„Wer zahlt dann meine Rente?“

Foto: http://www.flickr.com/photos/w-tommerdich/ CC BY-NC-SA 2.0
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Fachkräftemangel, demographischer Wandel und was dahinter steckt

In der Flüchtlingsdebatte sprechen sich nicht nur Linke und antirassistische AktivistInnen dafür aus, Flüchtlinge aufzunehmen und (zumindest einem Teil von ihnen) eine Bleibeperspektive zu eröffnen. Die Begründungen dafür sind teilweise recht unterschiedlich.

von David Redelberger

Eine sehr prominente Begründung ist diese: „Wir müssen die Flüchtlinge aufnehmen und integrieren, weil unsere Gesellschaft wegen des demographischen Wandels sonst völlig überaltert.“ Diese Begründungen ist auf mehreren Ebenen problematisch: Erstens spielt sie dem Nützlichkeitsrassismus in die Hände – Menschen, in diesem Fall Geflüchtete, müssen ökonomisch verwertbar sein oder der Gesellschaft „nützen“ – ein ziemlich neoliberales Menschenbild also. Zweitens kann sie damit die Solidaritätsbewegung und die Geflüchteten selbst spalten, in „nützliche“ und „nicht nützliche“ Geflüchtete. Wenn dieser Gedanke zu Ende gedacht und unsere Gesellschaft dann genügend verjüngt ist, müssen die Menschen dann leider doch wieder abgeschoben werden? Drittens, und darum soll sich dieser Artikel drehen, ist der demographische Wandel nicht ganz so geradlinig, wie das in den Medien immer transportiert wird.

Ein Mangel ohne Mangel

Die Debatte um den demographischen Wandel hängt immer sehr eng zusammen mit der Klage über den „Fachkräftemangel“ und beide sind keine neuen Debatten, denn schon länger beklagt sich die deutsche Industrie über einen Fachkräftemangel: Anfang der 00er Jahre wurde deshalb unter Schröder die Greencard eingeführt1, um IT-Fachkräfte anzulocken, ab dem Jahr 2012 gab es dann mit der Bluecard eine erneute EU-Initiative für Fachpersonal im Bereich Ingenieurwesen und Medizin2.

Ulrike Bremer hat sich Mitte letzten Jahres in einer sehr sehenswerten Reportage für die ARD3 mit dem Phänomen und den offiziellen Zahlen von Wirtschaft und Agentur für Arbeit auseinandergesetzt. Ein Vertreter des Instituts für Wirtschaftsforschung stellt gleich zu Beginn fest, dass die Ingenieurstudiengänge eher mit Studierenden überlaufen sind und von Mangel an AbsolventInnen keine Rede sein kann. Interessant ist, was die Agentur für Arbeit unter „Mangel“ versteht: Dieser ist schon dann da, wenn es auf eine offene Stelle drei BewerberInnen gibt. Auch die absoluten Zahlen von offenen Stellen sind nicht so eindeutig, wie es den Anschein hat: Wenn der Verband Deutscher Ingenieure die offenen Stellen im Ingenieurswesen angibt, dann werden die offiziellen Zahlen der Arbeitsagentur vervielfacht, weil „ja nicht jede offene Stelle gemeldet werde“. Warum dann zum Beispiel früher mit sieben und mittlerweile mit fünf multipliziert wird, und wie diese Faktoren überhaupt zustande kommen, darüber bleibt der Verband und sein Wirtschaftsinstitut die Erklärung schuldig. Mit dem Faktor sieben kamen dann 90.000 offene Stellen in dem Bereich für das Jahr 2014 heraus.

Zur gleichen Zeit waren rund 22.000 IngenieurInnen erwerbslos.4 Die erwerbslosen IngenieurInnen wurden nun aber nicht mit sieben oder irgendeinem anderen Faktor multipliziert, weshalb solch eine große Lücke zwischen den beiden Zahlen entsteht. Diese Lücke macht keinen Sinn, wird aber in Pressemitteilungen gedruckt und bei Konferenzen verwendet und findet damit ihren Weg in Zeitungen und Medien.

So entsteht der Eindruck eines Fachkräftemangels, der eigentlich gar kein richtiger Mangel ist. Dass es nicht ganz so einfach sein kann, wird auch daran deutlich, wenn man die hohe Zahl von Erwerbslosen (offiziell 2,8 Millionen, inoffiziell 3,5 Millionen) und Unterbeschäftigten (2008 waren das über zwei Millionen) mit der vergleichsweise niedrigen Zahl an offenen Stellen (circa 600.000) kontrastiert.

Was dahinter steckt

Wenn es also keinen so allumfassenden Fachkräftemangel gibt, stellt sich nun aber die Frage, wieso Unternehmen und ihre Lobbyverbände dann so vehement darauf pochen. Die Antwort ist denkbar simpel: Trotz massiver Gewinne und Profite im Krisenzeitraum sind ihnen das allgemeine Lohnniveau und die Kosten pro erwerbstätiger Person an sich zu hoch. Das zeigt sich am Anwerben von Nicht-EU-Fachkräfte durch die Bundesregierung. Die Resonanz auf die oben genannte Bluecard war denkbar schlecht (bis Ende 2013 wurde sie nur von ungefähr 7000 Menschen in Anspruch genommen5). Nun wurde die Untergrenze des Jahresgehalts von 66.000 Euro auf 47.600 Euro gesenkt, für IngenieurInnen sogar auf 32.000 Euro.6 Von Gewerkschaftsseite aus wurde dieser Schritt als „Einladung zum Lohndumping“ kritisiert.7 Als wäre die deutlich schlechtere Bezahlung an sich schon nicht schlimm genug, benutzen Unternehmen angeworbene Fachkräfte, um Druck auf die Löhne von bereits hier lebenden Menschen zu machen. So legen diese, bewusst oder unbewusst, Grundlagen für rassistische Hetze und Spaltung.

Ausbildung

Auch Ausbildung und Anlernen von Neueingestellten ist deutschen Unternehmen zu teuer. Auch und gerade hier zeigt sich Deutschlands Rolle innerhalb Europas: Begonnen mit der Agenda 2010 und den darauffolgenden Bildungs“reformen“ gibt es in der Ausbildung Turboabitur und Ausrichtung auf Wirtschaftsinteressen und später auf dem Arbeitsmarkt Praktika, befristete Stellen und den allgemeinen Trend zur Prekarisierung von neu eingestellten Beschäftigten. Natürlich sollen auch MigrantInnen dieser Logik folgen und nach der Anwerbung aus Südeuropa erstmal hier ein Praktikum machen. Die deutsche Wirtschaft ist nicht bereit, Menschen eine gute Ausbildung zukommen lassen, wohl aber bereit, Menschen andernorts gut ausbilden zu lassen (weil sie das nichts kostet) und sie dann hier bei schlechter Bezahlung einzustellen.

Wirklicher Fachkräftemangel

Wie die ARD-Reportage aber auch gut zeigt, gibt es natürlich Bereiche, in denen ein realer Fachkräftemangel herrscht. So gibt es beispielsweise durch die Deindustrialisierung und dem damit verbundenen Fortzug von Menschen teilweise tatsächlich Betriebe in Ostdeutschland, die nicht die nötigen BewerberInnen für ihre Stellen finden können.8 Auch gibt es bestimmte Bereiche, in denen es für viele momentan nicht attraktiv ist, zu arbeiten. Die Gewerkschaft ver.di hat ja korrekterweise darauf hingewiesen, dass in der Pflege bundesweit ca. 162.000 mehr besetzte Stellen nötig wären, um die KollegInnen zu entlasten und PatientInnen angemessen zu versorgen.9 Innerhalb der Pflege wiederum ist die Alterspflege besonders betroffen, da hier die Bezahlung und die Arbeitsbedingungen nochmal vergleichsweise schlechter sind. Auch diese Probleme sind „hausgemacht“: Eine attraktive Ausbildung, vor allem aber eine gute Bezahlung und deutlich verbesserte Arbeitsbedingungen würden den Bereich attraktiver machen für viele junge Menschen, die dem bitteren Personalmangel entgegenwirken könnten. Ebenso unter den Ärztinnen und Ärzten gibt es Fachkräftemangel und hier ist er ebenso wieder hausgemacht: Das deutsche Bildungssystem verwehrt vielen interessierten Studierenden den Zugang zum Medizin-Studium, da dieses mit den höchsten Numerus Clausus hat.

Weniger schlimm, als er klingt: Demographischer Wandel

Wie verhält es sich mit dem sogenannten demographischen Wandel? Dieser besagt, dass sich die Altersstruktur der Gesellschaft in den nächsten Jahrzehnten ändern wird und wird deshalb oft zusammen mit Fachkräfte- bzw. Arbeitskräftemangel diskutiert, aus dem Grund, dass eine überalterte Gesellschaft anteilig mehr RentnerInnen und weniger ArbeiterInnen haben wird. Auch diese Debatte ist nicht neu. Schon in den 80ern wurde gewarnt, dass die Jugend ausstirbt, eine Prognose, die regelmäßig neu wieder gekaut wird. Mit viel Dramatik wird dann erklärt, dass dringende Reformen notwendig seien, oder eine unausweichliche Katastrophe für das Rentensystem und die Gesellschaft an sich drohen. Häufig mischen sich solche Statements dann mit viel unterschwelliger Werbung für die private Rentenversicherung, aber das soll hier nicht das Thema sein.10 Schaut man sich die Zahlen dann mal konkret an, wird klar, dass für den Bereich der Jugend der krasse demographische Wandel bereits hinter uns liegt: Der Anteil von Menschen unter 20 ist zwischen 1980 und 2000 deutlich stärker zurückgegangen, als für die kommenden Jahre prognostiziert wird.

Es ist eigentlich nicht weiter verwunderlich, dass es demographischen Wandel schon länger gibt, weil sich die Menschheit weiterentwickelt hat und sie durch wissenschaftlichen und technischen Fortschritt immer länger lebt. Auch einschneidende Ereignisse im letzten Jahrhundert wie der erste Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er Jahre und Faschismus und Zweiter Weltkrieg haben die Demographie in der Bevölkerung schlagartig und stark verändert.

Grafik des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung von 2013
Grafik des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung von 2013

Was jedoch stark verwundert: Die Grafik macht Vorhersagen für 45 Jahre in die Zukunft. Vergleichen wir das retrospektiv, müssten StatistikerInnen und SoziologInnen im Jahr 1970 konkrete Aussagen über das Zusammenleben unserer Gesellschaft heute gemacht haben. Diese Personen hätten die Entwicklung und Verbreitung von Heimcomputern, des Internets, der Automatisierung der Arbeitswelt usw. vorhersagen und miteinbeziehen müssen – vergleichsweise schwer. Sie hätten ebenso den Zusammenbruch der stalinistischen Staaten vorhersagen müssen und die großen Auswirkungen auf Geburtenrate und Migration, die er hatte. Auch Kriege und Umweltzerstörung als Ursachen für Wanderungsbewegungen hätten vorhergesagt werden müssen. Eben das aber geben Menschen vor zu wissen, wenn sie solche Grafiken erstellen.11 Dementsprechend gering ist Aussage- und Vorhersagekraft dieser und ähnlicher Grafiken.

Die Rohdaten stammen aus Zahlen des statistischen Bundesamts, welches diese regelmäßig veröffentlicht. Die jüngste Veröffentlichung mit der Bevölkerungsvorausberechnung für das Jahr 2060 liegt der eben diskutierten Grafik zu Grunde12. An diesen Zahlen findet der Statistik-Professor Gerd Bosbach weitere Kritik: In die Veröffentlichung sind nur zwei von acht möglichen Entwicklungsszenarien eingeflossen, nämlich diese mit einer jährlichen Zuwanderung von 100.000 und 200.000 Menschen. Er schreibt korrekterweise: „Von 1991 bis 2013 betrug der durchschnittliche Zuwanderungssaldo 232.633 !!! Bei angeblichem großen Arbeitskräftemangel in der Zukunft hätte man auch die gerechneten Ergebnisse mit höherer Zuwanderung (300.000) der Öffentlichkeit präsentieren können.“13 Das macht aber auch deutlich, dass alle ernsthaften Untersuchungen eine Zuwanderung als gesellschaftlich notwendig betrachten, um den Folgen des demographischen Wandels der einheimischen Bevölkerung zu begegnen.

Produktivität ist gestiegen

Bei all dem wird aber das entscheidendste in der Debatte um den demographischen Wandel häufig übersehen: In derselben Zeit, in der unsere Gesellschaft altert, steigt auch die Produktivität. Laut Statistischem Bundesamt ist die Produktivität pro einzelnen Erwerbstätigen zwischen 1991 und 2011 um 22,7 Prozent gestiegen.

Die Produktivität pro einzelner Erwerbstätigenstunde, also wie viel eine einzelne arbeitende Person pro Stunde produziert, ist im selben Zeitraum sogar um 34,8 Prozent gestiegen.14 Es wäre also auch in Zukunft möglich, in einer alternden Gesellschaft den Lebensstandard aufrecht zu erhalten bzw. zu steigern, weil mit weniger Arbeitskräften und in weniger Arbeitszeit gleich viel bzw. mehr produziert werden kann. Gerade die momentane Tendenz zur Automatisierung, zur Robotisierung und zur Fernsteuerung mit Hilfe des Internets bietet Potenzial für enorme Produktivitätssteigerungen. Das Dilemma im Kapitalismus ist dann nun aber leider, dass diese Entwicklung nicht dazu führen wird, dass die vorhandene, weniger werdende Arbeit auf alle aufgeteilt wird, sondern dass die Tätigkeiten von mehr und mehr Menschen durch Roboter ersetzt werden. Da es auch kein Interesse im Kapitalismus gibt, alle Menschen mit guter Arbeit zu versorgen und den erwirtschafteten Reichtum unter anderem für auskömmliche Renten einzusetzen, kann sich der demographische Wandel überhaupt erst als Schreckensszenario entfalten.

Die Kapitalisten haben auch selber Sorgen hinsichtlich dieser Entwicklung und befürchten, dass es zu einem Arbeitskräftemangel kommen könnte, der ihre Profitaussichten schmälert. Auch deshalb befürworten sie eine begrenzte Zuwanderung. Das macht sie aber weder zu Antirassisten, noch werden sie nicht trotzdem versuchen, MigrantInnen als LohndrückerInnen zu missbrauchen.

Zusammenfassend lässt sich über den demographischen Wandel also festhalten, dass er schon länger passiert und nicht zum Zusammenbruch der Rentenversicherung geführt hat. Mit Zukunftsprognosen sollte allerdings vorsichtig umgegangen werden und kritisch geprüft werden, ob diese überhaupt Sinn ergeben. Als SozialistInnen wissen wir zudem um die Instabilität und Krisenhaftigkeit des Kapitalismus und so entstehenden plötzlichen Veränderungen in der objektiven Lage. All das ist nicht für 45 Jahre im Voraus absehbar.

Gegen Spaltung und Rassismus

Bei beiden Themenfeldern muss zentral für SozialistInnen sein, dass sich die Arbeiterklasse nicht spalten lässt, nicht in „gute“ und „schlechte“ Geflüchteten, nicht in MigrantInnen auf der einen und NichtmigrantInnen auf der anderen Seite. Gerade auf potentielles Lohndumping mit ausländischen Fachkräften darf nicht Rassismus, sondern muss Solidarität die Antwort sein. Denn es zeigt sich ja, dass wir mit denselben Problemen zu kämpfen haben, egal ob Deutsche oder Nichtdeutsche: BerufsanfängerInnen sollen mit Praktika und befristeten Stellen abgespeist werden, Löhne sollen für alle gleichermaßen gedrückt werden. Auf gemeinsame Probleme muss eine gemeinsame, vereinte Gegenwehr erfolgen.

Denn eins ist klar: Arbeit ist genug für alle da. Wenn die gesellschaftlich anfallende Arbeit auch auf die gesamte Gesellschaft verteilt werden, und alle könnten weniger und entspannter arbeiten. Innerhalb des Kapitalismus ist das natürlich nicht möglich.

Ein Grund mehr also, für eine sozialistische, demokratische Gesellschaft zu kämpfen, in der nicht mehr der Profit weniger, sondern die Bedürfnisse aller im Zentrum stehen.

David Redelberger ist Mitglied im Kreisvorstand der LINKEN Kassel und des SAV-Bundesvorstands.
1 https://de.wikipedia.org/wiki/Greencard_(Deutschland)
2 https://de.wikipedia.org/wiki/Blaue_Karte_EU
3 Bremer, U. (2014). Die Story im Ersten: Der Arbeitsmarktreport – das Märchen vom Fachkräftemangel
4 ebenda
5 http://www.heise.de/newsticker/meldung/BA-Chef-Weise-Nur-7000-Zuwanderer-mit-Blue-Card-2073163.html
6 Bremer, U. (2014). Die Story im Ersten: Der Arbeitsmarktreport – das Märchen vom Fachkräftemangel
7 http://www.spiegel.de/karriere/ausland/it-fachkraefte-blue-card-lockt-kaum-spezialisten-aus-indien-an-a-832090.html
8 Bremer, U. (2014). Die Story im Ersten: Der Arbeitsmarktreport – das Märchen vom Fachkräftemangel
9 https://gesundheit-soziales.verdi.de/branchen/krankenhaeuser/++co++98f9a426-ce25-11e4-9093-52540059119e
10 Diese und ähnliche Prognosen wurden sehr gut auseinandergenommen von Gerd Bosbach und Jens Jürgen Korff in ihrem Buch Lügen mit Zahlen. (2011) HEYNE Verlag, München, 5. Auflage.
11 Bosbach, G., Korff, J. J., (2011). Lügen mit Zahlen. HEYNE Verlag, München, 5. Auflage.
12 Pressemitteilung Nr. 153 des Statistischen Bundesamts vom 28. April 2015
13 http://www.luegen-mit-zahlen.de/blog/neue-bevoelkerungsvorausberechnung-des-statistischen-bundesamtes
14 Pressemitteilung Nr. 149 des Statistischen Bundesamts vom 30.04.2012