Die USA nach der Tragödie von Boston

by Aaron "tango" Tang; Creative Commons Attribution 2.0 Generic
by Aaron “tango” Tang; Creative Commons Attribution 2.0 Generic

Nein zu Rassismus und staatlicher Repression

In Boston trug die vergangene Woche fast surreale Züge: Beim Stadt-Marathon am Montag wurde ein grausamer Anschlag verübt, der weder in dieser Stadt noch irgendwo anders auf der Welt geschehen darf. Begonnen damit, dass Menschen in Richtung der Orte zurannten, an denen die Bomben detonierten, um den Hunderten von Verwundeten „Erste Hilfe“ zu leisten, folgten zahllose Akte der Solidarität. MarathonläuferInnen ertrugen es, weitere zwei Kilometer zurückzulegen, um Blut zu spenden, und etliche BostonerInnen öffneten ihre Wohnungen, um Notleidende bei sich aufzunehmen.

von Bryan Koulouris, Boston, „Socialist Alternative“ (US-amerikanische UnterstützerInnen des „Committee for a Workers´ International“, dessen Sektion in Deutschland die SAV ist)

Von Kabul über Bagdad bis hin zum New Yorker Stadion des Baseballteams der Yankees: Die Absenderadressen von Solidaritätserklärungen, die in Boston eingingen, stammten von Menschen aus allen Teilen der Welt. Unterdessen verlangen die medizinischen Versorgungsunternehmen ein Heidengeld für dringend benötigte Operationen. Während die Opfer gezwungen sind, bei anderen arbeitenden Menschen um Spenden zu bitten, machen die Milliardäre auch noch ihren Reibach mit dieser Tragödie.

Eines der drei Todesopfer dieser Bombenanschläge ist der achtjährige Martin Richard, der aus dem Arbeiterviertel Dorchester kam. Das Foto von Martin, das ihn zeigt, wie er nach dem rassistischen Mord an Trayvon Martin ein selbstgemachtes Plakat trägt, auf dem zum Frieden in der Welt aufgerufen wird, ist um die Welt gegangen und zu einem der bleibenden Eindrücke geworden, die man mit dieser Tragödie in Verbindung bringt. Bedauerlicherweise folgten unmittelbar auf den Tod von Martin Richard rassistisch motivierte Übergriffe.

Am Montag ist ein Student aus Saudi Arabien angegriffen worden, weil er sich „verdächtig verhalten“ habe. Sein „Vergehen“ war, dass er vom Ort der Explosionen fortgelaufen ist und in unmittelbarer Nähe des Zieleinlaufs des Marathons „nach explosivem Material gerochen“ habe. Der erste Tag der Untersuchungen wurde damit verschwendet, dass man sich auf diese falsche Spur kaprizierte, die durch ein rassistisch motiviertes Täterprofil angeheizt wurde.

Durch die Berichterstattung (vor allem auf dem Sender CNN) wurden durchweg Islamophobie und ausländerfeindliche Reflexe geschürt. So wurden persönliche Informationen über den saudischen Mann veröffentlicht und wiederholt falsche Berichte über Verdächtige und Festnahmen herausgegeben. In einem dieser Berichte wurde geäußert, dass ein „dunkelhäutiger Mann“ unter den flüchtigen Verdächtigen sei. Am selben Tag konnte man beobachten, wie die Polizei von Boston junge Afro-AmerikanerInnen und Latinos anhielt und durchsuchte. Es herrschte eine Atmosphäre wie in einer militarisierten Gesellschaft.

Krieg, Gewalt und Terror

SozialistInnen verurteilen diese terroristische Gräueltat aufs Schärfste. Was auch immer die Motive sein mögen, die hinter dieser Tat standen: Solche Gewaltakte sind durch und durch reaktionär. Die ersten Opfer waren „einfache“ Menschen aus dem arbeitenden Teil der Bevölkerung. Terroristische Methoden wie das Bombenattentat von Boston spielen rechtsgerichteten Kräften in die Hände, die danach trachten, rassistische und nationalistische Stimmungen in der Gesellschaft zu entfachen. Das dient nur der Schwächung der Arbeiterklasse und stärkt somit die Position der Konzerne.

Die Medien stellen Spekulationen darüber an, dass die Täter möglicherweise durch eine rechtsgerichtete, islamistische und terroristische Ideologie motiviert gewesen sein können, namentlich durch das Leid des hauptsächlich muslimisch geprägten tschetschenischen Volkes gegen die brutale Repression durch den russischen Staat in ihrem Land.

Sollten derartige Behauptungen der Wahrheit entsprechen, so werden die in Boston verübten Anschläge in keinster Weise dazu beitragen, den US-Imperialismus oder die Unterdrückung der Völker Tschetscheniens, des Irak, Afghanistans, Palästinas und der arabischen Welt durch die imperialistischen Staaten der Welt zu unterminieren. In Wirklichkeit ist die Folge dieser Gewaltakte, dass der Kampf des tschetschenischen Volkes wie auch der anderen unterdrückten Völker unterminiert und die Macht des US-amerikanischen Staates gestärkt wird. Außerdem wird der herrschenden Klasse in den USA aber auch im internationalen Rahmen damit die Möglichkeit gegeben, rigoros auf errungene demokratische Rechte einzuschlagen.

Trotz der Tatsache, dass die Arbeiterklasse und SozialistInnen sowohl den Terrorismus als auch den rechtsgerichteten politischen Islam durch und durch ablehnen, können wir die rassistischen und polizeistaatlichen Methoden des US-Kapitalismus oder dessen im Ausland durchgesetzte imperialistische Politik im Namen des „Kampfes gegen den Terrorismus“ nicht unterstützen. Die herrschende Elite versucht die Wut der „einfachen“ Leute auf solche Terrorakte auf zynische Art und Weise für sich zu nutzen.

Statt einer rassistisch motivierten Hetze gegen Sündenböcke brauchen wir die Einheit aller arbeitenden, jungen und unterdrückten Menschen, damit wir die Wurzel des Problems angehen können. In derselben Woche, in der die Tragödie beim Marathonlauf von Boston stattfand, sind in der texanischen Ortschaft West bei der Explosion einer Düngemittelfabrik 14 Menschen ums Leben gekommen und Hunderte verletzt worden. In der Anlage ist es zuvor schon wiederholt zu Verstößen gegen die Sicherheitsbestimmungen gekommen. Mittlerweile begehen jeden Tag 22 US-amerikanische KriegsveteranInnen Selbstmord.

Die arbeitenden Menschen müssen sich gegen die Dominanz der Konzerne zusammentun, um sicherzustellen, dass in den Betrieben die Sicherheitsbestimmungen eingehalten oder psychische Erkrankungen angemessen behandelt werden und dass es ein kostenloses Gesundheitssystem gibt. Dieser Kampf kann über ethnische und religiöse „Grenzen“ hinweg zur Einheit führen. Die Idee der Einheit der Arbeiterklasse kann als Gegengewicht zur religiös oder ethnisch begründeten Gewalt dienen, und das nicht nur in den USA sondern weltweit.

Die Marathon-HeldInnen

Aufgrund der Bilder und unzähligen Medienberichte kennt man Carlos Arredondo jetzt als „den Mann mit dem Cowboyhut“. Er machte sich sofort in Richtung der Detonationen auf, um die Menschen dort schnell zu den Krankenwagen und in medizinische Obhut zu bringen. Sein Handeln rettete ohne Frage vielen Menschen, die beim Bostoner Marathon dabei waren, das Leben. Ein Mann, der von Arredondo gerettet wurde, war der erste, der eine Personenbeschreibung vom „Verdächtigen Nr. 1“ abgab. Letzterer wurde am Donnerstag bei einer Schießerei mit der Polizei getötet.

Arredondo ist Einwanderer und Friedensaktivist, der seinen Sohn Scott im Irak-Krieg verloren hat. Auf dem Höhepunkt der Antikriegsbewegung war Carlos bei jeder Protestkundgebung in Boston mit von der Partie. Carlos und seine Partnerin Melida haben auch an Veranstaltungen von „Occupy Boston“ teilgenommen.

Weitere unbekannte HeldInnen findet man unter den Beschäftigten, die in der „Massachusetts’ Nurses Association“ (MNA) [„Verband des Pflegepersonals von Massachusetts“] organisiert sind. Hierbei handelt es sich um eine Gewerkschaft, die für die Beibehaltung des Personalschlüssels kämpfte, um die Qualität der Patientenversorgung aufrechterhalten zu können, als die großen privaten Krankenhausbetreiber den Versuch unternahmen, „Kosten zu sparen“. Die in der MNA organisierten KollegInnen kümmerten sich um die Opfer des Bostoner Anschlags und werden ihre Kampagne für sichere Beschäftigungsverhältnisse fortsetzen.

Seamus Whelan, MNA-Mitglied und Kandidat der „Socialist Alternative“ für den Stadtrat von Boston, sagte: „Nach den schrecklichen Terroranschlägen und dieser Tragödie sehen wir, wie wichtig es ist, dass eine qualitativ hochwertige Gesundheitsfürsorge garantiert ist. Das Pflegepersonal wird an der Spitze der Bewegung gegen die von Obama vorgeschlagenen Kürzungen bei den Sozialversicherungen „Medicare“ und „Medicaid“ stehen, um besser für unsere Patientinnen und Patienten sorgen zu können.“

Die Einwanderungsdebatte

Die unternehmerfreundlichen Politiker in den Zentren der Macht haben für dieses Jahr eigentlich eine neue Einwanderungsdebatte geplant. Die Tragödie von Boston wird von den rechtsgerichteten Medien nun dazu benutzt, ausländerfeindliche Gefühle zu entfachen. Das könnte entweder dazu führen, dass die Debatte vorerst beendet – oder aber nach rechts gelenkt wird.

Bei den beiden jungen Männern, die mutmaßlich für diese Horror-Tat verantwortlich sind, handelt es sich um Einwanderer, die seit zehn Jahren – und somit in der Zeit ihrer Sozialisation – legal in den USA gelebt haben. Deshalb dürfen EinwanderInnen oder MuslimInnen nicht an sich schon zu Sündenböcken gemacht werden. In Malden, einer Arbeiterstadt in der Nähe von Boston, wurde eine von dort stammende muslimische Frau angegriffen. Ganz im Gegensatz zu der Medien-Propaganda ist die Wahrheit, dass die meisten Massenmorde in den USA tatsächlich von nicht-muslimischen, hellhäutigen Männern verübt werden.

Jeder Angriff auf die Bürgerrechte von ausländischen ArbeiterInnen würde uns alle betreffen, weil dadurch der Griff der Reaktion gegen alle arbeitenden und jungen Menschen härter würde. Eine anti-demokratische und als solche bezeichnete „Anti-Terror“-Gesetzgebung, die von sich behauptet, gegen „Terroristen“ oder EinwanderInnen gerichtet zu sein, wird früher oder später auch gegen AktivistInnen eingesetzt werden, die gegen die Macht der Konzerne kämpfen. Diese Tendenz war schon in den letzten Jahren zu beobachten, als das FBI und die Polizei ihre nach dem 11. September ausgeweiteten Machtbefugnisse nutzten, um gegen die „Occupy“-Bewegung, AntikriegsaktivistInnen und GewerkschafterInnen vorzugehen.

Die „Socialist Alternative“ steht für volle und sofortige Bürgerrechte für alle Menschen, die ohne gültige Papiere arbeiten. Das ist meilenweit entfernt von Obamas „Immigration Reform“ für ausländische Arbeitskräfte, die als Geschenk an die Unternehmen verfasst wurde, die billige ArbeiterInnen wollen, welche permanent von Abschiebung bedroht sind. Darüber ist damit für Menschen ohne gültige Papiere in ihrem nachvollziehbaren Streben nach vollen Bürgerrechten ein äußerst langer, kostenintensiver Prozess programmiert. Hinzu kommt, dass man einer Minderheit der momentan Papierlosen die Zuerkennung eines Rechtsstatus verweigert.

Wenn ausländische ArbeiterInnen die vollen Bürgerrechte erhalten, dann wäre auch ihr Selbstbewusstsein gestärkt, um für höhere Löhne und bessere Bedingungen kämpfen zu können. Das wiederum würde die Position aller ArbeiterInnen stärken, die mit am Verhandlungstisch sitzen und sich an Kämpfen gegen Kürzungen beteiligen. Schon in der Vergangenheit haben EinwanderInnen beim Aufbau der US-amerikanischen Gewerkschaften mitgeholfen. Dies werden sie auch in Zukunft tun.

Abriegelung und Erleichterung

Am Freitag sagte man fast einer Million EinwohnerInnen im Großraum Boston, sie hätten zu Hause zu bleiben und dürften ihre Wohnungen nicht verlassen. Uns wurde gesagt, dass dies bei der Suche nach dem weiter flüchtigen 19-jährigen Verdächtigen helfen würde. Die Straßen waren wie leergefegt und Boston machte den Eindruck, zur Kulisse eines Weltuntergangsfilms zu gehören.

Der Verdächtige wurde gefasst, weil ein Einwohner Watertowns (dem Vorort, in dem es zur oben genannten Schießerei gekommen war) kurz nach Aufhebung der Ausgangssperre in seinen Garten ging und den Verdächtigen sofort in seinem Boot fand.

Sofort machte sich überall Freude und Erleichterung breit, dass das alles endlich zu Ende gegangen ist. Die Nachwirkungen werden wohl noch länger zu spüren sein. Die herrschende Klasse kann auf ein ganzes Potpourri an Möglichkeiten zurückgreifen, um neue „Anti-Terror“-Gesetze durchzudrücken, mit denen die staatlichen Machtbefugnisse ausgeweitet werden. Das wird mit Bestrebungen der politischen Rechten einhergehen, rassistische, anti-islamische und ausländerfeindliche Stimmungen zu schüren.

Dabei sind die Einstellungen heute jedoch anders als nach dem 11. September, als viele US-AmerikanerInnen den Krieg und die Einschränkung der Bürgerrechte unterstützten. Als die „Socialist Alternative“ in Boston am Samstag, nur einen Tag nachdem die „Bleiben Sie zu Hause“-Anordnung kam, einen Infotisch aufbaute, trat uns niemand unfreundlich oder gar feindlich gegenüber. Auf unseren Plakaten stand: „Verteidigt die Bürgerrechte“ und „Keine Übergriffe auf EinwanderInnen!“

Die meisten Menschen sind durch das ewige Auf und Ab wie ausgebrannt und suchen einfach nach Antworten. Die Wurzel allen Übels ist ein kapitalistisches System, das zu Entfremdung, Krieg, Armut und dem Gefühl der Machtlosigkeit führt, was in solchen abscheulichen Akten münden kann. Andererseits ist es die Kraft der Solidarität der arbeitenden Menschen, die dieses Elend und das System, das dafür verantwortlich zeichnet, überwinden kann.

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