es im Parlament und in allen Regionalparlamenten zu verteilen gibt.

Die Regierungspartei „Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker“ (EPRDF) wurde von der „Volksbefreiungsfront von Tigray“ (TPLF) gegründet, die 1989 die Macht an sich gebracht hat. Eine kleine Clique tigrinischer Führungspersonen und deren Familien kontrollieren den Staatsapparat und die Wirtschaft. 97 Prozent aller Armeeoffiziere sollen aus ein und demselben Dorf stammen. Korruption ist ein weit verbreitetes Phänomen. Bauaufträge werden beispielsweise an kleine Zirkel vergeben, wobei die meisten staatlichen Dienstleistungen nur gegen Sonderzahlungen zu haben sind. Da der tigrinische Teil der Bevölkerung nur sechs Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht, bekommt jeder Protest gleich auch eine ethnische Dimension.

Zur weitverbreiteten Armut und dem ohnehin grassierenden Hunger kommt hinzu, dass das Land in diesem Jahr von einer starken Hungersnot heimgesucht worden ist. 18 Millionen Menschen sind auf Lebensmittellieferungen angewiesen. In „normalen“ Jahren beträgt diese Zahl „nur“ acht Millionen Bedürftige. Äthiopiens 100 Millionen Menschen starke Bevölkerung (die zweitgrößte auf dem afrikanischen Kontinent) konzentriert sich größtenteils auf dem Land. Die Menschen leben von dem, was ihre Parzellen hergeben.

In den Städten sind tausende von UniversitätsabsolventInnen trotz des Wirtschaftswachstums ohne Arbeit. Häufig stehen Studierende und junge Erwerbslose an der Spitze der Proteste. Als das Semester Anfang Oktober begann, ist es an den Hochschulen von Awasa, Jimma, Dire Dawa, Daula und andernorts zu Massenprotesten gekommen.

Proteste gegen den „Bebauungsplan“

Die letzten 12 Monate, in denen es zu Aufständen gekommen ist, haben damit begonnen, dass vom Regime versucht worden ist, noch mehr Grund und Boden in Beschlag zu nehmen. Es ist ein „Bebauungsplan“ aufgelegt worden, demzufolge die Hauptstadt Addis Abeba nach Süden hin, in den Bundesstaat Oromo hinein vergrößert werden soll. Die Verfassung hat das Land in neun Bundesstaaten unterteilt, die auf die größten ethnischen Bevölkerungsgruppen zurückzuführen sind. Die Oromo und Amhara sind die größten dieser Volksgruppen. Beide zusammen stellen mehr als 30 Prozent der Gesamtbevölkerung.

Dieser Bebauungsplan hat Massendemonstrationen hervorgerufen, an denen praktisch die gesamte Bevölkerung teilgenommen hat, vor allem junge Leute sowie Bäuerinnen und Bauern. Dabei sind mehr als 400 Menschen durch staatliche Kräfte getötet worden. Doch die Regierung sah sich gezwungen, einzuknicken und den Bebauungsplan im Januar formell zurückzuziehen. Die Proteste sind dadurch allerdings nicht beendet worden. Stattdessen ging es immer noch weiter: gegen staatliche Repression und mit dem Ziel, die Regierung zum Rücktritt zu bringen. Die Proteste haben sich sogar auf andere Teile des Landes ausgeweitet.

In einem Teil von Amhara, in Gondar, das zwangsweise in die Verwaltungsregion Tigray einverleibt worden ist, haben die Proteste bereits im Juli begonnen. Die Forderungen dort zielten auf eine Rückkehr ins Gebiet Amhara ab. Anfang August meinte das Regime, die Proteste seien „illegal“. Das Internet ist blockiert worden, was jedoch nicht verhindern konnte, dass es am Wochenende zu neuen Massendemonstrationen gekommen ist – sowohl in Amhara als auch in Oromo. Der Kommentar von Mohammed Ademo, äthiopischer Journalist, der im Exil lebt, dazu: „In meinem ganzen Leben – und ich war selbst einmal Teilnehmer an einer Demo und habe später Proteste mitorganisiert – habe ich nie erlebt, dass überall im Land und an ein und demselben Tag gleichzeitig Demonstrationen stattgefunden hätten“. In beiden Bundesstaaten waren auch Spruchbänder zu sehen, auf denen die Solidarität mit der jeweils anderen Seite ausgedrückt wurde.

Obwohl die Proteste in Amhara zur Selbstverteidigung bewaffnet waren, sind von staatlichen Kräften 98 Menschen getötet worden. dies geschah vor allem in der Verwaltungsregion Oromia. Das letzte Blutbad fand bei einer religiösen Zeremonie statt, zu der hunderttausende, wenn nicht gar Millionen von Menschen zusammengekommen waren und die sich zu einer Demonstration gegen das Regime ausweitete. Es gab Sprechchöre, in denen Freiheit und Gerechtigkeit gefordert wurde. Diese Zusammenkunft wurde mit Tränengas und Schlagstöcken angegangen. Menschenmengen wurden in einer tiefe Schlucht gejagt, wo viele zu Tode getrampelt worden sind. Das Regime behauptete, dass rund 50 Menschen umgekommen sind, während die Partei „Oromo Federal Congress“ von 678 Toten ausgeht.

Ausnahmezustand

Die Proteste haben sich weiterentwickelt, werden mittlerweile von Forderungen dominiert, die sich gegen die Regierung richten, und stehen nun für ein Ende der Korruption, eine Landreform, das Ende der Repression, Freiheit für die Festgenommenen sowie freie Wahlen.

Die Ausrufung des Ausnahmezustands wie auch die totale Blockade des Internet sind Zeichen der Angst, die das Regime antreibt. Der Ausnahmezustand erlaubt es der Polizei, jede Wohnung und jedes Haus durchsuchen zu können. Premierminister Hailemariam Desalegn sagte, die Proteste seien eine Bedrohung für die nationale Sicherheit. Er fügte hinzu, dass es „enormen Schaden an Eigentum“ gegeben habe. Demgegenüber schaden die Reaktionen des Regimes der Privatsphäre der Bevölkerung.

Äthiopien ist ein wichtiger militärischer Verbündeter des westlichen Imperialismus. Addis Abeba ist die Hauptstadt der Afrikanischen Union, die Truppen in Somalia hat. Das Land selbst erhält hunderte Millionen Dollar an Militärhilfe von den USA. Als US-Präsident Obama Äthiopien im vergangenen Jahr besuchte, lobte er die „demokratisch gewählte“ Regierung.

Trotzdem befürchten die westlichen Mächte, dass das Regime die Kontrolle verlieren könnte. Deshalb könnten sie eine Änderung der Strategie vorschlagen. Gerade erst hat die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel dem Land einen Besuch abgestattet. In den Medien wurde sie dabei dargestellt, als würde sie mit den ProtestteilnehmerInnen sympathisieren. Was sie tatsächlich getan hat, war, angesichts der deutschen Unternehmen, die in Äthiopien vertreten sind, ihre Besorgnis zum Ausdruck zu bringen. Und sie hat sich für eine „Mediation“ stark gemacht, wobei sie offengelassen hat, zwischen wem diese stattfinden solle.

Das äthiopische Regime macht häufig von den „Anti-Terror“-Gesetzen Gebrauch, um oppositionelle Kräfte aber auch JournalistInnen verhaften zu lassen. Die Bedingungen im Gefängnis sind schrecklich, und viele politische Gefangene befinden sich im Hunger-Streik. Unterdessen ist das Regime dazu übergegangen, das Militärregime im benachbarten Ägypten zu beschuldigen, hinter den Protesten zu stehen. Mit Ägypten gibt es seit längerem schon Konflikte wegen der Grenzregion am Ufer des Nils. Sollte die Unterstützung, die der Westen leistet, – und sei es nur auf der verbalen Ebene – bröckeln, so hofft das Regime auf dauerhafte Unterstützung seitens der autoritären Golfstaaten und Chinas.

Bislang ist die Taktik des Regimes, mit schweren Repressalien zu agieren, ins Leere gelaufen. Alle Schritte, die auf „Reformen“ hinauslaufen, werden nicht mehr reichen und kommen zu spät. Ein Symbol für den Aufstand hat der äthiopische Marathonläufer Feyisa Lilesa bei den letzten Olympischen Spielen gegeben, als er mit gekreuzten Armen die Ziellinie überschritt.

Gleichzeitig kommt es aber auch innerhalb der Protestbewegung zu Problemen. Die Proteste haben keine demokratische Führung oder gar ein klares Programm. Das Regime wird versuchen, die Proteste als Ausdruck ethnischer Spannungen darzustellen und parallel dazu Anstrengungen unternehmen, um diese Spannungen noch zu befördern. Dies wird sich in der Berichterstattung der westlichen Mächte und in den Medien niederschlagen. Entscheidend für die Bewegung wird es sein, für den gemeinsamen Kampf und für Solidarität einzutreten.

Es geht aber nicht nur um die Frage, wie das Regime gestürzt und demokratische Rechte erreicht werden können. Diese Ziele müssen natürlich ganz oben in einem revolutionären Programm erwähnt werden. Gefordert werden muss aber auch eine Landreform und das Recht, politische Parteien, Gewerkschaften und andere Organisationen gründen zu dürfen. Aus den Erfahrungen, die in Ägypten und Tunesien gemacht worden sind, müssen die richtigen Lehren gezogen werden. Die Bedeutung, die Gewerkschaften für den Kampf haben, darf nicht unterschätzt werden. Und die wesentliche Lehre muss lauten, dass jede Bewegung, die eine Diktatur zu Fall bringen will, auch das Militär und die Kapitalisten vor Ort zu demontieren hat. Dazu bedarf es des Kampfes der Arbeiterklasse, die sich auf demokratischer Grundlage organisieren und sich der Unterstützung durch die jungen Leute, die verarmten städtischen Schichten sowie der armen Bäuerinnen und Bauern sicher sein muss. Es ist ein Kampf gegen Imperialismus und Kapitalismus und für eine Zukunft, in der die enormen Ressourcen des Landes im Sinne aller eingesetzt werden können.