Ägypten: Keine Begeisterung über neue Verfassung

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Dieser Artikel erschien zuerst am 22. Januar in englischer Sprache auf socialistworld.net

Immer mehr ArbeiterInnen und junge Leute werden zu der Erkenntnis gelangen, dass die Arbeiterklasse ihre Interessen selbst durchsetzen muss.

von David Johnson, „Socialist Party“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in England und Wales)

Es konnte niemanden überraschen, dass 98 Prozent der WählerInnen in Ägypten bei der Abstimmung vergangener Woche für die neue Verfassung gestimmt haben. Fast drei Jahre nach dem Beginn der Massenbewegung der ägyptischen Bevölkerung, die zum Sturz des langjährigen Diktators Husni Mubarak führte, sehnen sich viele nach stabileren Verhältnissen. Doch die niedrige Wahlbeteiligung von nur 38,5 Prozent zeigt, dass ein große Zahl an ÄgypterInnen sich nicht für die neue Verfassung begeistern lässt. Viele sind sogar offen gegen sie.

Die „Muslimbruderschaft“ (MB) boykottierte die Wahl. In den weniger industrialisierten Regionen, wo die MB die meiste Unterstützung bekommt, lag die Wahlbeteiligung bei knapp 20 Prozent. Unter den aktivsten Teilen, die sich an der Revolution von 2011 beteiligten und die noch unter 30 Jahre alt sind, lag die Wahlbeteiligung inoffiziellen Berichten zufolge bei lediglich 19 Prozent.

Auf der Welle der massiven Proteste gegen Präsident Mursi von der MB, zu denen es am 30. Juni 2013 kam, segelten die führenden Offiziere der Armee mit, um eine vom Militär gestützte Regierung unter der Führung von General Abdel Fattah el-Sisi zu installieren. Sie gerierten sich als Verteidiger des ägyptischen Volkes gegen eine gänzliche Machtübernahme durch die MB. Das Fehlen einer unabhängigen Organisation der Arbeiterklasse bei den Demonstrationen, sei es durch Gewerkschaften oder eine Arbeiter-Massenpartei, erlaubte es den Offizieren, in das Vakuum zu stoßen, das durch den Zusammenbruch der MB-Regierung geschaffen wurde. Nach dem massiven Druck der Millionen von ArbeiterInnen, die auf die Straße gegangen waren, kündigten die Offiziere Maßnahmen wie z.B. die Anhebung des Mindestlohns im Bereich des öffentlichen Dienstes (jedoch nicht für die Beschäftigten in der Privatwirtschaft) an.

Nun versuchen diese Offiziere, ihre Position auszubauen. Die neue Verfassung, die von einem nicht gewählten Komitee ohne VertreterInnen der unabhängigen Gewerkschaften geschrieben wurde, erlaubt es dem Militär weiterhin, seine umfassenden wirtschaftlichen Interessen geheim zu halten. Das Militär und nicht ein gewähltes Parlament bestimmen darüber, wer das Amt des Verteidigungsministers inne hat. Die unter der Mubarak-Diktatur so gefürchteten Militär-Tribunale gegen ZivilistInnen wird es auch mit der neuen Verfassung noch geben. Obwohl das Streikrecht als solches auch definiert wird, erlaubt es die Verfassung der Regierung zu bestimmen, wie diese „Rechte“ zur Geltung gebracht werden dürfen.

Strenge neue Gesetze regeln, wie das Demonstrationsrecht interpretiert wird. So müssen die OrganisatorInnen von Protesten 24 Stunden vorher eine polizeiliche Erlaubnis einholen, detailliert über Beginn und Abschlusszeiten Auskunft geben, die Demoroute festlegen sowie die Namen der OrganisatorInnen angeben. DemonstrantInnen, die sich über dieses neue Gesetz hinweggesetzt haben, sind zusammengeschlagen und in Haft sexuell drangsaliert worden. Auch JournalistInnen, denen eine Nähe zur MB nachgesagt wurde, sind verhaftet worden.

Verfolgung von jungen Leuten und linken AktivistInnen

Zwar sind die Schläge gegen führende MB-Vertreter, die als „Terroristen“ bezeichnet wurden, im Großen und Ganzen befürwortet worden. Die Polizei und die Sicherheitskräfte haben ihre neu errungene Machtposition aber auch ausgenutzt, um junge Leute und politische AktivistInnen zu verhaften. An den Universitäten kommt es beinahe täglich zu Protesten, die meist von Studierenden, die die MB unterstützen, aber auch von liberalen und sozialistischen Studierenden durchgeführt werden. Die Sicherheitskräfte haben das Hochschulgelände gestürmt, Proteste und AktivistInnen auch außerhalb der Universität angegriffen. Stück für Stück wird das repressive Regiment von Mubarak wieder installiert.

Im April 2013, einige Woche vor den riesigen Demonstrationen, durch die Mursi aus dem Amt gedrängt wurde, kam es zu 448 Protesten, Streiks, Blockaden und Besetzungsaktionen von ArbeiterInnen. Im Dezember gab es derer nur elf, wozu allerdings auch der bedeutende Streik von 5.000 Beschäftigten bei „Egyptian Iron and Steel“ zählte (vgl.: „Egyptian Centre for Social and Economic Rights“).

Die wirtschaftliche Lage bleibt düster. Die Löhne und Arbeitsbedingungen der ArbeiterInnen stehen weiter unter Beschuss, auch Subventionen auf Haushaltsgas und Lebensmittel sind im Visier. Die herrschende Klasse trachtet mit Hochdruck danach, eine Regierung zu bekommen, die solche Angriffe per Gesetz legitimieren wird.

Innerhalb der herrschenden Klasse existieren allerdings Gruppierungen mit unterschiedlichen Interessen. Ranghohe Offiziere kontrollieren die Industriebranchen, die sich im Besitz des Militärs befinden. Unter Mursi bestand ihre Herausforderung in der Existenz der reichen Geschäftsleute von der MB. Ein anderer Teil unter den Konzernvertretern identifiziert sich weder mit dem Militär noch mit der MB. Sie haben ihren Einfluss dennoch im Sinne von Sisi geltend gemacht, damit dieser zum neuen Präsidenten wird. Wahrscheinlich steht in Kürze eine Präsidentschaftswahl an. Es wird davon ausgegangen, dass Sisi am 25. Januar, dem Jahrestag des Beginns der Aufstände gegen Mubarak, seine Kandidatur erklären wird.

Sisi hofft, mit einem ähnlich guten Ergebnis wie beim Verfassungsreferendum gewählt zu werden. Das würde seine Herrschaftsansprüche untermauern und die Kürzungen und repressiven Maßnahmen ermöglichen, die der ägyptische Kapitalismus zum Überleben braucht. Doch die ArbeiterInnen und die jungen Menschen haben schon Mubarak und Mursi zum Teufel gejagt. Sie werden ihre Rechte nicht kampflos preisgeben.

Will man die Lehre aus den Entwicklungen der letzten drei Jahre ziehen, so muss festgehalten werden, dass eine größer werdende Anzahl an revolutionären ArbeiterInnen und jungen Leuten zu der Schlussfolgerung gelangen wird, dass die Arbeiterklasse ihre Interessen selbst durchsetzen muss und nicht von dem einen oder anderen Flügel der kapitalistischen Klasse aufgesogen werden darf. Die Beschäftigten müssen ihre eigenen Organisationen aufbauen. Dazu muss auch eine Massenpartei mit einem Programm gehören, das für den demokratisch-sozialistischen Wandel steht und mit dem alle Kämpfe der ArbeiterInnen zusammengeführt werden können. Auf diese Weise kann eine nicht mehr aufzuhaltende Bewegung in Gang gebracht werden, die eine Regierung aus ArbeiterInnen und verarmten Schichten hervorbringt.