Die Flüchtlingskrise ist eine weitere beschämende Folge des Kapitalismus

NigeriaEin Beitrag aus nigerianischer Sicht

Dieser Artikel erschien in der Oktober / November Ausgabe der nigerianischen Zeitung Socialist Democracy und am 3. November online auf der englischsprachigen Webseite socialistnigeria.org. Lanre Arogundade liefert hiermit einen Beitrag zur allgemeinen Debatte um die aktuelle Flüchtlingskrise, bei der immer wieder auch Ängste und Nöte geäußert werden. Arogundade bietet demgegenüber eine sozialistische Perspektive und Analyse für die Arbeiterklasse an, bei der einige der wesentlichen Aspekte dieser Krise aufgegriffen werden.

Schlimmer als nach dem Zweiten Weltkrieg

Die Zahlen, die in den Mainstream-Medien gemeinhin zu den aktuellen Migrationsströmen beziehungsweise über Flüchtlinge verbreitet werden, die in Europa Schutz und Asyl suchen, gehen von rund einer halben Millionen Menschen aus. Doch die Realität und die wahrscheinlich unerzählte Geschichte malen ein viel dunkleres Bild. Demnach geht es um die größte Migrationsbewegung seit Jahrzehnten, wenn nicht gar um die größte seit 100 Jahren. Ganz zu schweigen vom finsteren Schicksal von Millionen von Vertriebenen im eigenen Land, die überall auf der Welt anzutreffen sind.

von Lanre Arogundade, Sprecher der NUJ („Nigeria Union of Journalists“) in Lagos, Direktor des IPC („International Press Centre“) und Mitglied des DSM („Democratic Socialist Movement“; Schwesterpartei der SAV und Sektion des CWI in Nigeria)

Dies ist die so oft verschwiegene Wahrheit, die „Fortune“, ein US-amerikanisches und kapitalistisch geprägtes Online-Magazin wie folgt interpretiert: „[…] die derzeitige Anzahl an Flüchtlingen und Vertriebenen bewegt sich auf einem Niveau, das seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr erreicht worden ist“. Es ist jedoch eine Tatsache, die von FotografInnen und verschiedenen konventionellen wie auch sozialen Medien gestützt wird, dass es Nöte und Härtefälle gibt, von denen ansonsten nicht berichtet wird, unter denen MigrantInnen aber zu leiden haben, die verzweifelt versuchen mörderischen Kriegen, wirtschaftlicher Not und menschlichen Entbehrungen im Nahen Osten, Südosteuropa, Afrika und anderswo zu entkommen.

Es ist kein Wunder, dass „Eurostat“, die Statistikbehörde der EU, feststellt, von Januar bis August dieses Jahres seien die meisten Asylsuchenden in Europa aus Syrien, Kosova, Afghanistan, dem Irak, Eritrea, der Ukraine und aus Nigeria gekommen. Das Magazin „Fortune“ liefert die weiteren Details, nach denen die Syrien-Krise am stärksten sichtbar wird, weil sie schätzungsweise zwölf Millionen Menschen betrifft. Vier Million davon sind Flüchtlinge und acht Millionen Vertriebene im eigenen Land.

Eine weitere Folge der Krise in Syrien besteht darin, dass mehr als ein Viertel der ehedem vier Millionen zählenden Bevölkerung im Libanon nun aus syrischen Flüchtlingen besteht. Es sind allerdings tausende MigrantInnen im Mittelmeer umgekommen und kommen dort weiterhin im verzweifelten Versuch ums Leben, koste es, was es wolle, um von Afrika aus den europäischen Kontinent zu erreichen, schon lange bevor die Bilder von Flüchtlingen in Europa die Welt schockiert haben. Angesichts der Tatsache, dass wir es zur Zeit nicht mit einem Weltkrieg zu tun haben, ist es eine immense Untertreibung zu sagen, dass die Flüchtlingskrise „einfach nur“ eine Schande ist.

Geheuchelter Humanismus

Noch beschämender ist dabei der Eindruck, den europäische Regierungen und andere kapitalistische Weltmächte machen, die so tun, als würde es sich um einen Akt der Menschlichkeit handeln, wenn sie MigrantInnen bei sich aufnehmen.

In Wirklichkeit waren sie zunächst abgeneigt, konkrete Hilfe anzubieten, bis der Druck aus der eigenen Bevölkerung aufgrund der täglichen Bilder von Ertrinkenden im Mittelmeer zunahm. Als bekannt wurde, dass der Familie des fünfjährigen kurdischen Jungen, dessen toter Körper an die türkische Küste angespült wurde, Anfang September von der Regierung Kanadas das Recht auf Asyl verweigert worden ist, waren vor allem AktivistInnen und „einfache“ BürgerInnen in ganz Europa und darüber hinaus empört.

„Galip Kurdi, fünf Jahre alt, und sein drei Jahre älterer Bruder Aylan starben wie ihre Mutter Rehan und zehn weitere Flüchtlinge, als ihr Boot, beim Versuch auf die griechische Insel Kos zu kommen, kenterte. Die Familie war aus Kobane in Syrien geflohen, weil der >Islamische Staat< (IS) wiederholt angegriffen hatte“, so der Bericht der „International Business Times“.

Doch trotz der Tatsache, dass einige MigrantInnen nach Europa reingelassen worden sind, wurden sie Opfer gewaltsamer Repression, körperlicher Übergriffe und anderer Formen von Schikanierungen vor allem in den Grenzstaaten Ungarn, Griechenland und anderen, wo man befürchtet, dass sich die meisten MigrantInnen, die eigentlich nach Deutschland wollen, zum Verbleib in diesen Ländern entscheiden könnten. Dem Widerstand tausender Flüchtlinge ist es geschuldet, dass schließlich anders verfahren worden ist: Sie versuchten nichts anderes, als auf langen Wegen an ihr Ziel zu gelangen.

In einem Land wie Australien, sind die dortigen MigrantInnen tatsächlich in Lager außerhalb des Landes gesteckt worden, die als „Internierungslager“ bezeichnet werden können. Dieses Vorgehen hat auch dort unter AktivistInnen zu Empörung geführt. Die Kehrseite besteht darin, dass die meisten europäischen Regierungen auch dafür bekannt sind, regelmäßig zu reaktionären Maßnahmen gegen EinwanderInnen zu greifen, die sich bereits in den jeweiligen Ländern befinden. So übt seit kurzem zum Beispiel Großbritannien eine Politik nach dem Motto „Erst Abschiebung, dann Antragstellung“ aus, was zur Ausweisung tausender sogenannter illegaler EinwanderInnen aus dem Vereinten Königreich führen kann.

In der Bevölkerung gibt es natürlich genügend Ängste, die man ausnutzen kann: Manche aus der Bevölkerung vor Ort sorgen sich, AusländerInnen könnten ihnen die Arbeit wegnehmen, der Grund für zu wenig Wohnraum sein und manchmal geht es auch um hysterische Ängste, die mit religiösen Aspekten zu tun haben. Das ist vor allem auf das Ereignis des 11. September 2009 und das Aufkommen des „Islamischen Staat“ zurückzuführen.

Die Schuldigen müssen benannt werden

Deshalb ist es wichtig, die Gründe zu benennen, die Schuld sind an der Flüchtlingskrise. Zuallererst ist da der „Krieg gegen den Terror“, der mehr Probleme geschaffen hat als sie zu lösen. Mit diesem Ansatz war es nicht möglich, mit den spürbaren Folgen, die aus dem Ende der Diktaturen im Irak und Afghanistan resultierten, fertig zu werden. Stattdessen sind Gesellschaften zurückgeblieben, die sich als wesentlich zersplitterter als zuvor darstellen. Die nachrückenden Regierungen sind nicht in der Lage, irgendeines der fundamentalen Probleme zu lösen, mit der die Gesellschaften dort zu tun haben. Vor diesem Hintergrund konnte der „Islamische Staat“ aufsteigen und unerwartet stark anwachsen. Im Gegensatz zu „Al Quaida“ versucht diese Struktur sogar ganze Staaten zu übernehmen und politisch an Raum zu gewinnen. So breitet der IS seine Aktivitäten in großen Regionen aus und beschränkt sich dabei nicht nur auf den Irak, Libyen, Syrien und sogar Nigeria, wo man in Form von „Boko Haram“ einen willfährigen Partner und ein passendes Werkzeug gefunden hat.

Bei all dem steht Syrien für eine Art absurdes Theater, in dem die imperialistischen Mächte sich zynische wenn nicht gar Stellvertreter-Kriege leisten, ohne dabei auch nur einen Gedanken an die Masse der darunter leidenden Menschen zu verlieren. Bei Syrien handelt es sich heute daher um einen Staat mit vielen Armeen: die von Assad und der „Hisbollah“ und indirekt auch die des Iran und Russlands. Hinzu kommen die Rebellen-Gruppen, die gegen Assad kämpfen und von den USA und Europa unterstützt werden. Daneben gibt es noch Dschihadisten, die nicht dem „Islamischen Staat“ angehören und von der Türkei bzw. Saudi Arabien gepusht werden. Schließlich gibt es da noch den „Islamischen Staat“.

Die Zerstörungen, Menschenrechtsverletzungen und unterschiedlichen Gewaltakte, die auf das Konto dieser „Armeen“ gehen, haben definitiv zu der umfassenden Flüchtlingskrise beigetragen, die die Menschheit derzeit erleben muss.

Andererseits ist allgemein bekannt, dass die Jahrzehnte, in denen – vor allem auf Geheiß von „Internationalem Währungsfonds“ und der „Weltbank“ – eine neoliberale Politik verfolgt worden ist, mit Privatisierungen und der Kommerzialisierung der Schlüsselindustrien einhergegangen sind. In den afrikanischen Ländern südlich der Sahara hat dies die Armut in großem Umfang verschärft. Auch wenn es auch nationale und oder religiöse Aspekte gibt, die in manchen Regionen zu Konflikten führen, so kann dennoch nicht geleugnet werden, dass die tieferen Wurzeln des Terrorismus in die ärmsten Gebiete der Welt zurückzuverfolgen sind. Deshalb befindet sich die Basis von „Boko Haram“ in Nigeria auch im Nordosten des Landes, der dafür bekannt ist, dass es hier massenhaft verarmte und unausgebildete junge Menschen gibt.

Neuer Auftrieb für Solidarität in der Arbeiterklasse

Auf allen Kontinenten und vor allem in Europa können das Mitgefühl und die Unterstützung, die den MigrantInnen entgegengebracht werden, als neue Triebfeder für Solidarität unter der internationalen Arbeiterklasse dienen. Darüber kann das vereinte Handeln als gesellschaftliche Klasse länderübergreifend in Gang gebracht werden, um zusammen den Terrorismus, zerstörerische Kriege und die schamlose Ausbeutung durch den Kapitalismus zu beenden. Nur durch solche Initiativen, mit denen bewusst die Zielsetzung verfolgt wird, den Bevölkerungen und der Arbeiterklasse die demokratische Kontrolle und Verwaltung der Gesellschaft zu übertragen, können die Grundlagen für demokratischen Austausch und Maßnahmen zur Beendigung der Flüchtlingskrise geschaffen werden.