Europa unter der Fuchtel des Merkelismus

Das deutsche Kapital und die Zukunft des Euro

Vom ehemaligen SPD-Forschungsminister Andreas von Bülow stammen die Worte: „Jeder Krieg beginnt mit einer Lüge.“ Diese Worte treffen auch auf den Krieg zu, den die Herrschenden in Europa gegen die Menschen in den Südländern begonnen haben. Es war im Mai 2011, als Angela Merkel dem sauerländischen Städtchen Meschede einen Besuch abstattete. Die dortige CDU hatte in der 30.000-Seelen-Gemeinde zum Sommerfest eingeladen. Der Musikzug der Freiwilligen Feuerwehr spielte auf. Man trank ein paar Pils der örtlichen Marke Veltins. Und die Bundeskanzlerin fabulierte über die Euro-Krise. „Merkel sprach über die Rente (zu früh) und den Urlaub (zu viel) von Griechenland, Spanien und Portugal.“ Weiter berichtete die „Welt“ vom 19. Mai 2011: Es sei der Kanzlerin darum gegangen, „der Parteibasis den komplizierten Euro-Pakt für mehr Wettbewerbsfähigkeit zu erklären“. Der Chef der portugiesischen Gewerkschaft CGTP nannte Merkels Auftritt „Kolonialismus pur“. Aber große Teile des bürgerlichen Lagers, nicht nur in der Bundesrepublik, halten beharrlich an dieser demagogischen Lüge fest.

von Aron Amm, Berlin

Merkel und Konsorten gehen nach der Devise vor: Wenn man nur genug mit Dreck um sich schmeißt, dann wird schon was hängen bleiben. Mit der Mär von den „faulen Südeuropäern“ soll natürlich von der eigenen Verantwortung für die Euro-Krise und die völlig aus dem Ruder laufende Staatsverschuldung abgelenkt werden. Schließlich erhöhten sich die Defizite der öffentlichen Haushalte genau zu dem Zeitpunkt sprunghaft, als die Politik der Bankenrettung um jeden Preis zum Mantra der herrschenden Klassen wurde – mit dem Merkel-Kabinett als einem der exponiertesten Verfechter dieses Kurses.

Leichen pflastern ihren Weg

Unbarmherzig dreht die „Troika“ (EU-Kommission, Europäische Zentralbank EZB und Internationaler Währungsfonds IWF) in Ländern wie Griechenland, Spanien und Portugal, aber auch in Irland und anderswo an den neoliberalen Schrauben. Die Bundeskanzlerin gehört zu denen, die den Takt vorgeben. Das macht sie zu der wohl meistgehassten Person auf dem Kontinent.

Im September besuchte Angela Merkel Madrid, im Oktober Athen, im November Lissabon. Überall provozierten ihre Besuche Massenproteste. Als Merkel die portugiesischen Hauptstadt heimsuchte, konnte Ministerpräsident Passos Coelho sie nicht einmal in seinem Amtssitz empfangen. Wegen des Aufruhrs mussten die Regierungschefs außerhalb der Stadt, in einer Festung, dem Sitz des Verteidigungsministeriums, zusammenkommen.

Derzeit sieht alles danach aus, als wenn das deutsche Kapital und seine Politikerkaste Europa und vor allem die Euro-Zone nach eigenem Gutdünken formen könnte. Aber wie heißt es doch im Buch der Sprüche Salomos? „Hochmut kommt vor dem Fall.“

Einigung Europas unter deutscher Vorherrschaft?

Am 29. September 1995 schrieb der Ex-Kanzler Helmut Schmidt (SPD) in der „Zeit“: Wenn „die Währungsunion aufgegeben würde, so (…) wäre zum dritten Mal eine Koalition fast aller anderen europäischen Staaten gegen Deutschland zu befürchten“. In der Tat ist der Euro das zentrale Projekt der deutschen Kapitalbesitzer. Es handelt sich um den dritten Anlauf, von der Nordsee bis zum Mittelmeer die deutsche Vormachtstellung langfristig zu zementieren. Dieses Mal soll ökonomisch realisiert werden, was militärisch zweimal scheiterte.

Allerdings sollte nicht aus dem Blick geraten, dass der deutsche Imperialismus parallel zur Verwirklichung der Gemeinschaftswährung auch außenpolitisch neue Wege eingeschlagen hat. Ähnlich wie Japan war das deutsche Kapital aufgrund des Verlaufs des Zweiten Weltkriegs lange dazu verdammt, zwar ökonomisches Schwer-, jedoch gleichzeitig militärisches Leichtgewicht zu sein. Sukzessive versuchten die Bourgeoisien in beiden Ländern, sich von dieser Rolle zu lösen. Der deutsche Imperialismus machte sich nach der kapitalistischen Wiedervereinigung von den USA unabhängiger, näherte sich unter anderem Russland (dem größten Gaslieferanten der BRD) etwas stärker an, aber vor allem erstrebte er über die Euro-Einführung die Schaffung des größten integrierten Wirtschaftsraums – als Gegenmacht zu den USA und Japan beziehungsweise heute China. Längst werden „deutsche Interessen“ wieder am Hindukusch oder auf dem Balkan verteidigt. Eine Berufsarmee wurde gebildet. Selbst im Fall einer stärkeren Zusammenarbeit in der EU und der NATO sollen Kapazitäten verbreitert statt abgebaut werden: Bei der Bundeswehrtagung in Strausberg bei Berlin im Oktober 2012 formulierte Merkel die neue Militärdoktrin hin zu mehr Eigenständigkeit (wobei zu konstatieren ist, dass die Herrschenden hierbei viel Widerstand in der Bevölkerung erfahren).

Bereits 1968 schrieb Franz-Josef Strauß (CSU): „Mit dem Entschluss Frankreichs und Deutschlands, ihre Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten zu verringern (…) lässt sich die politische Einigung Westeuropas in Gang bringen.“ Seither wurden mehrere Anstrengungen unternommen, in Europa relativ feste Wechselkurse zu schaffen. Nachdem diese Versuche scheiterten, sollten die den Handel erschwerenden Wechselkursschwankungen mit der Einführung des Euro unwiderruflich beendet werden. Die Vielzahl verschiedener Währungen, Zinssätze, Handelsregularien, finanz- und wirtschaftspolitischer Maßnahmen sollte durch die Gemeinschaftswährung überwunden und ein riesiger Binnenmarkt gebildet werden. Das deutsche Kapital als treibende Kraft versprach sich davon verbesserte Absatz- und Investitionsmöglichkeiten.

Die heutigen Probleme der Südländer waren in der Konstruktion des Euro-Raums – nicht zuletzt mit deutschen Unternehmern und Politikern als Architekten – von Anfang an angelegt. Zum einen nahm ihnen die Gemeinschaftswährung die Option, die Währung abzuwerten. Zum anderen hatten sie es plötzlich mit viel niedrigeren Zinsen zu tun, als es die Stärke ihrer eigenen Ökonomie eigentlich erlaubt hätte – was zu günstigen Krediten führte, zur Verschuldung animierte und in Ländern wie Spanien einen wahnsinnigen Bauboom hervorrief.

All denjenigen auf der Linken, die aufgrund der Ungleichgewichte meinen, dass die Staaten mit Handelsüberschüssen die Ausfuhren doch einfach drosseln und die Länder mit Handelsdefiziten mehr exportieren könnten, sei ins Stammbuch geschrieben: Als ungeplantes, anarchisches System erzeugt der Kapitalismus immer wieder Ungleichgewichte. So bestand schon ein Merkmal der ersten klassischen Konjunkturkrise 1825 darin, dass Großbritannien Südamerika nötigte, mit englischem Geld englische Waren zu kaufen.

Alice im Wunderland?

Kürzlich geriet der SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier angesichts des Vorsprungs der deutschen Wirtschaft gegenüber seinen Konkurrenten ins Schwärmen: „Deutschland steht im Augenblick aus mehreren Gründen wie Alice im Wunderland da.“ Aus Sicht der krisengeplagten Nachbarn erscheint die Bundesrepublik, so Steinmeier, wie ein „Wunderland“. Dabei hatte der „Economist“ Deutschland noch vor einem Jahrzehnt als den „kranken Mann Europas“ bezeichnet.

Mit Wundern hat die deutsche Sonderrolle jedoch wenig zu tun. Denn über Wunder kann man nur staunen. Die gegenwärtige Stellung Deutschlands lässt sich aber sehr wohl erklären. Vier Faktoren sind dafür maßgeblich: Erstens der mit 26 Prozent relativ hohe industrielle Anteil am Bruttoinlandsprodukt (in Frankreich und Großbritannien ist der Anteil nicht einmal halb so hoch); zweitens die darauf basierende Exportstärke, die durch die Euro-Einführung noch begünstigt wurde (so steigerten sich die BRD-Ausfuhren in den Euro-Raum binnen zehn Jahren um 50 Prozent); drittens half die ökonomische Stärkung auch der erhöhten politischen Einflussnahme in Europa. Zu diesen drei Faktoren kommt aber noch ein gewichtiger vierter hinzu: nämlich die Agenda 2010. Die Bundesrepublik war das einzige Land Europas, in dem die Reallöhne im letzten Jahrzehnt zurückgingen. Womit sich zeigt, dass die vermeintliche Erfolgsstory für Teile der deutschen Arbeiterklasse alles andere als wunderbar war; vielmehr erlebten sie mit den Hartz-Gesetzen eher ihr blaues Wunder.

Abgerechnet wird zum Schluss I

Zu D-Mark-Preisen wären die Waren „Made in Germany“ heute geschätzte zehn Prozent teurer. Mit dem Einsetzen der Euro-Krise wertete die Währung weiter ab. Nicht nur auf diesem Feld gilt: Das deutsche Kapital konnte von der Gemeinschaftswährung nicht nur im Aufschwung, sondern auch in der ersten Phase der Krise profitieren. Da die BRD auf dem Kapitalmarkt aktuell als „sicherer Hafen“ in einem bewegten Meer gesehen wird, kann sich der Bund quasi zum Nulltarif refinanzieren. Das niedrige Zinsniveau befeuert zudem Investitionen, allen voran im Immobiliensektor. Hinzu kommt, dass sich die Vorstände von E.ON, SolarWorld, Ruhrgas oder Telekom beklatschen, wenn die „Troika“-Auflagen Länder wie Griechenland zum großen Ausverkauf zwingen.

Bislang verdient die Bundesregierung an den Euro-Stützungsmaßnahmen. Schließlich müssen die angeschlagenen Staaten für die Darlehen an ihre Gläubiger Zinsen zahlen. Zum Beispiel bekam Deutschland bisher „300 Millionen Euro aus Athen überwiesen“ (das „Handelsblatt“ vom 20. November 2012). Aber was passiert, wenn den Schuldnern die Puste ausgeht? Der deutsche Anteil an den Rettungsschirmen ESM und EFSF beläuft sich auf 280 Milliarden Euro. Noch brisanter ist das Target-II-System, über den die grenzüberschreitenden Zahlungen in der Euro-Zone abgewickelt werden. Bevor die Schwierigkeiten eskalierten, pendelten die Salden der Notenbanken um die Nulllinie. Das änderte sich mit dem Ausbruch der Krise, da die privaten Kredite versiegten. Mittlerweile haben die Krisenländer rund eine Billion Euro an Krediten überzogen – die Bundesbank ist der Hauptgläubiger mit 27 Prozent Kapitalanteil an der EZB. Allein Griechenland steht mit über 100 Milliarden Euro in der Kreide. Niemand kann sagen, ob diese Gelder überhaupt noch eintreibbar wären, sollte Hellas den Euro-Raum verlassen.

Bürgerliche in der Bundesrepublik uneins

Genau zu diesem Komplex der Target-Salden hat der Vorsitzende des Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, gerade im Hanser-Verlag „Die Target-Falle“ veröffentlicht. Die FAZ lobt: „Dieses Buch gehört zu den wichtigsten Büchern über die Euro-Krise.“ Sinn warnt vor Milliardenkosten für Deutschland und fordert den Austritt Griechenlands aus dem Euro. Die Bundesrepublik könnte den Euro nicht aufgeben, da sie an den Euro gekettet sei. Sinn gehört neben dem Ex-Präsident des DIW Klaus Zimmermann und dem ehemaligen sächsischen CDU-Ministerpräsidenten Georg Milbradt zu den Dutzenden von Professoren und Politikern, die im Sommer in einem öffentlichen Aufruf eine schärfere Haltung gegenüber den Schuldnerstaaten verlangten.

Unter den Bürgerlichen hierzulande werden immer wieder Stimmen laut, die Merkel und ihren Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) offen kritisieren. Allerdings stellt das heute nicht die Mehrheitsmeinung dar. Präziser gesagt ist das deutsche Kapital über den weiteren Kurs geteilter Meinung. Zu Recht verweist der Münsteraner Wirtschaftsprofessor Ulrich van Suntum in der FAZ vom 30. Juli darauf, dass – bis jetzt jedenfalls – „Banken und Großindustrie profitieren (…). Anders ist dagegen die Interessenlage der mittelständischen Familienunternehmen“.

Mit dem Spruch „Scheitert der Euro, scheitert Europa“ und den Ehrungen für Ex-Kanzler Helmut Kohl im Herbst hat die Merkel-CDU sich für den Bundestagswahlkampf klar positioniert. Merkel und Schäuble wollen die Flucht nach vorn antreten, um den Euro kämpfen und bei den Krisenmaßnahmen noch offensiver als bisher auf die Belange „Deutschlands“, sprich: des (Groß-)Kapitals, pochen.

In einer der relevantesten Positionen befindet sich Bundesbank-Präsident Jens Weidmann. In seiner Rede auf der Bankenkonferenz „Euro Finance Week“ Mitte November hat er zum wiederholten Mal einen kritischen Ton gegenüber der von Mario Draghi geführten EZB angeschlagen. Der frühere wirtschaftspolitische Berater von Merkel ist damit jedoch kein Gegenspieler der Bundesregierung. Vielmehr wird hier mit verteilten Rollen agiert. Einig ist man sich darin, mehr Dominanz einzufordern. So passt es ins Bild, dass Weidmann für Abstimmungen im geplanten Rat für die Bankenaufsicht eine Gewichtung der Stimmen nach der Größe der Länder verlangt.

Die deutschen Kapitalisten haben ein großes Interesse daran, dass sich die Ereignisse im Jahr der Bundestagswahl nicht überschlagen und die Spannungen unter ihren politischen Repräsentanten nicht überhand nehmen. Da momentan aber weder Mehrheiten für Schwarz-Gelb noch für Rot-Grün besonders aussichtsreich sind und somit Raum für Spekulationen über eine Große Koalition oder Schwarz-Grün (und sogar über eine „Ampel“, womit bei der FDP Christian Lindner und Wolfgang Kubicki flirten) gegeben ist, kann es noch viel Unruhe geben. Außerdem nimmt die Euro-Krise nicht unbedingt auf Wahltermine Rücksicht, so dass auch Anti-Euro-Stimmen bei den etablierten Parteien lauter werden könnten oder sogar noch kurzfristig eine rechtspopulistische Kraft entstehen könnte (in Österreich kann der frühere Magna-Chef Frank Stronach mit seiner neuen Partei derzeit zulegen).

„There will not be a Staatsbankrott in Greece“

Monatelang schien der Ausschluss Griechenlands aus der Euro-Zone nur noch eine Frage der Zeit zu sein. An Griechenland sollte ein Exempel statuiert werden. Im Herbst 2012 vollzog die Bundesregierung dann einen Schwenk. Schäuble erklärte: „There will not be a Staatsbankrott in Greece.“ Was war geschehen? Die Angst war gestiegen, dass sich ein „Grexit“ nicht kontrollieren ließe. Man fürchtete in Portugal, Spanien und vielleicht sogar Italien einen Sturm auf die Banken, eine Welle von Kapitalflucht, Bankenpleiten, durch die Decke schießende Risikoprämien und unabsehbare Gefahren für die ganze Währungsunion.

Dass die seit September angekündigte Auszahlung der nächsten Hilfstranche für Griechenland zwei Monate später immer noch auf sich warten lässt, zeigt allerdings das Ausmaß der Probleme. Immer deutlicher wird, dass die „Rettungsmaßnahmen“ die Lage bloß weiter verschärfen und der Sozialkahlschlag Südeuropa in die Depression reißt. Um die nun zusätzlich benötigten 33 Milliarden Euro ist zwischen IWF und den Euro-Ländern ein heftiger Streit entbrannt. Eine Aufstockung der Kredite ist schwierig – in Deutschland wird das von einer Bevölkerungsmehrheit abgelehnt, bereits bei der ESM-Abstimmung im Bundestag war die Kanzlermehrheit flöten. Aber mit dem vom IWF vorgeschlagenen neuen Schuldenschnitt haben die Regierenden in Europa auch ein Problem: Da die privaten Gläubiger weitgehend durch staatliche Gläubiger ersetzt wurden, kämen direkte Mehrkosten auf die Euro-Länder zu.

Banken-, Fiskal- und Wirtschaftsunion?

„Ich bin überzeugt, dass die aktuelle Krise die weiteren politischen Integrationsschritte in der Europäischen Union erzwingen wird“ (Ex-Kanzler Gerhard Schröder im „Handelsblatt“ vom 22. Juni 2012). Bei den nächsten beiden EU-Gipfeltreffen im Dezember 2012 und im März 2013 soll diese Integration über drei Maßnahmen „erzwungen“ werden:

Erstens über eine Bankenunion: Die EZB soll beauftragt werden, den gesamten Bankensektor in der EU zu überwachen. Dafür plädiert vor allem die französische Regierung. Schäuble findet daran weniger Gefallen. Deshalb will er die Umsetzung weiter in der Schwebe halten.

Zweitens über eine Fiskalunion: Bevor die nationalen Parlamente über einen Haushalt entscheiden, soll dieser vorab von der EU-Kommission genehmigt werden. Zudem wünscht sich Schäuble einen EU-Währungskommissar mit Sondervollmachten, darunter einem Veto-Recht gegen nationale Haushalte.

Drittens über eine Wirtschaftsunion: Die Euro-Mitglieder sollen, am „europäischen Recht“ vorbei, mit der EU-Kommission Verträge abschließen, die auf Empfehlungen der Kommission basieren – Empfehlungen zum Kürzen, Deregulieren und Liberalisieren.

Faustrecht der Prärie

Der Euro krankt daran, dass eine einheitliche Geld- und Zinspolitik ohne gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik auf Dauer nicht aufrecht zu erhalten ist. Das merken auch die Kapitaleigner. Mittels einer weiteren Aushöhlung der bürgerlichen Demokratie und forciertem Sozialraub streben sie mehr Konvergenz an. Doch verfehlten sie dieses Ziel bereits im Aufschwung. In Krisenzeiten treten die Spannungen zwischen den Nationalstaaten noch stärker zu Tage.

60 Jahre nach der Bildung eines europäischen Wirtschaftsblocks und ein Jahrzehnt nach Einführung des Euro sind weiterhin keine „europäischen“ Konzerne entstanden. Die Versuche zwischen deutschen und französischen Unternehmen (zum Beispiel im Fall Telekom und France Telecom oder Siemens und Alstom) sind grandios gescheitert. Der einzige deutsch-französische Konzern EADS/Airbus wurde nur dank massiver staatlicher Subventionen durchgeboxt. Der geplante Zusammenschluss mit dem britischen BAE Systems schlug – nicht zuletzt wegen Berlin – ebenfalls fehl.

Nach vier Jahren „Merkozy“ hat sich unter Francois Hollande zwischen Deutschland und Frankreich als den beiden dominanten Euro-Mächten ein handfester Konflikt entzündet. Aber auch „das britisch-europäische Verhältnis gleicht immer mehr zwei Zügen, die aufeinander zurasen“ (FAZ vom 9. November 2012). Damit droht nicht nur ein Ende des Euro, selbst ein Zerfall der EU ist letztendlich nicht auszuschließen.

Abgerechnet wird zum Schluss II

Noch wirkt die deutsche Wirtschaft wie ein Fels in der Brandung. Den Dax-Vorständen hierzulande kam zupass, dass sie den Handel mit Asien ausbauen konnten. Allerdings schwächt sich auch dort die Ökonomie ab. Zudem gehen 60 Prozent der deutschen Exporte weiter in die EU. Frankreich, das gerade mächtig Federn lässt, ist nach wie vor Deutschlands größter Handelspartner.

Da der Export 50 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung ausmacht (während es in Frankreich nur 27 Prozent sind), wird sich die Bundesrepublik dem globalen Abschwung nicht entziehen können. Gerade wegen der extremen Exportabhängigkeit fiel der Einbruch mit einem Minus von fünf Prozent 2009 umso dramatischer aus.

Der Abwärtstrend hat längst eingesetzt. Es werden fast nur noch Aufträge abgearbeitet, seit knapp einem Jahr sind die Auftragseingänge im Maschinenbau sowie in der Metall- und Elektroindustrie rückläufig. Von der Binnenkonjunktur ist auch keine Rettung zu erwarten. In der Autobranche brachen die Neuzulassungen mit einem Minus von elf Prozent im September regelrecht ein. Laut Herbstgutachten der „Wirtschaftsweisen“ steigen die Konsumausgaben real 2012 nur um ein Prozent und liegen damit unter den Ausgaben in den beiden Vorjahren.

Bei finanziellen Engpässen in der Industrie könnte sich der deutsche Bankensektor als zusätzliche Achillesferse erweisen. So warnt eine Studie der Ratingagentur Moody’s vor „einer ertragsschwachen deutschen Bankenbranche, die auf eine Verschlechterung des wirtschaftlichen Umfelds schlecht vorbereitet wäre“ (FAZ vom 20. Oktober).

Sollte der Euro kollabieren, dann könnte das deutsche Kapital vor einem Scherbenhaufen stehen. Der INET Council, in dem sich unter Beteiligung von George Soros 17 Ökonomen zusammengetan haben, erklärte am 23. Juli 2012: „Wir glauben, dass Europa schlafwandelnd auf ein Desaster unkalkulierbaren Ausmaßes zusteuert. (…) Die Euro-Zone treibt nun schon seit mehreren Monaten einem Zusammenbruch entgegen.“

Perspektivisch drohen auch in Deutschland Verhältnisse wie in Portugal oder Griechenland. Umso wichtiger, dass jetzt in Betrieben und in der Öffentlichkeit Aufklärungsarbeit geleistet und auf einen Schulterschluss der Arbeiterbewegung europaweit hingearbeitet wird.